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Europäische Kolonisierung der Welt: Phasen
ОглавлениеDas 19. Jahrhundert brachte eine neue Hochphase der Kolonisierung. Für ihre völkerrechtliche Einordnung ist es hilfreich, grundsätzlich drei Hauptphasen europäischer Ausgriffe auf die Welt zu unterscheiden. Differenzen bestanden vor allem bei den Rechtsformen, in denen kolonisiert wurde, sowie mit Blick auf die Modalitäten und die beteiligten Mächte. Die erste Phase war die Zeit der Eroberung überseeischer Gebiete vor allem durch Spanien und Portugal im 15. und 16. Jahrhundert. Diese dehnten ihre Staatsgewalt auf überseeische Gebiete aus. Der Staat wurde grösser. Als zweite Phase kann die Zeit zwischen 17. und 18. Jahrhundert gelten. In dieser Periode spielten englische und niederländische Handelskompanien die Schlüsselrolle bei der Kolonisierung. Sie waren teilweise mit staatsähnlichen Befugnissen ausgestattet, konnten etwa Verträge schliessen und vereinzelt gar Krieg führen.36 Sie sollten jedoch nicht oder nicht primär neue Territorien in Übersee besetzen, sondern Handelsmonopole errichten und absichern helfen. Diese «privatisierte» Form der Kolonisierung, die auf Handelsüberschüsse abzielte und deren Grundlage die Handelstheorie des Merkantilismus war, ermöglichte das Verfolgen wirtschaftlicher Ziele, ohne gleichzeitig das gesamte europäische Konzept der Staatlichkeit mit Gewaltmonopol und festen Grenzen in die Kolonien exportieren zu müssen. Der Export staatlicher Strukturen war teuer.
Die letzte Phase ab dem späten 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg glich in vielen Hinsichten der ersten mehr als der zweiten. Kolonien wurden nun im Regelfall wieder Teil des Mutterlands und damit von dessen Staatsgebiet. Staatliche Behörden lösten die Administrationen der Handelsgesellschaften immer mehr ab. Natürlich ist dies hier nur ein grobes Modell. Die Wirklichkeit war vielfältiger und widersprüchlicher. Wichtig ist vor allem, dass bei der Form der Kolonisierung Vielfalt und Spielräume für eine Anpassung an die jeweiligen politischen Ziele bestanden. Die intensivierte Kolonisierung ab 1870 wird oft als Periode des Imperialismus bezeichnet. Im Mittelpunkt stand – aus europäischer Sicht – der «Wettlauf um Afrika», in dem vor allem Grossbritannien und Frankreich ihre Kolonialreiche stark erweiterten.37 Im Fall Grossbritanniens kamen im 19. Jahrhundert als neue Besitzungen zudem Kanada, Neuseeland und Australien hinzu. Zwischen 1862 und 1912 verdoppelte sich das Territorium der von Grossbritannien beherrschten kolonialen Besitzungen auf bis zu ein Viertel der gesamten Landmasse der Welt. Auf See war Grossbritannien ohnehin dominierend. Neue französische Besitzungen wurden im 19. Jahrhundert etwa Französisch-Indochina, Madagaskar sowie Französisch-Nordafrika und Westafrika. Weltanschaulich gestützt wurde die europäische Kolonisierung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durch biologistische und rassistische Weltanschauungen. Charles Darwins Forschungen über Selektionsprozesse in der Natur – 1859 in «On the Origin of Species» veröffentlicht – veränderten den Blick auf das Soziale. Das Prinzip der «natural selection», vulgarisiert und auf internationale Beziehungen übertragen, lieferte das ideologische Fundament, um Krieg als legitime Form von Wettbewerb und gar Fortschrittstreiber darzustellen. Darwin selbst hatte 1871 in «The Descent of Man» angesichts der Überlegenheit der amerikanischen Kolonisatoren über Indianer geschrieben: «[…] the wonderful progress of the United States, as well as the character of the people, are the results of natural selection […]». Das Völkerrecht war wesentlicher Teil eines kulturell-rechtlichen Amalgams, das die Unterwerfung der Welt unter europäische Herrschaft rechtfertigte.