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Einleitung: Bund und Verfassung

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Das Deutsche Kaiserreich war nicht nur der erste deutsche Nationalstaat, sondern auch der erste gesamtdeutsche Bundesstaat. Als dieser 1871 im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges ins Leben trat, war er nicht viel mehr als ein loser Zusammenschluss der deutschen Einzelstaaten unter preußischer Führung. Die Regierungen der einzelnen Monarchen behielten einen Großteil ihrer souveränen Hoheitsrechte. Der Bund besaß so gut wie keine eigenen Finanzmittel. Und es gab noch nicht einmal eine gemeinsame Regierung. Das Reich, das 48 Jahre später in den Ersten Weltkrieg zog, war hingegen eine hoch integrierte Reichsmonarchie, in der der Reichskanzler gemeinsam mit einer ganzen Riege von Reichsministern und im Zusammenspiel mit dem Reichstag die Richtung der Politik bestimmte, die Landesregierungen im Bundesrat an den Rand des politischen Entscheidungsprozesses gedrängt waren, und sich die gesamte politische und militärische Kraft der Nation in der Person des Kaisers bündelte. Dieses Buch erzählt die faszinierende Geschichte davon, wie sich die Verwandlung der föderalen Verfassungsordnung des Kaiserreiches vollzog, aus welchen Quellen sie sich speiste und welche Folgen sie hatte.

Es handelt sich um eine Geschichte, die einem aufregenden Drama gleicht – einem Drama allerdings ohne vorgegebenen Handlungsverlauf, daher völlig unvorhersehbar in seiner Entwicklung. Sie nahm etliche Wendungen, musste ständig zwischen verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten wählen und hatte letztlich kein Happy End. Sie war geprägt von Hoffnungen und Ängsten, die an ganz bestimmte Erfahrungen aus der Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft geknüpft waren. Sie entfaltete sich durch das Wirken einiger der schillerndsten Staatsmänner des ausgehenden 19. Jahrhunderts, mit Bismarck und Kaiser Wilhelm II. in den Titelrollen und einem bunten Ensemble von einflussreichen Nebendarstellern. Sie war überwuchert von Legenden und hatte mit zahlreichen Intrigen zu kämpfen. Sie sah sich ständig Konflikten zwischen verschiedenen politischen Kräften und Zweckbündnissen ausgesetzt. Sie machte das Unvorhergesehene zur Regel, durchkreuzte früher oder später alle Pläne und lud zu riskanten Spekulationen ein. Sie formte die staatlichen Entscheidungsstrukturen fortwährend um und ließ das Regierungssystem dadurch nie zur Ruhe kommen. Sie kannte kein festes Zentrum politischer Macht, sondern ließ Letztere ständig zwischen den verschiedenen Teilen der komplexen Verfassungsordnung hin und her wabern, ohne dabei je eine spezielle Regelmäßigkeit zu entwickeln. Sie stellte einige ganz zentrale Weichen für die katastrophale Entwicklung, die Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm. Sie hinterließ aber auch positives Verfassungserbgut, das sich noch heute im politischen System der Bundesrepublik niederschlägt. Folgen wir ihr aufmerksam, können wir zahlreiche interessante Lehren aus ihr ziehen, die selbst mit Blick auf die Europäische Union von Bedeutung sind.

Trotz ihres spannenden Charakters ist die Verfassungsgeschichte des Kaiserreiches als Bundesstaat noch nie ausführlich erzählt worden. Diese Tatsache ist geradezu paradox. Schließlich kann kein seriöser Historiker die Bedeutung des Themas für die deutsche und europäische Geschichte bezweifeln. Dafür ist einfach zu offensichtlich, wie wichtig der Zustand des föderalen Regierungssystems für die politische Entwicklung des Kaiserreiches und damit für das Machtgefüge unter den großen Staaten Europas war. Warum besteht dann diese eklatante Lücke in der Forschung über den verschlungenen Weg, den Deutschland in der Moderne nahm? Es scheint gleich mehrere Gründe zu geben. Denkt man näher über sie nach, wird deutlich, was eine Studie bewältigen muss, um besagte Lücke zu füllen.

Erstens muss man, um die Evolution der föderalen Verfassungsordnung zwischen der Reichsgründung und der Revolution nachzuzeichnen, tief in ein Meer von Quellen eintauchen, die selbst für den eifrigsten Geschichtsenthusiasten nicht gerade ein Lesevergnügen sind. Die Finalversion und die Vorentwürfe der Reichsverfassung, die diversen Vorgängerverfassungen, die im Laufe der Jahrzehnte produzierten Gesetze und Verordnungen, die Protokolle und Drucksachen des Bundesrates sowie des Reichstages, die zeitgenössische Staatsrechtsliteratur und die reichhaltige Historiografie zur Verfassungsgeschichte des Reiches sind nicht nur äußerst komplex und vielschichtig, sondern häufig auch staubtrocken, ja manchmal geradezu lächerlich abstrakt. So heißt es etwa in einem während der Kaiserzeit in nicht weniger als sieben Auflagen erschienenen Standardwerk zur Reichsverfassung: „Der Träger der Reichsgewalt ist keine vom Reiche verschiedene Korporation, keine Personeneinheit, sondern eine Mehrheit von Personen, das Reich also auch in diesem Sinne (ganz abgesehen davon, daß der Kaiser nicht als Monarch des Reiches bezeichnet werden darf) keine Einherrschaft, sondern eine Mehr- oder Vielherrschaft (Pleonarchie, Pleonokratie, und zwar vom Typus der konstitutionellen aristokratischen Republik).“1

Derartige Passagen seitenweise zu lesen, ohne zwischendurch entweder die Geduld oder die nötige Ernsthaftigkeit zu verlieren, ist eine Herausforderung. Aber nicht nur die Art, auch der Umfang der Quellen, die es zu bearbeiten gilt, um die föderale Verfassungsgeschichte des Kaiserreiches zu untersuchen, ist abschreckend. Allein jeden Rechtsakt zu analysieren, den die verschiedenen Exekutivorgane, Parlamente und Verwaltungsbehörden des Bundes, der 25 Einzelstaaten und der unzähligen Gemeinden im Laufe der Jahre in die Welt setzten, geschweige denn, alle dahinterstehenden Verhandlungen zu untersuchen, ist unmöglich. Der kaiserliche Bundesstaat brachte in den knapp fünf Jahrzehnten seiner Existenz mehr Unterlagen hervor, als irgendein Historiker im Laufe seines Lebens jemals lesen könnte. Will man nicht an der Größe der Aufgabe scheitern, ist es deshalb unabdingbar, einen engeren Fokus zu definieren. Dieses Buch konzentriert sich daher darauf, zu schildern, wie sich der Bundesstaat als Ganzes entwickelte. Es beschränkt seine Analyse des föderalen Regierungssystems also auf die Reichsebene und berücksichtigt die Einzelstaaten nur unter dem Gesichtspunkt, wie sie sich am nationalen Willensbildungsprozess beteiligten und wie das, was sich in ihrem Innern abspielte, den Bund insgesamt beeinflusste.

Zweitens fällt die Verfassungsgeschichte des Kaiserreiches als Bundesstaat durch das Raster der verschiedenen historischen Disziplinen. An deutschen Universitäten gehört die Rechts- und Verfassungsgeschichte traditionell zu den Fächern der juristischen Fakultäten. Die Politik- und Strukturgeschichte ist indes eine Domäne der klassischen Geschichtswissenschaften. Diese Trennung von Recht und Politik ist für die Erforschung der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eine erhebliche Bürde, da sie verhindert, Verfassungen als das zu sehen, was sie waren, nämlich zentrale Knotenpunkte des politischen und sozialen Wandels der Moderne. Wie problematisch die Konsequenzen sind, zeigt sich in der Historiografie zum Kaiserreich besonders deutlich. Es gibt überhaupt nur zwei größere Werke, die die Entwicklung des gesamten Bundesstaates während der Kaiserzeit beziehungsweise zumindest während der Bismarckära zu ihrem zentralen Untersuchungsgegenstand machen. Bei beiden handelt es sich um Dissertationsschriften, die zwar ausgezeichnet recherchiert sind, aber unter den methodischen Paradigmen ihrer jeweiligen Disziplinen leiden. Heiko Holstes 2002 erschienene rechtshistorische Studie Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867–1933) konzentriert sich auf die Analyse der relevanten Rechtsnormen und behandelt den politischen Kontext, in dem sich diese entwickelten, nur am Rande. Die bereits 1971 veröffentlichte Monografie des mittlerweile verstorbenen Tübinger Historikers Hans-Otto Binder über Reich und Einzelstaaten während der Kanzlerschaft Bismarcks 1871–1890 untersucht dagegen eingehend die sich wandelnde Dynamik der verschiedenen politischen Kräfte, schenkt aber der fundamentalen Veränderung des normativen Verfassungsrahmens in den ersten zwanzig Jahren nach der Reichsgründung kaum Beachtung. Kurzum: Das Sichtfeld der beiden Arbeiten weist jeweils beträchtliche blinde Flecken auf, die fachlich bedingt sind, nämlich die Verfassungswirklichkeit auf der einen und das Verfassungsrecht auf der anderen Seite. Diese disziplinäre Blindheit beeinträchtigt auf ganz ähnliche Art und Weise auch die vielen Spezialstudien zu einzelnen Aspekten der Föderalordnung des Reiches und die großen Klassiker zur deutschen Verfassungsgeschichte, wie etwa Ernst Rudolf Hubers achtbändiges Monumentalwerk. Dasselbe gilt für die ansonsten exzellenten Teilarbeiten, die im Rahmen eines vor einigen Jahren an der Universität Siegen durchgeführten Forschungsprojektes zum Thema „Integrieren durch Regieren“ die „Funktionsweisen und [den] Wandel des föderalen Systems des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1914“ in bestimmten Politikfeldern anhand ausgewählter Gesetzgebungsverfahren analysiert haben.2

Wollen wir ähnliche Beschränkungen unseres Sichtfeldes und die Verzerrungen, die diese zwangsweise für unseren Blick auf die Transformation des föderalen Regierungssystems mit sich bringen, vermeiden, müssen wir die disziplinäre Zweiteilung überwinden und den Bundesstaat des Kaiserreiches ganzheitlich betrachten. Das bedeutet: Wir müssen die rechtliche und die politische Entwicklung der Verfassung als eine Einheit verstehen und untersuchen. Nur so lässt sich eine umfassende Strukturgeschichte über den komplexen Wandel des Bundesstaates schreiben. Das ist ohne Zweifel eine hehre Aufgabe. Man muss aber nicht bei Null anfangen. Vielmehr kann man sich auf die reichhaltige Forschungslandschaft stützen, zu der die gerade erwähnten Studien gehören, legen viele davon doch im Rahmen des jeweiligen Ausschnitts, den sie uns von der föderalen Geschichte des Reiches zeigen, ausgezeichnete Grundlagen. So ist dieses Buch nicht zuletzt auch eine Synthese des über mehrere Disziplinen verstreuten, hoch spezialisierten Schrifttums zum Bundesstaat des Kaiserreiches, die eine Verfassungsgeschichte ohne disziplinäre Voreingenommenheit erzählen möchte. Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Versuch von einem deutschen Historiker ausgeht, der sein Handwerk in England gelernt hat, wo die Berührungsängste zwischen den verschiedenen historischen Disziplinen sehr viel geringer sind als in seinem Heimatland. Die angloamerikanische Forschungsliteratur spielt denn auch immer wieder eine besonders wichtige Rolle in diesem Buch.

Drittens und letztens taucht der Wandel der föderalen Regierungsordnung auch deswegen nicht auf dem Radar der meisten heutigen Kaiserreichshistoriker auf, weil selbiges Verfassungsfragen generell nur noch hin und wieder marginal erfasst. Der Kurs, den die Geschichtswissenschaft in den letzten fünf Jahrzehnten genommen hat, hat die Verfassungsgeschichte des ersten deutschen Nationalstaates weitgehend außer Reichweite gebracht. Die Blütezeit der Kaiserreichsforschung waren die 1960er- und 1970er-Jahre, als zuerst die Fischer-Kontroverse über die vermeintliche Alleinschuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkrieges und dann die von Hans-Ulrich Wehler und der Bielefelder Schule vorgebrachte Sonderwegsthese breite fachwissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten über das Reich auslösten, bei denen die strukturelle Beschaffenheit von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft im Mittelpunkt standen. In diesem Zusammenhang entstanden zahlreiche Studien zur Reichsverfassung, die noch heute als Standardwerke gelten. Ab Mitte der 1980er ließ das Interesse am Kaiserreich nach. In der Historischen Zeitschrift fiel der Anteil an Artikeln zu dieser Epoche von einstmals fast dreißig auf unter zehn Prozent. Die wenigen Studien, die sich jetzt noch mit der Epoche beschäftigten, wandten sich im Zuge der wachsenden Dominanz der Sozialgeschichte zunehmend Fragen zu, für die die Verfassungsstrukturen des Reiches keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle spielten. Der Aufstieg der Kulturgeschichte in den 1990er-Jahren verstärkte diesen Verdrängungsprozess weiter. Seit der Jahrtausendwende lassen schließlich auch die Kaiserreichsforscher infolge eines allgemeinen methodischen Trends der Geschichtswissenschaften den Rahmen des klassischen Nationalstaates immer häufiger ganz hinter sich, um sich der Vernetzung des Reiches in der Welt oder – wie es im Titel eines faszinierenden Sammelbandes der beiden großen Globalhistoriker Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel heißt – dem „Kaiserreich transnational“ zu widmen.3

Die Verschiebung der historiografischen Interessen hat dazu geführt, dass die Beschäftigung mit der Verfassungsgeschichte des Kaiserreiches heute gemeinhin als etwas altbacken gilt. Dieses Urteil ist nicht ganz ungerechtfertigt. Denn eine Übertragung der in den vergangenen Jahrzehnten entwickelten beziehungsweise gewonnenen Methoden und Erkenntnisse der Kulturgeschichte auf die Analyse der komplexen Verfassungsstrukturen des Kaiserreiches – so, wie es etwa die Frühneuzeithistorikerin Barbara Stollberg-Rilinger für das Heilige Römische Reich getan hat – ist bis heute nicht erfolgt. Es gibt zwar vereinzelte Studien zur Verfassungskultur des Reiches, die etwa die Symbolik der Parlaments- und Regierungsgebäude oder die Bedeutung solcher Zeremonien wie der Reichstagseröffnung und der Begräbnisse der Kaiser untersuchen. Der strukturelle Kern der Verfassung, das heißt das von dieser vorgegebene Gefüge zwischen den verschiedenen Organen und Regierungsebenen des Bundesstaates, wird aber weiterhin zumeist entweder als ein politisches oder als ein rechtliches, nicht aber als ein ganzheitliches kulturelles Phänomen betrachtet. Dieses vorherrschende Verständnis ist überaus problematisch. Statt die Verfassung als einen Teil der dynamischen Kultur des Kaiserreiches zu betrachten, trennt es sie nämlich von selbiger ab. Dadurch filtert es unseren Blick auf das Regierungssystem quasi vor, da die Verfassung so zwangsweise als starres Rechtsgefüge erscheinen muss.4

Angesichts dieser Problematik darf man zumindest fragen, wie sinnvoll es ist, sich gänzlich transnationalen Fragen zuzuwenden, bevor man solch wichtige Aspekte der klassischen Nationalstaatsgeschichte wie die Verfassung mit den Mitteln der modernen Kulturgeschichte analysiert und auf diese Weise die Grundlagen gestärkt hat, auf denen die Verknüpfungen des Reiches mit dem Rest der Welt überhaupt erst solide bestimmt werden können. So gesehen ist es wenig verwunderlich, dass die Kaiserreichsforschung gegenwärtig etwas orientierungslos wirkt, wie Jürgen Schmidt vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung schon 2007 mit Blick auf eine von Sven Oliver Müller und Cornelius Torp veranstaltete Konferenz über „Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse“ festgestellt hat: „Das geschichtswissenschaftliche Thema ‚Deutsches Kaiserreich‘ zerfließt. Aus der klar umrissenen Gestalt eines in blutigen Einigungskriegen zwischen 1866 und 1871 entstandenen Obrigkeitsstaats, der in den Ersten Weltkrieg, der ‚Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts, mündete und mit seinen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Prozessen eine zentrale Rolle in der deutschen Geschichte für die Erklärung des Aufstiegs des Nationalsozialismus einnahm, ist eine amorphe Masse geworden. Zeitlich entgrenzt, fallen Zäsuren wie Dominosteine, räumlich entgrenzt wird das Kaiserreich zu einem transnationalen Gebilde und thematisch stehen die Ambivalenzen im Vordergrund.“5

Dieses Buch will wieder mehr Orientierung schaffen. Zu diesem Zweck erzählt es das klassische Thema der Verfassungsgeschichte des Kaiserreiches nicht nur unter einem bisher vernachlässigten Gesichtspunkt – nämlich der Föderalität des 1871 gegründeten Staatswesens – neu, sondern verwendet dafür auch einen innovativen Ansatz. Es betreibt Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, das heißt, es führt eben jene methodische Übertragung durch, die bisher für die Geschichte des Kaiserreiches noch ausstand. Was bedeutet das konkret? Statt die Reichsverfassung als eine bloße juristische Paragrafensammlung zu sehen, die die Funktionen der einzelnen Elemente des föderalen Regierungssystems sowie die diversen prozessualen Abläufe zwischen ihnen regulierte, versteht dieses Buch sie als eine textgewordene intellektuelle Anstrengung, die sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in ihren Teilen ganz bestimmte Absichten verfolgte. Es geht also von der Prämisse aus, dass die Verfassung die politische Kultur, in der sie entstand, einfing und dieser einen strukturellen Rahmen gab, der sich anschließend zusammen mit eben jener politischen Kultur weiterentwickelte. Anders gesagt: Dieses Buch versteht die Reichsverfassung als ein Kulturartefakt der Reichsgründungszeit, das sich zusammen mit der politischen Umgebung, in der es existierte, ständig wandelte (Abb. 0.1). Dementsprechend betrachten die folgenden neun Kapitel die Verfassung gewissermaßen als einen Speicher von Erkenntnissen, Erinnerungen und Erwartungen, der in ein dichtes, die Grenzen der deutschen Einzelstaaten und mitunter sogar des Reiches überschreitendes Ideennetz eingebunden war und mit seiner Umwelt fortwährend in einer engen Wechselbeziehung stand.

Als ein solches Kulturartefakt war die Reichsverfassung von 1871 Teil einer Welle des Konstitutionalismus, die im 19. Jahrhundert über Europa schwappte und fast überall zur Ausformung von geschriebenen Verfassungen führte. Diese Verfassungen bildeten ein dichtes Geflecht von Ideen, die sich gegenseitig aufeinander bezogen. So hat Martin Kirsch in seiner Studie Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert zum Beispiel gezeigt, dass der monarchische Konstitutionalismus ein genuin europäischer Verfassungstyp war, der in Frankreich, Deutschland und anderen Ländern jeweils andere Ausprägungen annahm. Kurzum: Als Kulturartefakt war die Verfassung des Kaiserreiches nicht nur ein nationales, sondern auch ein transnationales Phänomen. Dazu kommt noch, dass sie ins Leben trat, als es in der westlichen Welt bereits zwei andere wichtige bundesstaatliche Verfassungen gab, nämlich die Schweizer Verfassung von 1848 und die US-amerikanische Verfassung von 1787. In der Diskussion um die Reichsverfassung spielten diese republikanischen Pendants immer wieder eine gewisse Rolle, wie wir im Laufe dieses Buches sehen werden. Aus alldem folgt, dass wir die föderale Verfassungsentwicklung des Kaiserreiches nur wirklich einordnen können, wenn wir sie nicht nur als eigenständige Evolution, sondern auch als speziellen Teil einer größeren, länderübergreifenden Geschichte der bundesstaatlichen Ausprägungen des Konstitutionalismus begreifen. Wir müssen sie fast als eine Art „föderalen Sonderweg“ sehen. Um sich zunächst gebührend auf die komplexen nationalen Grundlagen konzentrieren zu können, wird sich dieses Buch derartigen vergleichenden Überlegungen erst ganz am Schluss zuwenden. Nichtsdestotrotz sind diese wichtig, da sie uns dabei helfen, besser zu verstehen, warum genau das deutsche System so ruhelos war. Auch wenn sich das Buch also auf den Nationalstaat fokussiert, betrachtet es diesen keinesfalls aus einer isolierten Binnensicht. Es blickt auf diesen vielmehr von außen und hat dabei auch stets seine föderalen Cousins und anderen Verwandten im Auge. Eine wichtige Inspirationsquelle ist ihm dabei jene faszinierende Studie des britischen Ideengeschichtlers David Armitage, die zeigt, wie sich die Welt in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung in der Welt manifestierte.6

Abb. 0.1: Kulturartefakt der Reichsgründungszeit: Die Reichsverfassung vom 16. April 1871. Erste und letzte Seite mit Unterschrift Kaiser Wilhelms I.

Der Ansatz, die Reichsverfassung als ein Kulturartefakt der Reichsgründungszeit zu betrachten, bietet die Chance, sich der Verfassungsgeschichte des Kaiserreiches neu zu nähern und dabei viele der Fragen, die Historiker seit Generationen umtreiben, in einem ganz anderen Licht zu betrachten: Auf welche Art und Weise vollzog sich die Reichsgründung? Inwiefern schuf der Einigungsprozess Bedingungen, die die weitere Entwicklung des Reiches vorherbestimmten? Wie entstand die Reichsverfassung? Nach welchen Prinzipien war sie aufgebaut, und welche Intentionen standen hinter ihrer Konstruktion? Wie entwickelte sich die Beziehung zwischen Bund und Ländern, ganz besonders hinsichtlich Preußens? Welche Rolle spielte der Kaiser im Regierungssystem, und wie wandelte sich diese im Laufe der Jahre? Weswegen und wie bildete sich die Reichsregierung um den Kanzler aus? Was war die Aufgabe des Bundesrates, und warum stand er stets im Schatten der anderen Reichsorgane? Wie veränderte sich die Beziehung zwischen Reichstag und Reichsregierung über die Jahrzehnte, und welche Auswirkungen hatte dieser Wandel auf den Rest des Regierungssystems? Wie ging das Reich mit Verfassungskonflikten um? Wie wurde die föderale Evolution staatsrechtlich eingeordnet, und was für eine Bedeutung besaßen derartige Einschätzungen? Und welchen Einfluss hatten die Sonderterritorien des Reiches – die von Frankreich annektierten Provinzen Elsass und Lothringen sowie die diversen Kolonien in Übersee – auf das fragile Gefüge der Verfassung?

Auf all diese Fragen gibt dieses Buch eine Antwort. Dabei fasst es die große Vielzahl an hervorragenden Forschungsarbeiten zum politischen System des Kaiserreiches zusammen, entdeckt vergessene Literatur neu, reinterpretiert bekannte Quellen und wertet bisher weitgehend unbekannte oder bewusst vernachlässigte erstmals systematisch aus. Es rollt damit einige der wichtigsten Debatten um das Kaiserreich neu auf: die Debatte um den Dualismus zwischen Preußen und dem Reich, die Debatte um die Parlamentarisierung des Reiches, die Debatte um das persönliche Regiment Wilhelms II. und die Debatte um den deutschen Sonderweg. In diese teilweise seit Jahrzehnten mehr oder weniger still vor sich hinschwelenden Kontroversen greift dieses Buch nicht ein, um zu zeigen, dass die Wehlers und Winklers, Nipperdeys und Mommsens, Blackbourns und Eleys, Stürmers und Rauhs, Hubers und Böckenfördes, Röhls und Clarks komplett falsch lagen. Im Gegenteil: Infolge seines breiten Ansatzes steht dieses Buch automatisch auf den Schultern von Riesen. Es möchte für die großen Debatten, die unseren Blick auf die Schnittstelle der deutschen Geschichte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bis heute prägen, jedoch neue Perspektiven eröffnen, neue Erkenntnisse in sie einbringen und ihnen so neues Leben einhauchen. Diese Wiederbelebung tut schon insofern not, als wir das eigentümliche Regierungssystem des Kaiserreiches in all seiner Komplexität nur verstehen können, wenn wir es nicht nur – wie bisher – als nationalen, sondern auch als föderalen Verfassungsstaat begreifen.7

Es geht diesem Buch also nicht darum, zu widerlegen und zu ersetzen, sondern darum, zu justieren und zu ergänzen. Sein Ansinnen besteht folglich darin, auf Grundlage der vorhandenen Forschung eine neue Gesamterzählung der Verfassungs- und Politikgeschichte des ersten deutschen Nationalstaates zu entwerfen. Dieser Anspruch lässt sich leicht kritisieren, gelten Meistererzählungen doch gemeinhin als tot, angesichts des differenzierten Blicks, den uns die moderne Geschichtswissenschaft durch ihre zahlreichen Spezialisierungszweige, durch die dank der Digitalisierung relativ leichte Verfügbarkeit immer größerer Quellenmassen und durch das zusehends bessere Verständnis der komplizierten Verknüpfungen zwischen dem Regionalen, Nationalen und Globalen auf die Vergangenheit bietet. Mit derartiger Kritik muss dieses Buch leben. Denn in eine so dicht bewachsene historiografische Landschaft wie das Kaiserreich eine Bresche zu schlagen und neue Perspektiven zu eröffnen, ist nun einmal nur möglich, indem man mutig das Ganze in den Blick nimmt und sich nicht im Klein-Klein verheddert. Das war schon immer so. Genau deswegen braucht und produziert jede Generation ihre eigenen Gesamtdarstellungen jener historischen Sujets, die zwar schon unzählige Male vorher behandelt wurden, wegen ihrer großen Bedeutung aber immer wieder neue Einsichten versprechen. Von daher scheint es nun, da anderthalb Jahrhunderte nach der Reichsgründung die Vor- und Nachteile des deutschen Föderalismus im Rahmen der Corona-Pandemie so kontrovers diskutiert werden wie lange nicht und die politischen Verhältnisse in Deutschland längst nicht nur von einer, sondern von zwei Föderalordnungen – nämlich der Bundesrepublik und der Europäischen Union – bestimmt werden, mehr als angebracht, eine Gesamtgeschichte des Kaiserreiches als Bundesstaat vorzulegen.

Um diese Geschichte zu erzählen, wendet sich das vorliegende Buch unter anderem jenen Stimmen zu, die Historiker bisher in ihrer Untersuchung der staatlichen Entwicklung des Reiches entweder überhört oder geflissentlich ignoriert haben. Zum einen sind das die Protokolle des Bundesrates. Sie sind in der Literatur immer wieder von vornherein als nutzlos abgetan worden, da sie nicht die Debatten dokumentieren, die die Unterhändler der einzelstaatlichen Regierungen im Plenum und den Ausschüssen der Länderkammer führten, sondern nur Formalitäten wie Tagesordnungspunkte, Abstimmungsergebnisse und Anwesenheitslisten festhalten. Diese technischen Details sind jedoch alles andere als irrelevant. Schließlich machte die Verfassung den Bundesrat zum Dreh- und Angelpunkt des föderalen Regierungssystems. Wollen wir nachzeichnen, wie sich Letzteres zwischen Reichsgründung und Revolution wandelte, sind die über fünfzig, jeweils mehrere hundert Seiten starken Bände der Protokolle tatsächlich unverzichtbar. Nur sie geben uns nämlich die Möglichkeit, die Beziehungen zwischen der Bundes- und Landesebene und die Rolle der einzelstaatlichen Regierungen im nationalen Willensbildungsprozess in einem kohärenten Rahmen über die gesamte Kaiserzeit hinweg zu untersuchen – man muss eben nur wissen, wie. Um die reichhaltigen Informationen über die föderale Entwicklung des Reiches aus ihnen herauszufiltern, unternimmt dieses Buch eine ausgefeilte statistische Analyse der Anwesenheitsmuster im Bundesrat. Diese zeigt uns gleich einer Röntgenuntersuchung, was unter der Oberfläche des Bundeskörpers in dessen Innern vor sich ging. So wirft sie beispielsweise neues Licht auf die Debatte um den preußisch-deutschen Dualismus, indem sie erstmals einen soliden quantitativen Beweis dafür liefert, dass im Laufe der Zeit das Reich nicht in Preußen, sondern Preußen im Reich aufging.

Zum anderen holt dieses Buch die Kommentare der zeitgenössischen Staatsrechtler vom Rand ins Zentrum der historiografischen Beschäftigung mit dem Regierungssystem des Kaiserreiches. Im Gegensatz zu den Rechtshistorikern an juristischen Fakultäten haben konventionelle Geschichtswissenschaftler der Reichsstaatsrechtslehre kaum Beachtung geschenkt. Diese Vernachlässigung liegt vor allem darin begründet, dass sich der positivistische Ansatz dieses Rechtsdiskurses rein auf die Analyse der Rechtsnormen konzentrierte, die in der Verfassung, den Gesetzen und den sonstigen Rechtsakten des Reiches niedergeschrieben waren. Für die politische Praxis interessierte sich die Debatte nur peripher. Diese methodische Ausrichtung änderte aber nichts an der Tatsache, dass die Staatsrechtler in einem System, das keinen Verfassungsgerichtshof kannte, die kompetentesten Instanzen waren, um die Verfassung und deren Entwicklung juristisch zu interpretieren. Die leidenschaftliche Debatte, die sie über den rechtlichen Rahmen des Regierungssystems führten, ist daher eine der aufschlussreichsten Quellen, die wir über den Wandel der föderalen Verfassungsordnung überhaupt haben. Das gilt vor allem insofern, als sich die Staatsrechtsexperten gerade auch mit jenen größeren Entwicklungen beschäftigten, die sich über mehrere Teile des Verfassungssystems und / oder über einen längeren Zeitraum erstreckten und sich daher nicht unbedingt immer in den Protokollen, Akten oder sonstigen Schriftzeugnissen niederschlugen, die die einzelnen Reichsorgane punktuell zu verschiedenen Fragen produzierten. Mit anderen Worten: Die Kommentare der Juristen können uns die andernfalls unsichtbaren Verbindungslinien zwischen den verschiedenen Manifestationspunkten des Verfassungswandels aufzeigen und uns so helfen, ein klareres Gesamtbild von der Entwicklung des föderalen Regierungssystems zu gewinnen. Aus diesem Grund hat dieses Buch stets mindestens ein und manchmal sogar beide Augen auf der Reichstaatsrechtslehre.

Ferner trägt es der Tatsache Rechnung, dass die Geschichte des Kaiserreiches als Bundesstaat nicht nur ein historisches, sondern auch ein historiografisches Problem ist, das sich aus den Motivationen, methodischen Herangehensweisen und Auseinandersetzungen der Historiker speist, die sich mit dieser Epoche beschäftigt haben. Ein besonders krasses Beispiel ist Hans Goldschmidt. Der 1879 geborene Historiker, der Deutschland wegen seiner jüdischen Herkunft Ende der 1930er-Jahre verlassen musste, gab 1931 einen umfangreichen Quellenband über das Thema Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Von Bismarck bis 1918 heraus, dem er einen ausführlichen Kommentar zu den Beziehungen zwischen Bund und Hegemonialstaat in der Kaiserzeit voranstellte. Darin vertritt er die These, dass Bismarck darauf aus gewesen sei, das föderale Regierungssystem in einen Einheitsstaat umzuformen. Der große Verwaltungshistoriker Rudolf Morsey hat nach dem Zweiten Weltkrieg belegen können, dass Goldschmidt diese Interpretation im Auftrag des Reichsinnenministeriums erstellt hatte, um eine unitarische Reform der Weimarer Verfassungsverhältnisse in eine Bismarcksche Tradition zu stellen und so leichter durchsetzbar zu machen. Dieser Hintergrund mindert zwar keineswegs den Wert der von Goldschmidt gesammelten Quellen, bedingt aber, dass seine Auslegung derselben ein völlig einseitiges Bild des preußisch-deutschen Dualismus zeichnet.8

In ihrer Schwere ist diese Verzerrung ohne Frage eine Ausnahme. Dennoch gibt es in der Literatur zum Staatswesen des Kaiserreiches eine große Zahl ganz unterschiedlich motivierter und sich auf ganz verschiedene Art und Weise äußernder historiografischer Vorentscheidungen, die den jeweiligen Untersuchungsgegenstand mehr oder weniger stark deformieren. Um sich der Wirkung derartiger Zerrbilder so weit als möglich zu entziehen, schaut die vorliegende Untersuchung nicht nur in den föderalen Verfassungsbau des Kaiserreiches hinein, sondern auch in die Köpfe der Historiker, die darüber geschrieben haben. Wie sah ihre jeweilige Herangehensweise aus? Was haben sie sich dabei gedacht? Und inwiefern beeinflussen sie den Blick, den wir heute auf das Kaiserreich haben? Um diese Fragen zu klären, setzt sich jedes der folgenden neun Kapitel auch mit der Geschichte hinter der Geschichte der Verfassung, sprich: mit dem Charakter der wissenschaftlichen Debatte zu der jeweils betroffenen Thematik auseinander.

Was das Buch gemäß dieser Grundkonzeption entwirft, ist ein Narrativ, das den erzählerischen Ansatz der angloamerikanischen mit der analytischen Genauigkeit der deutschen Geschichtsschreibung zu verschmelzen sucht. Das Narrativ besteht aus drei verschiedenen Erzählsträngen. Indem es diese miteinander verwebt, macht es Verbindungen sichtbar, die ansonsten nicht in unser Sichtfeld fallen würden. Zu allererst umfasst es eine eigenständige Verfassungsgeschichte des Kasierreiches, die sich auf die Schlüsselfrage der politischen Entwicklung dieses ambivalenten Staatswesens konzentriert: Wer oder was regierte Deutschland zwischen der Reichsgründung und der Ausrufung der Republik eigentlich? Der Kaiser? Der Kanzler? Der Reichstag? Die preußische Regierung, entweder alleine oder im Verbund mit den anderen einzelstaatlichen Regierungen? Eine Kombination aus diesen verschiedenen Institutionen? Wenn ja, welche? Oder gar überhaupt keine der genannten Stellen? Und falls das der Fall war, wer dann?

Zweitens durchleuchtet das Buch durch die Analyse des Wandels der föderalen Regierungsstrukturen die Anatomie der Macht im Kaiserreich. Dadurch leistet es einen wichtigen Beitrag zu einer der bedeutendsten Kontroversen über die moderne europäische Geschichte: Wo, wann und warum geriet Deutschland auf die schiefe Bahn? So bereichert das Buch die Sonderwegsdebatte zum Beispiel dadurch, dass es zeigt, wie und aus welchen Gründen die föderale Entwicklung des Kaiserreiches der Weimarer Republik eine politische Kultur hinterließ, die dem Föderalismus keinen großen Eigenwert beimaß und der es folglich an Respekt selbst vor den grundlegendsten Bundesstaatsstrukturen mangelte. Diese Kultur erleichterte es den Nationalsozialisten erheblich, anderthalb Jahrzehnte nach dem Untergang der Monarchie jene Zersplitterung staatlicher Macht, die die politische Landschaft Mitteleuropas seit den frühen Tagen des Heiligen Römischen Reiches in viele Teilstaaten und einen übergreifenden Gesamtstaat untergliedert hatte, zu beseitigen und Deutschland in einen zentralisierten Führerstaat zu verwandeln, der wüten, terrorisieren und morden konnte, wie kein Regime auf deutschem Boden zuvor.

Drittens und letztens beinhaltet das Buch auch eine föderale Systemanalyse. Viele der Beobachtungen, die es dabei über die Flüchtigkeit politischer Macht, das Verhältnis von System und Individuum, den Zusammenhang zwischen der Zentralisierung staatlicher Kompetenzen und der Professionalisierung von Politik, die dialektische Beziehung von Regierung und Parlament und andere verfassungsstrukturelle Phänomene macht, haben für alle föderalen Ordnungen aufschlussreiche Implikationen. Das liegt einfach daran, dass dieser Strang des Narrativs eine Frage betrifft, die heute genauso wichtig ist wie im ausgehenden 19. Jahrhundert oder in irgendeiner anderen Epoche der neueren Geschichte, sei es in Deutschland oder in irgendeinem anderen Teil der Welt: Was hält ein aus mehreren Teilstaaten bestehendes Verfassungssystem gesund beziehungsweise was macht es krank? Besonders interessante Schlüsse lassen sich im Hinblick auf die Europäische Union ziehen, weil deren Föderalstrukturen denen des Kaiserreiches in einigen wichtigen Punkten bemerkenswert ähnlich sind.

Diese drei Erzählstränge entwickelt das Buch parallel zueinander in drei großen Teilen, die je drei Kapitel umfassen. Der erste Teil untersucht die Reichsgründung. Kapitel 1 betrachtet den Einigungsprozess durch die Brille zeitgenössischer Karikaturen und identifiziert so eine Reihe von Geburtsmerkmalen, die dieser Prozess dem neuen Bundesstaat auf den weiteren Lebensweg mitgab. Kapitel 2 schildert die Entstehungsgeschichte der Verfassung und dekonstruiert dabei die Legende vom Fürstenbund. Kapitel 3 nimmt den verschachtelten Aufbau der Reichsverfassung unter die Lupe, indem es die Diskussion im verfassungsgebenden Reichstag analysiert.

Der zweite Teil des Buches zeigt, wie sich der vermeintliche Fürstenbund der Reichsgründungszeit zu einer Reichsmonarchie unitarischer Prägung wandelte. Kapitel 4 zeichnet mithilfe der relevanten Staatsrechtsschriften den Aufstieg des Kaisers vom primus inter pares im Kreis der Fürsten zum Reichsmonarchen nach und erläutert in diesem Rahmen, wie um den Kanzler eine mehrköpfige Reichsregierung mit zahlreichen großen Ministerialbehörden entstand. Kapitel 5 analysiert die innere Zusammensetzung des Bundesrates und legt auf diese Weise die Unterwanderungsprozesse offen, mittels derer die Reichsregierung die Länderkammer in ein Schattendasein drängte. Kapitel 6 unternimmt eine chronologische Gesamtschau des Regierungssystems, die darlegt, wie sich die föderalen Entscheidungsstrukturen zwischen den verschiedenen Verfassungsorganen und -ebenen über die Jahre immer wieder umsortierten und dabei dem Reichstag einen fulminanten Aufstieg ermöglichten, der die Mehrheitsparteien schließlich in der Schlussphase des Ersten Weltkrieges zur Übernahme der Reichsregierung befähigte.

Der dritte und letzte Teil wird einige der wichtigsten Faktoren näher beleuchten, die dafür verantwortlich waren, dass das föderale Regierungssystem nie richtig zur Ruhe kam. Kapitel 7 deckt vermittels zahlreicher Fallanalysen die Mechanismen auf, die das Reich im Laufe der Zeit zur Lösung von Verfassungsstreitigkeiten etablierte und bei denen zumeist die Devise „Macht vor Recht“ galt. Kapitel 8 nimmt den Widerstreit zwischen den verschiedenen Theorien und Interpretationsansätzen der zeitgenössischen Staatsrechtler in den Blick und entwirft so eine Ideengeschichte des Bundesstaates, die zeigt, dass die Reichsstaatsrechtslehre eine denkbar ungünstige intellektuelle Umgebung für die Entwicklung des föderalen Regierungssystems war. Kapitel 9 legt durch die systematische Entwirrung der jeweiligen verfassungsrechtlichen Querverbindungen dar, wie die imperiale Peripherie in Elsass-Lothringen und den Kolonien das föderale Zentrum des Reiches durch ihre bloße Existenz destabilisierte.

Die Schlussbetrachtung hebt schließlich einige besonders bemerkenswerte Vergleichspunkte zwischen der föderalen Entwicklung des Kaiserreiches und derjenigen der USA und der Schweiz hervor, aus denen sich interessante Rückschlüsse über den unterschiedlichen Charakter der monarchischen und republikanischen Bundesstaaten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ziehen lassen. Außerdem betrachtet sie, wie sich das Erbe des kaiserlichen Bundesstaates auf die Weimarer Republik und darüber hinaus auswirkte. Dabei macht sie Kontinuitätslinien sichtbar, die bis in die Gegenwart reichen. Überdies sinnt sie darüber nach, welche Einsichten wir aus der problembehafteten Transformation des kaiserlichen Bundesstaates für die anhaltende Diskussion über eine Reform der föderalen Strukturen der Europäischen Union gewinnen können.

Im Laufe der einzelnen Abschnitte entwickelt dieses Buch nach und nach das Argument, dass die spektakuläre Metamorphose des Reiches von vier großen Wandlungsprozessen gekennzeichnet war, die von vielfältigen politischen Konflikten zwischen den verschiedenen Teilen des Verfassungssystems angetrieben wurden: der Zentralisierung föderaler Kompetenzen, der Monarchisierung des Kaiseramtes, der Nationalisierung des Bundesrates und der Parlamentarisierung der Reichsgewalt. Im Strudel dieser Entwicklungsströmungen kämpften die verschiedenen monarchischen und parlamentarischen, hegemonialen und bündischen, unitarischen und partikularistischen Gegenkräfte des Reiches ständig um den Erhalt beziehungsweise die Ausdehnung ihrer Machtpositionen. Dabei behandelten sie die föderalen Strukturen der Verfassung als reines Machtinstrument, das sie zur Verwirklichung ihrer jeweiligen Ziele nach Belieben manipulierten.

Das Ergebnis dieser Praxis war eine äußerst dynamische, weitgehend ungeplante Evolution der föderalen Verfassungsordnung. Insgesamt war das Regierungssystem zwar nach außen hin erstaunlich stabil, sodass von einer „permanenten Staatskrise“, wie sie etwa Hans-Ulrich Wehler diagnostiziert hat, keine Rede sein kann. Im Innern befand es sich aber ständig im Fluss und fand nie zur Ruhe. Macht flackerte unaufhörlich ohne erkennbaren Rhythmus zwischen den verschiedenen Organen und Ebenen des Bundesstaates hin und her. Die Verfassung war also das genaue Gegenteil eines statischen Gebildes, nämlich ein komplexes System, dessen einzige Konstante die Veränderung war. Kurzum: Sie war das wacklige Gerüst, das den ersten deutschen Nationalstaat trotz aller internen Spannungen bis zum Ende des verlorenen Weltkrieges zusammenhielt, ihn aber gleichzeitig – um mit Michael Stürmer und Volker Ullrich zu sprechen – zu einem „ruhelosen Reich“ bzw. einer „nervösen Großmacht“ machte.9

Die Unberechenbarkeit dieses Gerüsts, das sich ständig umsortierte und dabei mal in die eine, mal in die andere Richtung schwankte, aber fast fünf Jahrzehnte lang nicht einstürzte, beeinflusste alle wichtigen innen- und außenpolitischen Entwicklungen des Reiches. Schließlich bildeten die föderalen Verfassungsstrukturen den grundlegenden Rahmen für alle exekutiven und legislativen Entscheidungen – von der alljährlichen Festlegung des Reichshaushaltes bis zur Kriegserklärung im Sommer 1914. Die strukturelle Unsicherheit, die der atemberaubende Wandel des Reiches als Bundesstaat erzeugte, bestimmte folglich den Verlauf der deutschen und europäischen Geschichte an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ganz entscheidend mit. So sind die Auswirkungen des „ewigen Bundes“, den die deutschen Fürsten vor 150 Jahren unter der Ägide Bismarcks schlossen, in vielerlei Hinsicht bis heute spürbar.


Das Deutsche Reich 1871 bis 1918

Bismarcks ewiger Bund

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