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Mächtegleichgewicht
ОглавлениеWenn das Recht selbst nicht für Frieden sorgt, was dann? Man setzte auf das Gleichgewicht der Mächte. Das Denken in den Kategorien eines Machtgleichgewichts drang ab dem späten 15. Jahrhundert vom Städtesystem Oberitaliens immer mehr in die Beziehungen der europäischen Mächte ein. Grundidee war, dass kein Staat stärker werden durfte als die anderen Staaten zusammen.19 Dem Prinzip lag die Idee einer Koalitionsdrohung der übrigen zugrunde, des Zusammenschlusses gegen den Mächtigsten. Die Gleichgewichtsidee bedeutete eine fundamentale Abkehr vom Universalreichsdenken. Die Existenz eines Gleichgewichts war zudem ein wichtiger Grund, das Völkerrecht zu beachten. Es wirkte imperialen Ambitionen innerhalb Europas entgegen. Das Gleichgewichtsdenken stützte damit die Geltung des Völkerrechts. Die Bedeutung des Prinzips war zeitweise so gross, dass es selbst konfessionelle Loyalitäten zurückzudrängen vermochte. Frankreich etwa kämpfte im Dreissigjährigen Krieg nicht aufseiten der Katholischen Liga, sondern der Protestantischen Union; ein katholischer Triumph hätte dem ebenfalls katholischen Rivalen Habsburg eine zu dominierende Stellung in Europa verschafft. Das Gleichgewichtsprinzip fand im Frieden von Utrecht, der den Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) beendete, explizit Erwähnung. Ob es lediglich politischer Natur war oder ob ihm zeitweise ein rechtlicher oder rechtsähnlicher Charakter zukam, ist umstritten.20
Im 16. Jahrhundert richtete sich das Prinzip vor allem gegen Spaniens Dominanzansprüche. Dieses versuchte, mittels Kolonialhandelsmonopolen eine Weltherrschaft zu errichten, gegen die sich die anderen europäischen Mächte wehrten, vor allem Frankreich, die Niederlande und England. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann Spaniens Stellung nach dem Verlust der Niederlande 1609 sowie Portugals 1641 immer mehr zu erodieren. Das Prinzip richtete sich nun vornehmlich gegen das mächtiger gewordene Frankreich, das aus dem Dreissigjährigen Krieg gestärkt hervorgegangen war.21 Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war Frankreichs Stellung als neue Vormacht kaum angefochten. Mit dem Verlust der amerikanischen Kolonien an Grossbritannien im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) aber änderte sich dies. Es setzte ein allmählicher Zerfall der französischen Stellung ein, wobei die letzte und folgenreiche Allianz gegen Frankreich jene in den Napoleonischen Kriegen (1792–1815) war. Der Aufstieg Grossbritanniens zur dominierenden Macht begann im 18. Jahrhundert und erreichte im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Das Gleichgewichtsprinzip sollte bis zum Ersten oder, je nach Lesart, gar bis zum Zweiten Weltkrieg eine zentrale Rahmenbedingung des Völkerrechts bleiben. Man kann über die Leistungsfähigkeit des Völkerrechts bei der Friedenswahrung im Grunde nur informiert sprechen, wenn man das Zusammenspiel von Völkerrecht und Gleichgewichtsdenken vor Augen hat.