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II. Der neue Adler

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Acht Monate nach der Proklamierung des Kaisers in Versailles präsentierte der belgische Karikaturist Jules Jean Georges Renard, der unter seinem Pseudonym Draner auch ein gefeierter Kostümbildner in der Pariser Opern- und Theaterwelt war, den Lesern von Le Charivari „das neue preußische Wappen“: einen Adler mit Pickelhaube, der ein Eisernes Kreuz um den Nacken trägt (Abb. 1.4). In seinen Klauen hält der Vogel einen langen Degen und zwei Geldsäcke, die für die fünf Millionen Franc Reparationen stehen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg zu bezahlen hatte. Der Torso des Tieres besteht aus einer französischen Standuhr, und sein Schnabel umschließt einen silbernen Löffel, beides Gegenstände, die deutsche Soldaten auf dem Frankreichfeldzug gerne als Kriegsbeute plünderten. Um seine Taille trägt der Adler einen Gürtel, an dem zwei typische Accessoires hochrangiger Offiziere befestigt sind, eine Pistole und eine Pfeife. Das seltsamste Merkmal des Wesens sind aber seine Schwingen. Sie ähneln den Flügeln von Fledermäusen und sind mit den Namen ehemals souveräner deutscher Staaten beschriftet, die entweder 1866 von Preußen annektiert wurden (Holstein, Nassau, Hannover, Hessen-Kassel) oder dem preußisch dominierten Bund 1870/71 beitraten (Bayern, Hessen-Darmstadt, Sachsen, Baden, Württemberg). In seiner Gesamterscheinung kommt die Kreatur als ein bluttriefendes Monster daher, das Angst und Schrecken verbreiten will.

Die Karikatur ist gespickt mit Symbolen, die die Reichsgründung als einen brutalen militärischen Gewaltakt darstellen. Preußen habe diesen unternommen, so die Botschaft, um Deutschland seiner Hegemonie zu unterwerfen. Denn das Kaiserreich sei keine neue Nation, wie die Schwingen des Adlers andeuten, sondern lediglich eine territoriale Erweiterung des preußischen Militärstaates, der sich die anderen deutschen Staaten einfach einverleibt habe. Diese Sicht zeugt von den bitteren Gefühlen, die die französische Öffentlichkeit ob der Reichsgründung empfand. Die Niederlage im Felde, der Verlust von Elsass-Lothringen und die Kaiserproklamation in Versailles hatten die Grande Nation zutiefst gedemütigt und sollten das Verhältnis zum neuen deutschen Nationalstaat auf Jahrzehnte vergiften.

Abb. 1.4: „Le Nouveau Blason Prussien“, Le Charivari (30. August 1871), Jules Draner

In der Verarbeitung dieser Schmach zeichnete Draner das Kaiserreich als ein preußisches Ungeheuer. Trotz aller nationalistischen Übertreibung entsprach diese Interpretation insofern den Tatsachen, als Preußen im neuen Reich wirklich erschreckend dominant war. Über zwei Drittel des Staatsgebietes und ungefähr sechzig Prozent der Bevölkerung waren preußisch. Die neue Reichsverfassung garantierte die Hegemonie Preußens durch die Einrichtung einer dauerhaften Personalunion zwischen der preußischen und deutschen Krone. Der preußische König wurde bei Amtsantritt automatisch Deutscher Kaiser. Das zentrale Verfassungsorgan des Reiches, der Bundesrat, der aus den Gesandten der Einzelstaaten bestand, sicherte die preußische Hegemonie weiter ab. Preußen verfügte dort über siebzehn der insgesamt 58 Stimmen, das heißt über mehr als doppelt so viele wie der zweitgrößte Staat des Bundes, Bayern.32

Derartige Bestimmungen machten die preußische Hegemonie zu dem beherrschenden Merkmal des kleindeutschen Nationalstaates, den die Reichsgründung hervorbrachte. Inmitten des Deutsch-Französischen Krieges, als Verhandlungen über die Vereinigung von Nord- und Süddeutschland unmittelbar bevorstanden, warnte der Wiener Kikeriki seine Leser, dass Deutschland bald der preußischen Vorherrschaft unterworfen werde (Abb. 1.5). „Deutschlands Zukunft“ werde nicht „unter einen Hut“ gebracht, sondern „unter eine Pickelhaube“, die den Menschen gewaltsam vom starken Arm eines Mannes, der vermutlich für Bismarck steht, übergestülpt werde. Die Karikatur stellt die kleindeutsche Lösung also als das Ergebnis eines aggressiven preußischen Militarismus dar, der die deutschen Mittel- und Kleinstaaten in einem hegemonialen Bundesstaat gefangen nehme.

Es ist kein Zufall, dass diese Zeichnung ausgerechnet in einer österreichischen Zeitschrift erschien. Das Habsburgerreich und Preußen hatten um die Vorherrschaft in Deutschland konkurriert, seit Friedrich der Große den Hohenzollernstaat unter anderem durch die Eroberung des zuvor österreichischen Schlesiens im 18. Jahrhundert in den Rang einer Großmacht erhoben hatte. Bei der Niederwerfung Napoleons und auf dem Wiener Kongress fanden die beiden konservativen Monarchien zwar kurzzeitig zueinander. Zur Abwehr von revolutionären, nationalen, und liberalen Gefahren zogen sie an einem Strang und begründeten den Deutschen Bund mit. Danach flammte ihre alte Rivalität aber schnell wieder auf und bestimmte die innerdeutschen Beziehungen. Nach dem Scheitern der 1848er-Revolutionen versuchte vor allem Preußen, die weiterhin starken Bestrebungen zur Schaffung eines deutschen Nationalstaates für seinen Vorteil zu nutzen. Der Konflikt mit Österreich spitzte sich dadurch in den 1850er-Jahren so zu, dass er den Deutschen Bund geradezu lahmlegte.

Aus dieser Sackgasse gesichtswahrend herauszukommen, wurde für beide Monarchien zu einer Überlebensfrage. Je lauter die Forderungen nach einem Nationalstaat wurden, desto größer wurde der Druck auf Wien und Berlin. 1853, zwei Jahre, nachdem Bismarck zum preußischen Gesandten am Frankfurter Bundestag, dem zentralen Entscheidungsorgan des Deutschen Bundes, ernannt worden war, beschrieb er die Unausweichlichkeit der Lage in einem Brief an den preußischen Infanteriegeneral und politischen Weggefährten Leopold von Gerlach: „Unsere Politik hat keinen anderen Exerzierplatz als Deutschland, schon unserer geographischen Verwachsenheit wegen, und gerade diesen glaubt Österreich auch für sich zu gebrauchen. Für beide ist kein Platz, also können wir uns nicht auf die Dauer vertragen. Wir atmen einer dem andern die Luft vom Mund fort, einer muß weichen oder der andere gewichen werden.“33

Abb. 1.5: „Deutschlands Zukunft“, Kikeriki (22. August 1870), anonymer Künstler

Für Bismarck war die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates demnach nicht zuletzt ein Mittel, um den lästigen Dualismus mit Österreich ein für alle Mal zu beenden. Diese Motivation wurde spätestens in dem Vorgehen deutlich, mit dem er den militärischen Konflikt zwischen den beiden Großmächten provozierte. Anfang Juni 1866 beantragte Österreich beim Frankfurter Bundestag, die künftige Organisation des Herzogtums Holstein, das seit dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 unter österreichischer Verwaltung stand, zu klären. Als Österreich in diesem Zusammenhang die lokale Ständeversammlung einberief, marschierte Preußen kurzerhand in Holstein ein. Das österreichische Verhalten, so die offizielle Begründung, verletze die Gasteiner Konvention von 1865, in der die beiden deutschen Großmächte den Status der sogenannten Elbherzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an der deutsch-dänischen Grenze geregelt hatten. Einen Tag später, am 10. Juni, brachte Bismarck einen Antrag auf Reform des Deutschen Bundes in den Bundestag ein. In dem Versuch, die nationale Volksbewegung auf Preußens Seite zu bringen, schlug der Antrag vor, den Bundestag durch ein direkt gewähltes nationales Parlament zu ersetzen und einen Bundesstaat ohne Österreich zu gründen. Wie zu erwarten, fühlte sich die Wiener Regierung von diesem Affront brüskiert. Schließlich schien der Antrag weniger ein ernstgemeinter Reformvorschlag zu sein als eine Definition der Ziele, die Preußen in dem Konflikt mit Österreich verfolgte.34

So zeigt das preußische Vorgehen, dass Bismarcks Vorstellung von einem möglicherweise zu gründenden Nationalstaat die Gleichberechtigung der deutschen Staaten niemals einschloss. Seine Absicht war vielmehr, Österreich aus Deutschland hinauszuzwingen und einen wie auch immer gearteten Bund zu schaffen, der die daraus resultierende Hegemonie der preußischen Monarchie strukturell garantieren würde. Mit anderen Worten: Bismarck wollte dem preußischen Adler ein neues, stärkeres Paar Flügel verleihen. Und damit war er erfolgreich. Seine Strategie der kalkulierten Provokation funktionierte bestens. Am 14. Juni nahm die Mehrheit des Bundestages den Antrag Österreichs an, wegen der Aggression in Holstein gegen Preußen die Bundesexekution zu verhängen. Damit beschloss der Bund, militärisch gegen Preußen vorzugehen. Die Berliner Regierung verurteilte diese Entscheidung als Verletzung der Bundesakte – des deutschen Verfassungsvertrages – und erklärte den Bund daraufhin für aufgelöst. Auf diese Abspaltung folgte der Krieg.

Kurz nach der Niederlage Österreichs und der Gründung des preußisch dominierten Norddeutschen Bundes verglich der französische Illustrator Paul Hadol, der später für seine abfälligen Karikaturen über die in Ungnade gefallene Bonaparte-Familie bekannt wurde, das Streben Preußens nach Hegemonie mit einer Szene aus Goethes berühmtem Drama Faust (Abb. 1.6). Die Karikatur zeigt König Wilhelm von Preußen als „neuen Faust“, also als jenen innerlich zerrissenen Helden, der in seinem unbedingten Streben nach Erkenntnis und Glück einen Pakt mit dem Teufel eingeht. Wilhelm umarmt Gretchen, das Objekt seiner Begierde. Entschlossen, sie zu küssen und zu verführen, fordert er sie auf, ihre Augen zu schließen. Bismarck nimmt derweil die Rolle des Teufels Mephisto ein. In eine Henkersuniform gekleidet, lenkt er Gretchens Nachbarin Frau Marthe ab, damit sie das Schäferstündchen, das in ihrem Garten stattfindet, nicht unterbricht. Die ahnungslose alte Dame trägt einen kronenähnlichen Kopfschmuck und eine mittelalterliche Tunika. Dadurch ähnelt sie zeitgenössischen Darstellungen der Austria, der allegorischen Personifikation des österreichischen Vielvölkerstaates. Bismarck, so die Aussage der Zeichnung, hält Österreich und die großdeutsche Doktrin auf Distanz, damit die preußische Monarchie die unschuldigen deutschen Staaten dazu verführen kann, einen gemeinsamen Bund einzugehen.

Abb. 1.6: „Un Nouveau Faust“, Le Charivari (Mai 1867), Paul Hadol

Die Subtilität und der Nuancenreichtum der Karikatur sind bemerkenswert. Durch ihren Bezug zu der komplexen Handlung der 1808 veröffentlichten Tragödie, die zum Zeitpunkt der Reichsgründung längst zu den Standardwerken der deutschen Literatur gehörte, weist sie auf zwei wichtige Aspekte der preußischen Deutschlandpolitik hin. Der erste betrifft die relative Bedeutung von Person und Struktur. Die Karikatur gibt Bismarck die Rolle des Mephisto, den Goethes Drama als die Triebfeder alles menschlichen Seins, ja der Geschichte beschreibt. Dadurch stellt sie ihn nicht nur – für eine Zeichnung aus der Hand eines Franzosen wenig überraschend – als finsteren Dämonen dar, sondern auch als die treibende Kraft hinter der staatlichen Integration Deutschlands. Das Bild unterstreicht also die besondere Rolle, die Bismarck in der Lösung der deutschen Frage spielte und aus der Nationalisten, Borussen und spätere Generationen von Historikern die Legende vom „Reichsgründer“ machten, der den Nationalstaat praktisch in Eigenregie aus der Taufe hob.

Heute schätzt man Bismarcks Bedeutung sehr viel differenzierter ein. Die Reichsgründung wird üblicherweise als das Ergebnis einer Mischung aus personenbezogenen und strukturellen Faktoren gesehen. Zu Letzteren zählten zum Beispiel die wachsende Eigendynamik des Nationalismus oder das Drängen hin zu einem einheitlichen deutschen Markt, das sich aus dem langsamen Entstehen einer modernen Industriegesellschaft speiste. Von diesem Standpunkt aus erscheint Bismarck, wie Lothar Gall in seiner wegweisenden Biografie des Eisernen Kanzlers zusammengefasst hat, als ein „Mann der Zeit, der ihren Strömungen und vorherrschenden Tendenzen zum Durchbruch verhalf “. Der australische Historiker Christopher Clark benutzt in seiner kürzlich erschienenen Studie Von Zeit und Macht eine ähnliche, vom Reichsgründer selbst häufig verwendete Metapher. Für ihn ähnelte Bismarck einem „Steuermann im Strom der Zeit“. Der preußische Ministerpräsident sei kein absoluter Dominator der Geschichte gewesen, der die Umstände seines Handelns selbst bestimmte. Vielmehr habe er mit dem Genie des großen Staatsmannes versucht, die „Kräfte, deren Wechselwirkung angesichts einer unbekannten und unbegreiflichen Zukunft behutsam gesteuert werden musste“, in ein Gleichgewicht zu bringen, das das Überleben und die Vorherrschaft der preußischen Monarchie sicherte.35

Der zweite Punkt, auf den die Karikatur hinweist, ist das Problem der geschichtlichen Kontinuität. Die Zeichnung will dem Betrachter vor Augen führen, dass die innerdeutschen Angelegenheiten gerade eine entscheidende Veränderung durchmachen. Das hat mit der Auswahl der Szene zu tun. Gretchens Verführung in Marthes Garten ist der Wendepunkt in Goethes Drama. Gretchen, vorher ein unschuldiges Mädchen, gesteht Faust ihre Liebe, obwohl sie instinktiv fühlt, dass er und sein Begleiter Mephisto nichts Gutes im Schilde führen. Von da an nimmt ihr Leben eine dramatische Wendung. Schritt für Schritt nähert sie sich dem Abgrund. Sie wird von ihrem Verführer schwanger, verliert ihren Verstand, ertränkt ihr neugeborenes Kind und wird zum Tode verurteilt. Nur die Gnade Gottes rettet ihre Seele schließlich. Dieser Vergleich lässt Preußens Sieg im Krieg von 1866 und die Gründung eines neuen deutschen Bundes ohne Österreich als schicksalhaften Bruch mit der Vergangenheit erscheinen, der schlimme Folgen für Deutschland haben und schließlich in einer Katastrophe enden werde – es sei denn, es käme zu einer göttlichen Intervention. Hinter dieser teleologischen und pessimistischen Sichtweise steckten antipreußische Ressentiments, die in Frankreich weit verbreitet waren. Wichtiger als diese Voreingenommenheit ist allerdings das historische Bewusstsein, das in der Karikatur zum Ausdruck kommt. Die Zeichnung ist eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass der Ausschluss Österreichs aus Deutschland und die Errichtung einer preußisch-dominierten Staatsordnung als eine Veränderung von historischen Ausmaßen wahrgenommen wurden.

Im Rückblick erscheinen die Ereignisse von 1866 und 1867 tatsächlich als das, was Dieter Langewiesche in seinen Studien zum deutschen Nationalismus mit dem Wort „Geschichtsbruch“ bezeichnet hat. Österreich bildete politisch, wirtschaftlich, und kulturell seit den frühen Tagen des Heiligen Römischen Reiches einen Teil Deutschlands. Ab dem 15. Jahrhundert kam fast jeder Kaiser aus dem Hause Habsburg. Nach Ende des alten Reiches und den Napoleonischen Kriegen übernahm Österreich die Führung des Deutschen Bundes. Im Frankfurter Bundestag, dem zentralen Entscheidungsorgan des Bundes, hatte Österreich den Vorsitz inne. Die 1848er-Revolutionen und ihr Nachspiel schwächten Österreichs Position in Deutschland. Zum einen entschied sich mit dem Frankfurter Paulskirchenparlament die erste deutsche Nationalversammlung für eine kleindeutsche Lösung. Zum anderen nutzte Preußen nach der Revolution die weiterhin schwelende nationale Frage geschickt gegen Österreich aus. In der Erfurter Union, einem Bündnis mit bis zu 25 anderen Staaten, von denen 15 aber wieder absprangen, versuchte Preußen, den Deutschen Bund durch einen kleindeutschen Nationalstaat konservativer Prägung zu ersetzen. Das Projekt scheiterte aber schließlich am Druck Österreichs und Russlands. Die Wiederherstellung des Deutschen Bundes in der Olmützer Punktation von 1850 bewies, dass gegen Österreich in Deutschland nach wie vor kein Staat zu machen war.36

Ein großdeutscher Bund blieb dementsprechend stets ein durchaus plausibles Szenario in der Debatte um Deutschlands staatliche Zukunft. Im Frühjahr 1849 schlug der österreichische Ministerpräsident Felix zu Schwarzenberg gar die Gründung „Großösterreichs“ vor. Sein Plan sah eine reformierte Version des Deutschen Bundes vor, die auch jene Territorien der Hohenzollern und Habsburger umfassen sollte, die bisher nicht zum Bund gehörten, wie beispielsweise Ostpreußen, Posen, Venetien, Kroatien und Dalmatien. Diese Staatengemeinschaft hätte sich von der Ostsee bis zur Adria erstreckt und nicht weniger als siebzig Millionen Einwohner umfasst. Viele weitere großdeutsche Reformvorschläge folgten in den nächsten zwei Jahrzehnten. 1862 gründeten die Befürworter einer großdeutschen Lösung den Deutschen Reformverein. Auch wenn diese Lobbyorganisation nur 1.500 Mitglieder zählte und damit deutlich kleiner war als ihr kleindeutsches Gegenstück, der Deutsche Nationalverein, zeigten ihre Gründung und regen Aktivitäten auf lokaler Ebene, dass in den Jahren vor Ausbruch des Deutschen Krieges eine großdeutsche Reorganisation des Bundes eine ernsthafte Option blieb.37

Bevor die preußischen Zündnadelgewehre den Krieg im Sommer 1866 entschieden, war die Zukunft Deutschlands also offen gewesen. Viele Historiker, wie jüngst Klaus-Jürgen Bremm in seiner Einschätzung zu Bismarcks Krieg gegen die Habsburger, sprechen der historischen Situation diese Offenheit jedoch ab. Sie verweisen darauf, dass eine kleindeutsche Lösung schon vor dem Deutschen Krieg die wahrscheinlichste Entwicklung war. Selbst wenn die Vorzeichen für Preußen günstiger standen, ändert das allerdings nichts daran, dass es alles andere als klar war, ob der Deutsche Bund durch einen preußisch dominierten Bundesstaat, einen reformierten großdeutschen Staatenbund oder überhaupt ersetzt werden würde. Anders gesagt: Bismarcks kleindeutsche Lösung war weder natürlich noch unausweichlich. Die Gründung eines Nationalstaates durch Österreichs Ausschluss von der deutschen Entwicklung war zu keinem Zeitpunkt alternativlos.38

Dagegen mag man einwenden, dass alle großdeutschen Reformvorschläge, die zwischen 1849 und 1866 zirkulierten, von einer praktischen Umsetzung weit entfernt blieben. Zur Diskussion standen ganz verschiedene Modelle. Einige, wie der Plan des liberalen Prinzen von Sachsen-Coburg-Gotha, Ernst II., wollten den Dualismus zwischen den beiden Großmächten durch ein gesamtdeutsches Parlament abfedern, das den Bundestag kontrollieren und jeweils gleich viele Abgeordnete aus Österreich, Preußen, den Mittel- und den Kleinstaaten umfassen sollte. Andere, wie die Reformvorschläge des sächsischen Ministers Friedrich Ferdinand von Beust, der nach dem Krieg zum österreichischen Regierungschef ernannt wurde, wollten die Position der Mittelstaaten stärken und ihnen die Rolle eines Moderators zwischen Preußen und Österreich geben. Letztlich verliefen alle derartigen Ideen im Sande, weil Berlin sie entweder ablehnte oder einfach mit Missachtung strafte.39

Der spektakulärste Fehlschlag war der Frankfurter Fürstentag. Im August 1863 lud der Habsburger Kaiser Franz Joseph alle deutschen Staatsoberhäupter in die Mainmetropole ein, um über die deutsche Frage zu beraten. Zu diesem Anlass präsentierte die österreichische Regierung einen Reformplan, der versuchte, den österreichischen Führungsanspruch und die Forderung der Mittelstaaten nach mehr Einfluss in Einklang zu bringen. Der Bund, so der Vorschlag, solle enger zusammenwachsen, indem ein Bundesgericht, eine offizielle Bundesregierung und jeweils ein Gesetzgebungsorgan zur Repräsentation des Volkes, der Einzelstaaten, und der Prinzen eingerichtet werden sollten. Zeitgleich zu den Fürsten diskutierte auch eine Volksversammlung die österreichischen Ideen. Dafür waren 300 Delegierte aus den Parlamenten der Länder nach Frankfurt gekommen.40

All diese Anstrengungen waren letztlich umsonst. Die Mittelstaaten waren nicht bereit, ohne die Garantie beider Großmächte irgendwelche bindenden Verpflichtungen einzugehen. Der preußische König erschien aber nicht zu der Tagung. Bismarck hatte Wilhelm überredet, nicht nach Frankfurt zu fahren und stattdessen seinen Kuraufenthalt in Baden-Baden zu verlängern. Es war zu wahrscheinlich, spekulierte Bismarck, dass Preußen auf der Konferenz überstimmt werden könnte. Die preußischen Hegemonialbestrebungen stießen vielen Staaten seit Langem bitter auf. Bismarcks Verhalten im preußischen Verfassungskonflikt sorgte für weitere Irritationen. Der Fürstentag kapitulierte aber nicht einfach vor der preußischen Blockadehaltung. Im Auftrag der Versammlung nahm König Johann von Sachsen einen Schnellzug nach Baden-Baden, um Wilhelm doch noch zur Teilnahme zu bewegen. Der Hohenzollernkönig war von dieser demütigen Geste der gekrönten Souveräne so beeindruckt, dass er seine Meinung änderte. Bismarck drohte ihm daraufhin mit Rücktritt. Das war zu viel für Wilhelm. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und schlug die Einladung entgegen seiner eigenen Überzeugung aus.41

Dieses ganze Aufheben um den Fürstentag erinnerte einen anonymen Karikaturisten des Münchener Punsch an einen Spielplatz (Abb. 1.7). „Gibt’s wirklich keine Kinder mehr?“, fragt der Titel seiner Zeichnung rhetorisch. Darunter sind die Fürsten als kindliche Figuren dargestellt. König Wilhelm sitzt auf einem Steckenpferd, dessen Beschriftung es als Symbol für die Hegemoniebestrebungen Preußens ausweist. Der Reiter weigert sich beharrlich, beim Ringelreigen der anderen fürstlichen Kinder mitzuspielen. „Willst Du denn nicht mitthun, Wilhelm? Schließ Dich doch nicht aus“, versucht ihn Johann von Sachsen zu überzeugen. Wilhelm reagiert trotzig: „Laß mich gehen, ich bin zu groß für solche Spielereien.“

Die Allegorie des Kinderspielplatzes ist vielsagend. Sie deutet darauf hin, dass der Fürstentag unter zwei großen Problemen litt. Das erste war die Unausgereiftheit des großdeutschen Reformvorschlags, der die ganze Veranstaltung wie einen Ringelpiez erschienen ließ. Sogar der pro-österreichische Reformverein sah in den Plänen lediglich einen ersten Schritt hin zu einer grundsätzlicheren Neugestaltung der Bundesstrukturen. Das zweite Problem war die an kindlichen Trotz grenzende Entschlossenheit der Bismarckschen Regierung, die Rivalität mit Österreich für sich zu entscheiden und dadurch die Vorherrschaft in Deutschland zu erlangen. Solange der Deutsche Bund existierte, war eine Reform ob dieser Haltung unwahrscheinlich. „Der österreichisch-preußische Dualismus war“, wie Ernst Rudolf Huber betont hat, „die institutionelle und faktische Gewähr des staatenbündischen Charakters der deutschen Bundesverfassung. Sobald der Dualismus entfiel, war der Weg in den Bundesstaat frei.“42

Abb. 1.7: „Zeitbild oder: Gibt es wirklich keine Kinder mehr?“, Münchener Punsch (6. September 1863), anonymer Künstler

Und dennoch: Die Lähmung des Deutschen Bundes bedeutete nicht, wie Jürgen Müller in seiner Studie der deutschen Regierungsverhältnisse zwischen Revolution und Deutschem Krieg gezeigt hat, dass die Idee einer großdeutschen „föderativen Nation“ gescheitert war. Dem Bund gelangen auf praktischen Gebieten große Fortschritte, die durchaus die Basis für einen „föderativen Nationalismus“ hätten bilden können. Vor allem in der Vereinheitlichung der zersplitterten deutschen Rechtslandschaft war der Bund erfolgreich. Das galt besonders im Bereich des Handelsrechts. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierte in Deutschland eine große Vielzahl von Zivilrechtsordnungen, die Handel und Gewerbe in den einzelnen Staaten ganz unterschiedlich regelten, wie etwa das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794, das Badische Landrecht von 1810, der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756 und – in einigen linksrheinischen Gebieten – der französische Code Civil von 1804. Diese Zersplitterung behinderte den Verkehr von Waren, Dienstleistungen, und Kapital enorm. 1861 löste der Bund dieses Problem. Durch die Annahme des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches schuf er erstmals einheitliche, rechtlich verbindliche Rahmenbedingungen für Handel und Gewerbe in allen deutschen Ländern.43

Zu diesen Erfolgen des Bundes kam hinzu, dass regionale Identitäten auch trotz des wachsenden Nationalbewusstseins stark blieben. Die Einzelstaaten entwickelten als Antwort auf den steigenden nationalistischen Druck immer ausgefeiltere Methoden, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Abigail Green hat in ihrer Studie Fatherlands gezeigt, dass die Mittelstaaten ihre staatlichen Aktivitäten deutlich ausweiteten und große Anstrengungen unternahmen, um regionale Zugehörigkeitsgefühle zu stärken. Sie modernisierten die Monarchie, indem sie Verfassungsreformen durchführten und die Popularität der lokalen Dynastien durch den geschickten Einsatz von Prunk und Zeremoniell steigerten. Sie finanzierten öffentliche Feste, Museen und Kunstgalerien, um lokale Besonderheiten herauszustellen. Sie entwickelten eine moderne Pressearbeit, die die Erfolge ihrer politischen Maßnahmen in Zeitungen und Flugblättern propagierte. Sie verschoben den Fokus der Schulerziehung weg von religiösen Fragen und hin zu geschichtlichen, geografischen, und kulturellen Themen, die die Identifikation mit dem jeweiligen Land stärken sollten. Und sie unternahmen große Infrastrukturprojekte, vor allem im Eisenbahnbau, um ihre einzelnen Landesteile zu vereinen und den Lebensstandard zu verbessern. Natürlich gab es dabei regionale Unterschiede. Sachsen und Württemberg betonten vor allem kulturelle Errungenschaften und althergebrachte Verfassungstraditionen. Hannover war mehr dynastisch orientiert. Jeder dieser drei Staaten zeigte aber auf seine Weise, dass das lokale Element der deutschen Identität und damit einer der ideellen Grundpfeiler des Bundes in den 1860er-Jahren keinesfalls tot war oder im Begriff zu zerbröseln.44

Angesichts dieser Erfolge und Stützen des Bundes erscheinen sein Untergang und der Ausschluss Österreichs aus Deutschland alles andere als vorgezeichnet. Erst der Krieg von 1866 führte zum Bruch. Der Charakter dieses militärischen Konfliktes verdeutlicht, welch tiefen Einschnitt er darstellte. Bereits ein Jahr vor Ausbruch des Krieges zeigten sich politische Kommentatoren besorgt, dass die wachsenden Spannungen zwischen Berlin und Wien zu einer militärischen Auseinandersetzung führen könnten, die auch die anderen deutschen Staaten treffen würde. Der Münchener Punsch stellte einen möglichen bewaffneten Konflikt zwischen den beiden Großmächten als ein Pistolenduell zwischen Bismarck und dem österreichischen Kaiser dar (Abb. 1.8). Dabei feuern die beiden Duellanten ihre Kugeln dicht über die Köpfe dreier besorgt dreinblickender Herren ab, die um einen Tisch sitzen und deren Aufmachung sie als Vertreter der Mittelstaaten Bayern, Württemberg und Sachsen zu erkennen gibt. Auf ihre Frage nach der Bedeutung des gefährlichen Spektakels fordert Bismarck sie auf, „neutral“ zu bleiben, und versichert ihnen, er und sein Kontrahent schössen nur „lauter localisirte Kugeln“. Angesichts der Konstellation der Figuren ist aber klar, dass „der deutsche Bürgerkrieg in Bismarck’scher Auffassung“, so der Titel der Zeichnung, keineswegs über die Köpfe „der drei am Tische“ hinweggehen wird, sondern dass sie früher oder später getroffen, das heißt in das Duell hineingezogen werden. Die Karikatur des leider unbekannten Zeichners macht also deutlich, dass „der deutsche Bürgerkrieg“ die unausweichliche Folge einer militärischen Konfrontation zwischen Österreich und Preußen sei.

Diese Erwartung wurde wenige Monate später erfüllt. „Bei Preußens Krieg gegen den Deutschen Bund handelte es sich“, wie Jasper Heinzen eindrucksvoll gezeigt hat, „um einen echten Bürgerkrieg“. Einige Historiker haben das mit Verweis auf die etwa im Vergleich zum Amerikanischen Bürgerkrieg kurze Dauer des militärischen Konfliktes, die fehlende Massenmobilisierung der Bevölkerung oder die Beteiligung Italiens bestritten. Geoffrey Wawro sieht den Konflikt zum Beispiel vor allem als einen Zweifrontenkrieg Österreichs mit Preußen und Italien. Für die Vorgänge auf deutschem Boden sprechen die Fakten aber für sich. Auf dem Schlachtfeld standen sich zwei Koalitionen aus deutschen Staaten gegenüber. Fünfzehn standen unter preußischem, zwölf unter österreichisch-bayerischem Kommando. Die preußische Allianz umfasste die norddeutschen Kleinstaaten, die österreichische die süddeutschen Mittelstaaten und die beiden Königreiche Hannover und Sachsen. Rekrutierungs- und Opferzahlen waren hoch. Innerhalb der sieben Wochen, die der Krieg dauerte, starben pro 10 000 Einwohner 5,8 österreichische, 4,5 preußische, 2,6 hannoversche, und 2,5 sächsische Soldaten. Nach dem preußischen Sieg begann man schnell vom „Bruderkrieg“ zu reden, verstanden sich alle Kriegsparteien doch als Teil der deutschen Nation.45

Bismarcks ewiger Bund

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