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I. Michels neue Kleider

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Kurz nach Ende des Deutschen Krieges von 1866 veröffentlichte der Kladderadatsch ein „Reichsprognostikon“ (Abb. 1.1). Diese Karikatur von Wilhelm Scholz zeigt eine Abfolge von vier Bildern, die die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Deutschlands erläutern. Preußen und Österreich, die beiden deutschen Großmächte, sind darin als uniformierte Soldaten dargestellt, die eine Schar frecher Kinder – die Mittel- und Kleinstaaten – zu bändigen versuchen. Das erste Teilbild verdeutlicht, „wie es bisher war“. Der preußische Soldat bindet darin die Halbwüchsigen mit einer langen Leine an sich. Dieses lose Band steht symbolisch für den Deutschen Zollverein, der 1834 unter der Führung Preußens zur Koordination der Wirtschafts- und Zollangelegenheiten der deutschen Einzelstaaten gegründet worden war. Österreich, das diesem Verbund nicht angehörte, sieht man am Rand des Bildes mit verschränkten Armen schmollen.

Das zweite Teilbild zeigt, „wie es dann wurde“. Die Kinder versuchen, dem preußischen Soldaten zu entfliehen. Einige rennen dabei hilfesuchend in die Richtung des Österreichers. Dieser hat aber mittlerweile der Szene den Rücken gekehrt, vermutlich, um sich besorgniserregenden Entwicklungen in den italienischen Provinzen des Habsburger Reiches jenseits der Alpen zu widmen. Der Zusammenbruch des Deutschen Bundes, so die Anspielung, beendete die Ära der relativen Ruhe, in der Preußen sich damit zufriedengegeben hatte, seinen großen Konkurrenten Österreich innerhalb der bestehenden Strukturen auszustechen und die kleineren deutschen Staaten nur indirekt zu kontrollieren. Stattdessen kam der große Tumult, der Krieg von 1866. In diesem Konflikt schlugen sich einige der Mittel- und Kleinstaaten auf die Seite Österreichs, das zeitgleich gegen Italien im Felde stand. Preußen konnte die Flüchtigen jedoch wieder einfangen und sogar einige annektieren.

Das dritte Teilbild trifft eine Vorhersage darüber, „wie es kommen wird“. Es zeigt ein mit Pickelhauben übersätes Schlachtfeld, auf dem der preußische Soldat einige der Buben umarmt. Diese tragen nun alle preußische Uniform, während sie liebevoll mit ihrem Patriarchen spielen oder selig in seinen Armen dösen. Von Österreich fehlt jede Spur. Preußen, sagt die Karikatur voraus, wird den Krieg gewinnen, Österreich aus Deutschland ausschließen und einen hegemonialen Bund gründen, der die Mittel- und Kleinstaaten nach preußischen Vorstellungen umformen wird.

Der letzte Teil der Bildfolge spekuliert darüber, was in diesem Zukunftsszenario „nicht ausbleiben kann“. Vier Soldaten, deren Uniformen sie als Vertreter Württembergs, Badens, Bayerns und Hessen-Darmstadts ausweisen, rufen der Gruppe um den Preußen zu: „Wir kommen von selbst derzeiten“. Das Bild betont also, dass die süddeutschen Staaten früher oder später unweigerlich dem preußisch-dominierten Norddeutschen Bund beitreten werden, der sich zu dem Zeitpunkt, als die Zeichnung angefertigt wurde, gerade formierte.

Diese bemerkenswerte Karikatur wirft Licht auf viele wichtige Facetten der Vereinigung. Vor allem zeigt sie, dass Zeitgenossen die Reichsgründung nicht als ein großes Ereignis wahrnahmen, sondern als einen Prozess, der sich in vielen einzelnen Etappen entfaltete. Dabei schien der Endpunkt dieser Entwicklung bereits in Sicht. Die Darstellung, die kurz nach dem preußischen Sieg über Österreich in Königgrätz angefertigt wurde, vermittelt den Eindruck, dass die alte Ordnung längst hinfällig geworden sei. Die Gründung des Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung erschien von diesem Standpunkt aus nur als logischer Zwischenschritt auf dem Weg zur Schaffung eines Reiches, das mit Ausnahme Österreichs alle deutschen Staaten umfassen würde.

Abb. 1.1: „Reichsprognostikon“, Kladderadatsch (9. September 1866), Wilhelm Scholz

Diese teleologische Sichtweise ähnelte dem Glauben der borussischen Historiker an einen göttlich vorherbestimmten Ausgang der deutschen Geschichte. Sie erfasste aber auch – unbewusst oder absichtlich – den schrittweisen Charakter von Bismarcks Vorgehen, das der Münchener Historiker Thomas Nipperdey als eine „Politik der Geduld, der kleinen Schritte und des Abwartens“ beschrieben hat. Die Vereinigung Deutschlands war für Bismarck niemals ein Ziel, dem er alle anderen Entscheidungen und Handlungen unterordnete. Er verstand sie vielmehr als einen von vielen Prozessen, der mehrere Abschnitte umfasste und dessen Ausgang – und hier unterschied sich seine Ansicht von der des Kladderadatsch und der Borussen – nicht immer vorhergesehen werden konnte. „Politik“, so äußerte er gegenüber dem Chefredakteur der St. Petersburger Zeitung kurz vor Ende der Kampfhandlungen mit Österreich im August 1867, „ist die Lehre vom Möglichen“.23

Nach dem Sieg gegen Österreich drückte sich dieser Ansatz darin aus, dass Bismarck darauf bestand, die Verfassung vor dem Nationalstaat zu schaffen. Dafür kassierte er scharfe Kritik von allen, die forderten, Nord und Süd unverzüglich zu vereinigen. Dieser Schritt, den vor allem viele Nationalliberale propagierten, schien der preußischen Regierung besonders angesichts französischer und russischer Interventionsdrohungen aber zu früh zu kommen. Als König Wilhelm I. den verfassungsgebenden Reichstag im Februar 1867 eröffnete, richtete er deswegen eine klare Botschaft an die Parlamentarier: „Heute kommt es vor Allem darauf an, den günstigen Moment zur Errichtung des Gebäudes nicht zu versäumen; der vollendetere Ausbau desselben kann alsdann getrost dem ferneren vereinten Wirken der Deutschen Fürsten und Volksstämme überlassen bleiben.“24

Dieser Vorrang, den die preußische Regierung der verfassungsrechtlichen Konsolidierung gegenüber der nationalen Vereinigung einräumte, ist oft übersehen worden. Selbst einige der renommiertesten Verfassungshistoriker haben argumentiert, dass sich die eigenwilligen Regierungsstrukturen des Reiches nicht zuletzt durch die problematische Gleichzeitigkeit der Gründung des Nationalstaates und der Verabschiedung der Verfassung erklären lassen. Ernst Rudolf Huber schrieb etwa: „Die zentrale Bedeutung der Reichsverfassung von 1871 im Gang der deutschen Verfassungsgeschichte beruht darin, daß sie die nationale Einheit nicht nur vorbereitete (wie der gescheiterte Verfassungsversuch von 1848/49) und nicht nur bewahrte und fortbildete (wie das Verfassungswerk von 1919), sondern daß sie die nationale Einheit begründete. Dieser Zusammenfall von Staatsgründung und Verfassungsgebung verleiht dem Verfassungswerk von 1871 einen besonderen verfassungstypologischen Rang.“25

Diese Auffassung missversteht das eigentliche Problem des Zeitrahmens, in dem sich die Vereinigung vollzog. Die Vorgänge waren nicht von Gleichzeitigkeit, sondern von einem beträchtlichen zeitlichen Abstand zwischen der Schaffung der Verfassung und der Formierung des Nationalstaates geprägt. Der Beweis dafür liegt in der Rechtsnatur der Reichsverfassung. Im Gegensatz zu den meisten anderen Verfassungen, wie etwa dem Grundgesetz, hatte die Gründungscharta des Kaiserreiches keinen besonderen rechtlichen Status, der ihr gegenüber Gesetzen oder anderen Rechtsetzungsakten Vorrang eingeräumt hätte. Sie war vielmehr ein ganz normales Gesetz, das im Wege der üblichen Gesetzgebung verabschiedet wurde, nämlich als „Gesetz, betreffend die Verfassung des Deutschen Reiches“, das als Nummer 628 im Reichsgesetzblatt erschien und am 16. April 1871 in Kraft trat. Dieser Gesetzescharakter der Reichsverfassung impliziert, dass sie erst entstand, nachdem die politische Ordnung, deren rechtliche Grundlagen sie regelte, bereits geschaffen worden war. Andernfalls hätten weder die legislativen Organe, die das Gesetz über die Verfassung annahmen, noch das Gesetzblatt, das es veröffentlichte, existieren können.26

Wie war dies möglich? Wie konnte die Verfassung ein Produkt des politischen Systems sein, das sie einrichtete? Die Lösung zu diesem Problem liegt im Prozesscharakter der Reichsgründung. Die Reichsverfassung war keine ursprüngliche Verfassung, sondern nur eine geringfügige Überarbeitung der Verfassung des Norddeutschen Bundes. Die Verfassungsordnung des Kaiserreiches wurde also vor dem Kaiserreich selbst geboren.

Um dieses scheinbare Paradoxon zu verstehen, müssen wir uns kurz die Reihenfolge der rechtlichen Schritte anschauen, die zur Gründung des Reiches führten. Am 18. August 1866 schloss Preußen einen Bündnisvertrag mit fünfzehn Kleinstaaten nördlich des Mains. Dieser Vertrag begründete eine militärische Koalition und verpflichtete die Unterzeichnerstaaten, innerhalb eines Jahres eine Bundesverfassung anzunehmen. Die beiden Mecklenburger Herzogtümer traten dieser Allianz in einem gesonderten Vertrag drei Tage später bei. Als diese Koalition in den nächsten zwei Monaten siegreich aus dem Krieg gegen Österreich hervorging, zwang der Friedensvertrag jene norddeutschen Staaten, die auf der Seite der Habsburger gekämpft hatten und nicht von Preußen annektiert wurden, dem Augustbündnis beizutreten. Es handelte sich dabei um das Königreich Sachsen, das Herzogtum Sachsen-Meiningen, das Fürstentum Reuß älterer Linie und der Landgrafschaft Hessen-Kassel, die seit 1815 auch unter dem Namen Kurhessen firmierte. Der südliche Teil Hessens, das Großherzogtum Hessen-Darmstadt blieb zwar selbständig, wurde de facto aber entmachtet. Im Frühjahr des darauffolgenden Jahres, am 16. April 1867, nahmen die 22 Staaten des auf diese Weise erweiterten Augustbündnisses eine gemeinsame Verfassung an und gründeten so einen neuen Bundesstaat, den Norddeutschen Bund.27

Diese Verfassung bildete die rechtliche Grundlage für die Vereinigung von Nord und Süd dreieinhalb Jahre später. Während der gemeinsame Krieg gegen Frankreich noch andauerte, schlossen die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund im Herbst 1870 eine Reihe von Einigungsverträgen. Am 15. November einigten sich der Norddeutsche Bund, Baden, und Hessen-Darmstadt auf die Schaffung eines „Deutschen Bundes“, der die norddeutsche Verfassung übernehmen sollte. Acht beziehungsweise zehn Tage später traten Bayern und Württemberg dieser Union unter der Bedingung bei, dass ihnen die Verfassung durch noch zu ergänzende Bestimmungen gewisse Sonderrechte einräumen und einige Interimsregelungen aufstellen würde.28

Der deutsche Nationalstaat – das Kaiserreich – wurde an dem Tag geboren, als diese Einigungsverträge in Kraft traten, nämlich am 1. Januar 1871. Am Neujahrstag wurde die Verfassung des Norddeutschen Bundes für ganz Deutschland verbindlich. Die Erweiterung eines schon existierenden politischen Systems schlug sich in der Sprache der „neuen“ Verfassung nieder. Während der Text als Ganzes weitgehend identisch blieb, nahm der Norddeutsche Reichstag im Dezember 1870 einige wichtige terminologische Änderungen vor. Die überarbeitete Verfassung sprach nicht länger von „Bund“ und „Bundespräsidium“, um den Gesamtstaat und sein Staatsoberhaupt zu beschreiben. Stattdessen führte sie zwei neue Begriffe ein, die ihren Anspruch unterstrichen, die ganze Nation zu repräsentieren: „Deutsches Reich“ und „Deutscher Kaiser“. Vier Monate später harmonisierte das bereits erwähnte Gesetz vom 16. April 1871 die verschiedenen Rechtsdokumente, die in den vorangegangenen vier Jahren zur Gründung einer gemeinsamen politischen Ordnung geschaffen worden waren, allen voran die norddeutsche Bundesverfassung und die Einigungsverträge.29

Das daraus resultierende Ergebnis war keine neue, sondern eine revidierte Verfassung, die auf die Gründungscharta des Norddeutschen Bundes zurückging. Die Verfassungsordnung des Reiches wurde somit eigentlich nicht am 16. April 1871 geboren, als das Gesetz, das sie beinhaltete, in Kraft trat, sondern auf den Tag genau vier Jahre zuvor, als der norddeutsche Reichstag die Verfassung des Norddeutschen Bundes angenommen hatte.

Man nahm 1867 allgemein auch gar nichts anderes an, als dass sich eine Vereinigung von Nord und Süd nur auf Grundlage der norddeutschen Verfassung vollziehen würde. Scholz verlieh dieser Erwartung in einer im März des Jahres erschienenen Karikatur Ausdruck, der er den Titel „So muß es kommen“ gab (Abb. 1.2). Die Zeichnung porträtiert Bismarck als einen Schneider, der gerade die Kleidermaße des deutschen Michels nimmt. Diese im 19. Jahrhundert überaus beliebte Personifikation der schlummernden deutschen Nation trägt in dem Bild aber nicht ihre übliche Schlafmütze, sondern einen preußischen Soldatenrock, eine Pickelhaube sowie bayerische Lederhosen und Kniestrümpfe. Michel beschwert sich, dass er in dieser Aufmachung doch nicht ausgehen könne. Darauf reagieren zwei umstehende Süddeutsche, ein Bayer mit einem Bierkrug und ein Württemberger mit einem Regenschirm, indem sie Bismarck auftragen, für Michel auch ein passendes Paar Hosen zu schneidern. Diese Metapher soll aussagen, dass die Südstaaten Bismarck schon bald darum bitten werden, den Norddeutschen Bund auch auf ihre Staatsgebiete auszudehnen.

Schon im Frühjahr 1867 erwartete man also, dass die Gründung eines gesamtdeutschen Nationalstaates aller Wahrscheinlichkeit nach in Form einer Ausweitung der Verfassungsordnung des Norddeutschen Bundes vonstatten gehen würde. Aus der Erwartung wurde schließlich Realität. 1870/71 traten die süddeutschen Staaten vorbehaltlich einiger Sonderregelungen praktisch der norddeutschen Verfassung bei. Sie ließen den ohnehin halb borussifizierten deutschen Michel – um im Bild der Karikatur zu bleiben – in ein preußisches Beinkleid schlüpfen und machten so seinen neuen Aufzug komplett. Anders gesagt: Die Gründung des Kaiserreiches vollzog sich nicht durch die Ausarbeitung und Annahme einer neuen Verfassung, sondern durch eine Reihe von Beitritten zu einer bereits existierenden Verfassungsordnung. Im Gesamtzusammenhang der Reichsgründung fielen die Verfassungsgebung und die Staatsgründung folglich mitnichten zusammen. Zwischen den beiden lagen vielmehr vier ganze Jahre.

Innerhalb dieser Zeitspanne veränderte sich die politische Landschaft in Deutschland beträchtlich. Der Norden und der Süden näherten sich langsam aneinander an. Durch geheime Schutz- und Trutzbündnisse schufen sie ein kollektives Sicherheitssystem, das schließlich 1870 im Krieg gegen Frankreich zum Einsatz kam. Darüber hinaus führte der Zollverein nach der militärischen Konfrontation seiner Mitgliedsstaaten im Krieg von 1866 eine große Strukturreform durch. Diese verstärkte seine einheitsbildende Kraft, indem sie erstmals gesamtdeutsche föderale Institutionen wie den Zollbundesrat und das Zollparlament schuf. Dabei handelte es sich im Prinzip um die jeweiligen Verfassungsorgane des Norddeutschen Bundes, die einfach um zusätzliche süddeutsche Regierungsgesandte beziehungsweise Parlamentsabgeordnete erweitert wurden. Die dort getroffenen Entscheidungen waren für alle Mitglieder in Nord und Süd verbindlich. Aus dem „Zoll-Staatenbund“ wurde also ein „Zoll-Bundesstaat“, so der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Hans-Werner Hahn, der „bewußt als Vorstufe einer engeren, allmählich zusammenwachsenden politischen Einheit konzipiert“ war. Auf dieser Grundlage wurden große Schritte zur wirtschaftlichen Einheit gemacht. So fielen 1867 und 1868 die einzelstaatlichen Salzmonopole sowie die letzten Rheinzölle. Außerdem wurde ein einheitliches Tabaksteuergesetz eingeführt, die Zuckerbesteuerung neu geregelt und der Vereinstarif reformiert, um die deutsche Freihandelszone zu finanzieren und auszubauen.30

Außerdem unternahm der Norddeutsche Bund auf Drängen der liberalen Mehrheit im Reichstag eine Reihe großer Gesetzgebungsprojekte, von denen die Süddeutschen viele kopierten. „Der Initiativreichtum insbesondere der Nationalliberalen“ wirkte in den Worten des großen Sozialhistorikers Hans-Ulrich Wehler fast „wie ein entschlossener Anlauf, unverzüglich zu beweisen, wie modern, wie attraktiv für jeden Fortschrittsfreund der Norddeutsche Bund in kürzester Zeit ausgestaltet werden konnte – wie durchsetzungsfähig die Liberalen mit ihrer Politik gesellschaftlicher Modernisierung waren“. Über achtzig Gesetze wurden verabschiedet, die alte ständische Privilegien abschafften, Freizügigkeit und Konfessionsgleichheit garantierten, Rechtsstaatlichkeit institutionalisierten, industrielle Entwicklung förderten und die Freiheit von Handel und Gewerbe durchsetzten. Zu den wichtigsten gehörten die Gewerbeordnung, das Genossenschaftsgesetz und die Maß- und Gewichtsordnung, die erstmals ein einheitliches metrisches System einführte. Letzeres, ein Meilenstein der Vereinheitlichung Deutschlands, griff Scholz in einer seiner Karikaturen für den Kladderadatsch auf, um die zeitgenössische Erfahrung dieses rasanten Veränderungsprozesses satirisch zuzuspitzen (Abb. 1.3). Frau Schulze, die Verkörperung einer Durchschnittsdeutschen, stellt bei der Lektüre der neuen Maß- und Gewichtstabellen wie der Student in der berühmten Schülerszene von Goethes Faust verzweifelt fest: „Man wird bei alledem so dumm, als geht einem ein Mühlrad im Kopfe herum.“31

Abb. 1.2: „So muß es kommen“, Kladderadatsch (25. März 1867), Wilhelm Scholz

Solche Darstellungen zeigen, dass die vier Jahre zwischen der Gründung des Norddeutschen Bundes und der Vereinigung von Nord- und Süddeutschland als eine Phase dynamischen Wandels wahrgenommen wurden, mit dem man nur schwer Schritt halten konnte. Es ist daher einfach falsch, zu behaupten, dass die föderale Verfassung und der Nationalstaat zur gleichen Zeit geschaffen wurden. Das Gegenteil ist der Fall. Sie entstanden nicht nur in unterschiedlichen Jahren, sondern auch unter sehr verschiedenen politischen Bedingungen. Die Reichsgründung litt daher unter keiner Gleichzeitigkeit von Verfassungsgebung und Staatsgründung. Vielmehr belastete sie die zeitliche Trennung der beiden Prozesse. Diese Asynchronität war nämlich wesentlich mitverantwortlich für die Widersprüchlichkeit der föderalen Strukturen, die die Vereinigung hervorbrachte. Der Kern des Problems lag darin, dass die föderale Verfassung nicht für die politischen Bedürfnisse des Kaiserreiches maßgeschneidert war, weil sie von einem anderen Staat übernommen worden war. 1870/71 wurde ein Staat für eine Verfassung geschaffen und nicht umgekehrt, wie es der Normalfall gewesen wäre. Der Beitritt der süddeutschen Staaten zur Verfassung des Norddeutschen Bundes zwängte 25 Staaten in eine politische Ordnung, die ursprünglich nur für 21 gemacht worden war. Im Norddeutschen Bund musste die Verfassung die Großmacht Preußens, 19 mehr oder weniger kleine Fürstentümer und den Mittelstaat Sachsen koordinieren. Im vereinigten Deutschland war die Aufgabe ungleich schwieriger, da vier zusätzliche Mittelstaaten – die beiden Großherzogtümer Hessen und Baden sowie die mächtigen Königreiche Bayern und Württemberg – das ohnehin undurchsichtige föderale Gefüge gehörig verkomplizierten. Verschachtelte Konstruktionen wie die bayerischen und württembergischen Sonderrechte waren Beweis dafür, dass die föderale Verfassung dem neuen Nationalstaat nicht auf den Leib geschneidert war. Um dem Kaiserreich einen festen strukturellen Rahmen zu geben, hätte die Vereinigung von Nord und Süd mit der Schaffung einer neuen Verfassung einhergehen müssen. Da es nicht dazu kam, mangelte es dem Bundesstaat, den die Reichsgründung hervorbrachte, an einer austarierten, von der Verfassung garantierten Koordination der verschiedenen Einzelstaaten und unterschiedlichen Regierungsebenen. Dieses Geburtsmal war ein Makel, der den neuen Nationalstaat sein ganzes Leben lang beschäftigen sollte.

Abb. 1.3: „Frau Schulze“, Kladderadatsch (9. Januar 1870), Wilhelm Scholz

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