Читать книгу Bismarcks ewiger Bund - Oliver Haardt - Страница 17

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Bismarck und die preußische Regierung hatten zwei Hauptinteressen: Preußen die Hegemonie über Deutschland zu sichern und ein System zu installieren, das monarchische Souveränität gegen die erstarkenden Kräfte des Parlamentarismus schützen würde. Alle anderen deutschen Staaten einfach mit dem preußischen Staat zu verschmelzen und so ein unitarisches Großpreußen zu schaffen, wie es Piemont-Sardinien mit den italienischen Staaten ein paar Jahre zuvor gemacht hatte, hätte nicht beide dieser Ziele erreicht. Eine deutschlandweite Expansion – entweder durch Beitritt oder Annexion der anderen Staaten – hätte zwar die Hegemonie Preußens garantiert. Aber sie hätte auch die Glaubwürdigkeit des monarchischen Prinzips komplett zerstört, weil sie mit Ausnahme des preußischen Königs alle gekrönten Häupter abgesetzt hätte. Camillo von Cavour, der piemontesische Ministerpräsident und Strippenzieher hinter der italienischen Vereinigung, steckte nicht in einer solchen Zwickmühle. Piemont-Sardinien konnte die anderen Monarchien auf der italienischen Halbinsel ohne große Legitimitätsprobleme schlucken, weil es sich bei den meisten um Dynastien handelte, die entweder aus den weitverzweigten Häusern der Habsburger oder Bourbonen stammten oder zumindest von diesen toleriert wurden. Sie waren daher gewissermaßen „Eindringlinge“ in Italien, die das Risorgimento im Namen der Nation einfach hinwegfegen konnte.83

Bismarck hatte es dagegen mit gekrönten Häuptern aus alten deutschen Dynastien zu tun, die fest in ihren jeweiligen Staaten verankert waren, wie etwa das bayerische Haus Wittelsbach oder die diversen thüringischen Seitenlinien des Hauses Wettin. Die Errichtung eines großpreußischen Reiches, das nicht nur die Opfer der Annexionen von 1866, sondern alle diese Dynastien abgesetzt hätte, wäre wohl ein tödlicher Schlag für das Konzept der monarchischen Souveränität gewesen. Angesichts dieses Dilemmas war es für die preußische Monarchie viel klüger, ein System der indirekten Hegemonie einzurichten. Bismarck unterstrich dies beispielsweise in einem Brief an den preußischen Gesandten in St. Petersburg, den er nur wenige Tage nach dem Sieg über Österreich bei Königgrätz schrieb, als weite Teile der preußischen Öffentlichkeit und auch viele Minister die Annexion ganz Norddeutschlands forderten. Der Unterschied zwischen einer deutschlandweiten Expansion des Hohenzollernkönigreiches und einer Reform des Bundes, die Deutschland unter die Kontrolle Preußens stellen würde, betonte er, sei „praktisch nicht groß genug, um dafür das Schicksal der Monarchie von Neuem aufs Spiel zu setzen“.84

Der französische Karikaturist Louis Morel-Retz, der unter seinem Künstlernamen Stop auch als Illustrator und Kostümdesigner für Jacques Offenbachs Operette Orpheus in der Unterwelt berühmt war, entlarvte diese Strategie der indirekten Hegemonie im Mai 1867 in einer Karikatur für Le Charivari (Abb. 1.21). Anlass war die gerade zu Ende gegangene Londoner Konferenz, die eine diplomatische Krise zwischen Frankreich und dem Norddeutschen Bund über den Status von Luxemburg beigelegt hatte. Die Zeichnung zeigt einen preußischen Soldaten, der auf einer Landkarte Zentraleuropas steht. Er hat die Ärmel hochgekrempelt und greift in eine Amphore voller Öl, das er auf der Karte verteilt. Der „Ölfleck“, wie der Titel sagt, hat bereits ganz Norddeutschland bedeckt und breitet sich scheinbar unaufhaltsam gen Süden aus. In Bayern und Baden ist er schon eingedrungen. Kurz vor Luxemburg steht er in diesem Moment. Hinter dem Soldaten macht er derweil den neuen Namen Deutschlands sichtbar: „Römisches Preußen“. Damit spielt die Karikatur auf das Heilige Römische Reich an. Die Warnung ist eindeutig: Auf Basis seiner militärischen Macht sei Preußen, das Norddeutschland bereits nach seinem Willen umgestaltet habe, nun dabei, seine Kontrolle auch über den Rest Deutschlands und möglicherweise über ganz Zentraleuropa auszudehnen. Dabei komme es nicht in seiner eigentlichen Gestalt daher, sondern in Form eines neuen Reiches.

Die Regierungen der deutschen Mittel- und Kleinstaaten goutierten den föderalen Umbau Deutschlands vor allem aus einem Grund. Angesichts der Entschlossenheit Preußens und der breiten Volksbewegung schien ihnen die Gründung eines Nationalstaates nicht mehr vermeidbar zu sein. In dieser Situation war die Einrichtung eines bundesstaatlichen Systems für sie die einzige Option, um die Souveränität ihrer Staaten und monarchischen Häupter zumindest theoretisch zu bewahren. Nach dem gewaltsamen Ausscheiden Österreichs aus Deutschland waren staatenbündische Modelle nicht mehr realistisch. Ein unitarischer Staat hätte andererseits das Ende aller einzelstaatlichen Souveränität bedeutet. Es blieb den Regierungen der Mittel- und Kleinstaaten also nichts anderes übrig, als einer föderalen Lösung zuzustimmen. Der bayerische König Ludwig II. erklärte dieses Dilemma in einem Brief, den er gegen Ende der Einigungsverhandlungen von Versailles im November 1870 an seinen Bruder Otto schrieb. Darin rechtfertigt er sich dafür, dass er seinen Widerstand aufgeben und darin einwilligen wolle, ihrem preußischen Cousin die Kaiserkrone anzutragen: „Könnte Bayern allein, frei vom Bunde, stehen, dann wäre es gleichgültig, da dies aber geradezu eine politische Unmöglichkeit wäre, da Volk und Armee sich dagegen stemmen würden und die Krone mithin allen Halt im Land verlöre, so ist es, so schauderhaft und entsetzlich es immerhin bleibt, ein Akt von politischer Klugheit, ja von Notwendigkeit im Interesse der Krone und des Landes, wenn der König von Bayern jenes Anerbieten stellt, […] Bayern [muß] nun doch einmal aus politischen Gründen in den Bund.“85

Abb. 1.21: „Une tache d’huile“, Le Charivari (2. Mai 1867), Stop

Der Reichstag billigte die föderale Gestaltung des neuen Reiches ganz einfach deswegen, weil die meisten Abgeordneten Bismarcks Lösung als die beste Chance begriffen, die sie womöglich jemals haben würden, um endlich das Ziel zu erreichen, für das liberale und nationale Kräfte seit den Befreiungskriegen gekämpft hatten: die Gründung eines deutschen Nationalstaates. Mit dem Föderalismus an sich konnte die nationalliberale Mehrheit der Parlamentarier wenig anfangen. Ihr Ideal war ein unitarischer Nationalstaat mit parlamentarischer Regierung. Die Schaffung eines deutschen Bundesstaates war daher für sie nicht mehr als ein Teilerfolg. Sie stimmten der Verfassung aber zu, wie das übernächste Kapitel zeigen wird, weil sie noch immer unter dem Trauma der gescheiterten Revolution von 1848 standen und deshalb nicht daran glaubten, dass ein Nationalstaat jemals gegen den Willen der monarchischen Regierungen errichtet werden könnte. Kooperation statt Konfrontation war für sie das Gebot der Stunde. Ihre Strategie dabei war mutig, aber logisch. Sie nahmen die Verfassung als zeitweiligen Kompromiss an und spekulierten, die neu geschaffene Ordnung lasse sich dann später – wenn sich die Kräfteverhältnisse erst einmal zu ihren Gunsten verschoben hätten – schrittweise zentralisieren und parlamentarisieren. Der altliberale Abgeordnete Georg von Vincke, der Bismarck 1852 zu einem Duell herausgefordert hatte und daher nicht unbedingt als Freund des Ministerpräsidenten galt, brachte diese Strategie 1867 im konstituierenden Reichstag gegenüber den ideologischen Hardlinern unter den Liberalen auf eine einfache Formel: „Bringen Sie das Haus erst unter Dach, um es dann vielleicht wohnlicher einzurichten.“86

Solche Überlegungen machen deutlich, dass die föderale Gestaltung des neuen Nationalstaates das Ergebnis vornehmlich pragmatischer Entscheidungen war. Der Föderalismus war die Organisationsform, die das breiteste Spektrum an politischen Interessen abdeckte beziehungsweise die meisten Interessen zumindest nicht abwürgte. Insofern war die Reichsgründung auf allen Seiten ein Akt der Realpolitik. Dieser Pragmatismus der politischen Entscheidungsträger machte die Vereinigung der deutschen Staaten überhaupt erst möglich. Die meisten anderen Vorschläge, die in den 1860er-Jahren zur Umformung des deutschen Staatswesens zirkulierten, ignorierten die Interessen einer, wenn nicht sogar mehrerer der beteiligten Parteien. Der Südbundplan des bayerischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzlers Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst ist ein Paradebeispiel. Der Plan sah vor, einen unabhängigen Bund der Südstaaten zu schaffen und diesen mit dem Norddeutschen Bund in einem losen dritten, gesamtdeutschen Staatenbund zu vereinigen.87

Diese Konstruktion trug weder dem Wunsch der Liberalen nach einem mächtigen nationalen Parlament noch dem preußischen Hegemoniebestreben ausreichend Rechnung. Folgerichtig scheiterte der Plan jedes Mal, wenn er vorgeschlagen wurde. In den 1860er-Jahren wurde er in der Diskussion um die Reform des Deutschen Bundes zweimal verworfen. Im November 1870 holte ihn die bayerische Regierung in ihrem verzweifelten Versuch, so viel wie möglich aus den Einigungsverhandlungen in Versailles herauszuschlagen, noch einmal aus der Schublade, erntete dafür aber nichts als Unverständnis. Bismarcks föderale Lösung war das genaue Gegenteil. Sie hatte die Interessen aller wichtigen Beteiligten im Blick und versuchte, jedem zumindest teilweise gerecht zu werden. Der neu geschaffene Bundesstaat garantierte Preußens Hegemonie über Deutschland, bewahrte die Souveränität der Fürsten der Mittel- und Kleinstaaten, und gab den mannigfaltigen Kräften der nationalen Volksbewegung ein starkes gesamtdeutsches Parlament.

Es hatte aber auch einen entscheidenden Nachteil, dass die Legitimation der neuen föderalen Ordnung vor allem auf der pragmatischen Überschneidung politischer Interessen beruhte. Diese Legitimationsgrundlage brachte unweigerlich strukturelle Unsicherheit und Instabilität mit sich. Die politischen Interessen der verschiedenen Staaten, der monarchischen Regierungen und der Parlamente waren äußerst vielfältig und situationsabhängig. Es war wahrscheinlich, dass sie sich nach der Vereinigung mit Änderung der äußeren Umstände verschieben, den Ausgleich der Gründungsphase auflösen und damit die Bundesstaatsordnung ihres Daseinszwecks entkleiden würden. Statt einen stabilen Rahmen für die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Preußen, den Mittel- und den Kleinstaaten, aber auch zwischen den monarchischen Regierungen und dem nationalen Parlament zu schaffen, machte die Reichsgründung die Zukunft des neuen Föderalstaates davon abhängig, wie sich das vertrackte Verhältnis dieser Faktoren entwickeln würde.

Wilhelm Scholz entlarvte dieses Problem in einer seiner Kladderadatsch-Karikaturen, direkt nachdem der konstituierende Reichstag im April 1867 Bismarcks Verfassungsentwurf angenommen hatte. Die neue Reichsverfassung ähnelte in seinen Augen einem Säugling, der in den Armen seiner nährenden Mutter Germania liegt und erste Schreie von sich gibt (Abb. 1.22). Die Überlebensfähigkeit und endgültige Gestalt des aus dem Pragmatismus seiner Erzeuger hervorgegangenen Bundes, kommentiert der Untertitel, werde sich erst mit dem Heranreifen der Verfassung herausstellen: „Der Norddeutsche Bund zeugt auf dem Boden der Thatsachen die Reichsverfassung, von welcher man erst wenn sie aus den Windeln sein wird, sehen kann, ob sie Hand und Fuß hat.“

Im Dezember 1870, als Nord und Süd gerade die Einigungsverträge unter Dach und Fach gebracht hatten, machte Scholz das Legitimationsproblem der neuen Föderalordnung noch deutlicher. Mit beißender Ironie nahm er die Symbolpolitik rund um den erfolgreichen Abschluss der Versailler Verhandlungen auseinander. Seine Karikatur zeigt eine Gruppe von Engeln, die drei kaiserliche Insignien zu einem Tisch bringen, auf dem die Einigungsverträge des Norddeutschen Bundes mit Bayern, Hessen, Württemberg und Baden liegen (Abb. 1.23). Zwei Putten tragen einen schweren Krönungsmantel und decken ihn über die Verträge. Drei andere Cherubinen befördern ein Kissen, auf dem eine Krone liegt. Diese ähnelt der alten heiligen römischen Reichskrone, ist aber nicht identisch. Einer der Kissenträger hat einen bayerischen Armeehelm auf, eine Anspielung darauf, dass es der bayerische König war, der Wilhelm von Hohenzollern letztlich die Kaiserkrone im Namen der Fürsten anbot. Ein weiteres Engelchen schleppt einen Reichsapfel herbei, der symbolisch für den globalen Machtanspruch des neuen Kaiserreiches steht. Betitelt ist die Szene mit einem lateinischen Denkspruch des römischen Dichters Ovid: „Finis coronat opus“ oder „Das Ende krönt das Werk“. So vielschichtig die Zeichnung, so eindeutig ihre Botschaft. Die Einrichtung des Kaisertums sei nur ein Täuschungsmanöver, das die wahre Natur des neuen Föderalstaates verschleiere, indem sie dessen Ursprung in pragmatischen Verhandlungen und Zweckmäßigkeitserwägungen hinter pompösen nationalen Symbolen verstecke. „Gewisse Dinge“, bemerkt der Untertitel süffisant, „bedeckt man gern mit dem (Kaiser-) Mantel der Liebe“.

Abb. 1.22: „Reichsverfassung“, Kladderadatsch (Juni 1867), Wilhelm Scholz

Abb. 1.23: „Finis coronat opus“, Kladderadatsch (25. Dezember 1870), Wilhelm Scholz

Bismarcks ewiger Bund

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