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V. Liberale Totengräber und royale Lakaien

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Im April 1868 verurteilte ein anonymer Karikaturist die Nationalliberalen im Münchener Punsch aufs Schärfste (Abb. 1.16). Nur die Metapher des Todes schien ihm für die Beschreibung ihres Verhaltens gerecht. Die Partei habe viele Ideale und Ziele, für die Liberale in ihrem langen Kampf um einen Nationalstaat eingetreten waren, einfach beerdigt: den „Kampf gegen Militär-Budgets“, die „Rede-Freiheit“, das „Selbst-Bestimmungsrecht der Schleswig-Holsteiner“, und die „Chur-Hessische-Verfassung von 1831“. „Das Alles“, erklärt der Titel der Karikatur, „ruht, und noch manches Andere“. Die Nationalliberalen, die sich gerade, als die Zeichnung veröffentlicht wurde, im konstituierenden Reichstag als Geburtshelfer der neuen Nation aufspielten, seien daher in Wirklichkeit „Todtengräber“. Woher kam die Enttäuschung, die in dieser heftigen Anklage zum Ausdruck kommt? Was war mit dem deutschen Liberalismus geschehen?

Als König Wilhelm von Preußen Bismarck im September 1862 zum Ministerpräsidenten ernannte, steckte die preußische Monarchie in einer schweren Verfassungskrise. Das Abgeordnetenhaus, das von Liberalen dominiert war und sich auf sein Recht der Haushaltsbewilligung stützte, verweigerte die Finanzierung einer Reform des preußischen Heeres. Der Versuch des Königs, durch Auflösung des Parlamentes und anschließende Neuwahlen günstigere Mehrheitsverhältnisse zu erzeugen, endete in einem Fiasko. Die neu gegründete liberale Deutsche Fortschrittspartei, die eine Ausweitung des Militärhaushaltes strikt ablehnte, errang bei den Wahlen vom Dezember 1861 einen großen Sieg. Sie verfünffachte ihre Mandate und wurde stärkste Partei, während die Konservativen schwere Verluste hinnehmen mussten. Gemeinsam verfügten die liberalen Fraktionen über eine breite Mehrheit und konnten die Heeresreform so weiter blockieren.

Sobald er sein neues Amt angetreten hatte, löste Bismarck die Pattsituation zwischen Regierung und Parlament ohne viel Skrupel auf. Er entschied, ganz einfach ohne parlamentarisch bewilligtes Budget zu regieren und die Reform auch trotz des heftigen Widerstandes des Abgeordnetenhauses durchzuführen. Die preußische Verfassung, erklärte er, träfe keine Vorkehrungen für einen solchen, den Staat lähmenden Dauerstreit zwischen Parlament und Regierung. Diese „Lücke“, so seine Rechtfertigung, mache es notwendig, dass die Regierung den Willen des königlichen Souveräns ohne Rücksicht auf die Belange des Parlamentes umsetze, da sonst die Handlungsfähigkeit des Staates nicht gewährleistet werden könne.66

Abb. 1.16: „Nationalliberale Totengräber“, Münchener Punsch (12. April 1868), anonymer Künstler

Dieses Verhalten widersprach dem Geist der Verfassung diametral. Aber Bismarcks „Lückentheorie“ war wohl kein direkter Rechtsbruch. Die Lage war komplizierter. In seiner Analyse der Verhandlungen zur preußischen Verfassung zwischen 1848 und 1850 hat Günther Grünthal gezeigt, dass die „Lücke“ keine bloße Behauptung war. Die Konservativen hatten die relevanten Bestimmungen absichtlich so gestaltet, dass eine Leerstelle entstand, welche die monarchische Exekutive schützen würde. Sie sollte der Regierung die Möglichkeit geben, Haushaltsstreite auszusitzen. Bismarck brach in den 1860er-Jahren deshalb nicht das Recht, sondern nutzte ein Schlupfloch aus, wie Hans-Christof Kraus betont hat, das er als junger Abgeordneter in den Verfassungsverhandlungen selbst gegen die Liberalen mitverteidigt hatte.67

Diese Geringschätzung des Prinzips einer verfassungsgebundenen Regierung machte Bismarck für die Liberalen, die seine konservative Agenda ohnehin mit Argwohn betrachteten, endgültig zur Hassfigur. In den folgenden Jahren versuchten sie alles, um seine Politik zu behindern und ihn aus dem Amt zu zwingen. Was dann passierte, ist oft beschrieben worden: Preußens unerwarteter Sieg über Österreich in der Schlacht von Königgrätz wandelte die Stimmung in weiten Teilen der liberalen Partei über Nacht. Eine Vereinigung der deutschen Staaten schien plötzlich in Reichweite. Bismarck und die preußische Militärmonarchie machten dieses Ziel, für das die Liberalen seit den Napoleonischen Freiheitskriegen gestritten hatten, auf einmal zu einer realistischen Möglichkeit. Die später berühmt gewordene Voraussage, die der verhasste preußische Ministerpräsident bei seinem Amtsantritt vier Jahr zuvor getroffen hatte, schien sich zu bewahrheiten: „Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen – sondern durch Eisen und Blut.“68

Angesichts der dramatischen Veränderung des politischen Machtgefüges in Deutschland entschieden sich die meisten Liberalen für einen strategischen Sinneswandel. Sie stellten ihre traditionellen Erwartungen an einen Nationalstaat – wie zum Beispiel die Garantie von Grundrechten, eine unitarische Organisation der Staatsgewalt, und die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems – hintan und suchten den Schulterschluss mit Bismarck. Deutlichster Ausdruck dieser Umorientierung war die Verabschiedung des sogenannten Indemnitätsgesetzes im September 1866. Durch Annahme dieser Regierungsvorlage bestätigte das preußische Abgeordnetenhaus rückwirkend die Rechtmäßigkeit des umstrittenen Haushaltes der Vorjahre. Bismarck war damit vom Vorwurf des Verfassungsbruchs freigesprochen, und der „Kampf gegen Militär-Budgets“ landete, wie der Münchener Punsch in seiner Totengräber-Karikatur beklagte, auf dem Friedhof.

Für dieses opportunistische Verhalten zahlten die Liberalen mit ihrer inneren Spaltung. Die bismarckfreundliche Mehrheit unter ihnen sagte sich im November 1866 von der Fortschrittspartei los. Zurück blieb ein Rumpf von Linksliberalen, die sich weiterhin Bismarck widersetzten. Die neugegründete Nationalliberale Partei bildete dagegen in den nächsten Jahren die parlamentarische Stütze für Bismarcks Deutschlandpolitik. Sie wurde zur Reichsgründungspartei. Im Februar 1867 gewannen die Nationalliberalen in den Wahlen zum konstituierenden Reichstag achtzig Sitze und damit mehr als drei Mal so viele wie die Linksliberalen. Als stärkste Fraktion stellten sie den Löwenanteil der Stimmen, die Bismarcks Verfassungsentwurf im April annahm. Betört von der Aussicht auf die baldige Gründung eines Nationalstaates stimmten sie der Verfassung zu, obwohl diese, wie wir im übernächsten Kapitel sehen werden, vielen ihrer Kernanliegen widersprach. So gab es zum Beispiel keinen Grundrechtskatalog. Die „Rede-Freiheit“ und andere bürgerliche Rechte, kritisierte die Karikatur des Münchener Punsches, wurden dadurch zu Grabe gelegt.69

In den nächsten Jahren trugen die Nationalliberalen Bismarcks Kurs weiter mit, indem sie den neu gegründeten Norddeutschen Bund innenpolitisch konsolidierten und seine bundesstaatliche Ordnung ausbauten. Zu diesem Zweck ließen sie viele Streitfragen ruhen, um die sie jahrzehntelang mit den Konservativen gerungen hatten. Darunter waren, wie die Karikatur des Münchener Punsches verbittert festhielt, auch der Konflikt um die liberale kurhessische Verfassung, die der örtliche Fürst 1850 einfach abgeschafft hatte, und das vermeintliche Recht der Bewohner Schleswigs und Holsteins, selbst zu entscheiden, ob sie zu Dänemark oder zu Deutschland gehören wollten. Beide Konflikte hatten sich ohnehin erledigt, weil Preußen durch die Annexion Hessen-Kassels 1866 und den Sieg im Deutsch-Dänischen Krieg zwei Jahre zuvor vollendete Tatsachen geschaffen hatte.70

Die opportunistische Kehrtwende der Nationalliberalen vom Feind zum Freund Bismarcks war ein ganz entscheidender Moment in der Umgestaltung Deutschlands. Durch sie erhielt die Idee eines kleindeutschen Nationalstaates erstmals eine große und verlässliche parlamentarische Basis, die zu einer Allianz mit der preußischen Monarchie bereit war. Die Befürworter dieser Idee hatten sich schon 1859 im Deutschen Nationalverein zusammengefunden. Schnell wuchs diese Interessenvertretung zu einer mächtigen Lobbyorganisation, die 1862 nicht weniger als 25 000 Mitglieder zählte und viele wichtige Positionen im öffentlichen Leben besetzte, vor allem in der Turn- und Schützenbewegung. Nach Bismarcks Ernennung zum Ministerpräsidenten litt der Verein aber unter den gleichen Problemen wie die liberale Partei. Der Streit darüber, ob man Bismarck die Hand reichen oder ihn bekämpfen sollte, führte zu internen Spaltungen. Die Organisation begann zu erodieren, bis schließlich nur noch 1000 Mitglieder übrig waren. 1867 löste sich der Nationalverein schließlich selbst auf, als sein rechter und größter Flügel beschloss, der neugegründeten Nationalliberalen Partei beizutreten.71

Indem sie Bismarck einen parlamentarischen Partner gab, machte die spektakuläre Umorientierung der Liberalen die Reichgründung möglich. Aber sie brachte auch ein großes Problem mit sich. Der Opportunismus der Liberalen beschädigte den Parlamentarismus als Legitimationsquelle für die entstehende föderale Ordnung. Die Nationalliberalen, die mit Abstand stärkste Gruppierung im konstituierenden Reichstag, nahm die Verfassung nicht an, weil sie von der Gestaltung des Bundesstaates überzeugt gewesen wären, sondern nur, weil sie den Pakt mit Bismarck als die einzig realistische Chance für die Gründung eines Nationalstaates sahen. Der Vereinigung Deutschlands ordneten sie alles andere unter. Für dieses Ziel waren sie selbst bereit, auf ihr Ideal eines unitarischen Staates mit parlamentarischer Regierung zu verzichten und einer Verfassung ins Leben zu helfen, die einen monarchischen Bundesstaat schuf. Mit anderen Worten: Ihre Zustimmung galt dem nationalen, nicht dem föderalen Staat. Der Opportunismus hinter diesem Abstimmungsverhalten schwächte die Legitimationskraft, die vom positiven Votum des Reichstages für die Verfassung und Einigungsverträgen ausging, deutlich ab.

Der Fortbestand des Monarchismus machte dieses Defizit kaum wett. Diese Beobachtung mag zunächst seltsam erscheinen. Immerhin dominierten die monarchischen Regierungen der Einzelstaaten die Bildung des Nationalstaates und gaben ihm, wie das nächste Kapitel zeigen wird, die äußere Form eines Fürstenbundes. Dieser monarchische Charakter des neuen Staates hätte theoretisch seine föderale Ordnung legitimieren müssen. Schaut man aber genauer hin, erkennt man, dass die Vorgänge zur Gründung des Reiches das monarchische Prinzip, das die Fürsten zu souveränen Trägern der Staatsgewalt machte, mehr verletzten als stärkten. Den größten Schaden richteten die preußischen Annexionen von Hannover, Nassau, und Hessen 1866 an. Preußen verleibte sich das Königreich, das Herzogtum und das Kurfürstentum ohne viel Federlesens ein. Dadurch enteignete der Hohenzollernstaat drei Dynastien, die seit dem Mittelalter über ihre jeweiligen Territorien geherrscht hatten: das Haus der Welfen, das Haus Nassau und das Haus Hessen. Drei monarchische Souveräne wurden einfach gewaltsam abgesetzt. „Durch diese Ereignisse“, erklärte der liberale Abgeordnete Rudolf Schleiden im konstituierenden Reichstag, sei „das monarchische Princip auf das Aeußerste erschüttert“. Er habe „vergebens in der Geschichte nach einem Beispiele gesucht, wo eine Regierung von Gottes Gnaden in ähnlicher Weise durch ihr Verhalten das monarchische Princip erschüttert hätte, wie das von der Königlichen Preußischen Regierung geschehen“ sei. Die geschädigten Dynastien unterstrichen diesen Eindruck wirkungsvoll. Sie bildeten später die Gruppe der „Depossedierten“, eine Art Interessenverband, der das preußische Verhalten als abscheulichen „Kronraub“ verurteilte und angemessene Entschädigungen forderte.72

Sogar brennende Republikaner, wie die Satiriker von Le Charivari, sahen in den preußischen Annexionen eine grobe Verletzung fundamentaler Rechts- und Legitimationsprinzipien. Der berühmte Illustrator Cham brachte dies in einer Karikatur zum Ausdruck, die Preußen als einen Soldaten darstellt, der zwei verschiedene Stoffteile mit Nadel und Faden zusammennäht (Abb. 1.17). Das eine Tuch steht für Preußen, das andere für die annektierten Staaten. „Es ist eine Sache, zu wissen, wie man mit der Nadel umgeht“, kommentiert der Untertitel, „aber es ist eine Fertigkeit, die man nicht missbrauchen sollte“. Die preußischen Annexionen, so die unterschwellige Botschaft, waren ein illegitimer Gewaltakt. Dieser Missbrauch der preußischen Machtstellung tat mehr, als das Prinzip der monarchischen Souveränität zu untergraben. Er setzte es außer Kraft.

Der preußische König verurteilte Bismarcks Annexionspolitik deshalb scharf, er konnte sie aber nicht verhindern. Seine Hilflosigkeit legte offen, wie weit selbst der mächtigste unter den deutschen Fürsten an den Rand der Entscheidungsprozesse gedrängt wurde, die die politische Landschaft Deutschlands revolutionierten. Die gekrönten Häupter waren auf dem Weg zur Reichsgründung mehr Mitläufer als Anführer. Geplant, verhandelt und durchgeführt wurden die einzelnen Schritte zur Vereinigung der Einzelstaaten nicht von ihren monarchischen Souveränen, sondern von ihren Ministern und Diplomaten. Die Rolle der Fürsten beschränkte sich bis auf wenige Ausnahmen, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, auf das Unterzeichnen von Verträgen und die Übernahme von zeremoniellen Verantwortlichkeiten.

Honoré Daumier veranschaulichte diese Passivität der Monarchen in einer Karikatur, die kurz nach Abschluss der Einigungsverhandlungen von Versailles im Dezember 1870 in Le Charivari erschien (Abb. 1.18). Bismarck, so gibt die Karikatur zu verstehen, degradiere die Könige von Bayern, Württemberg und Sachsen, die an ihren Kronen erkennbar sind, zu bloßen Lakaien auf der preußischen Staatskutsche. Aber nicht nur das: Der Ministerpräsident lehnt sich so weit aus dem Fenster und gibt den Lakaien so bestimmt die Richtung vor, dass er sogar den preußischen König, den eigentlichen Besitzer der Kutsche, in den Schatten drängt. „So versteht Bismarck die deutsche Einheit“, unterstreicht der Untertitel.73

Derartige Beobachtungen blickten hinter die monarchische Fassade des neuen Kaiserreiches. Der wichtigste Teil dieser Verkleidung war die Einsetzung eines neuen deutschen Kaisertums. Die Proklamation des Kaisers schuf allerdings überhaupt keine gesamtdeutsche Monarchie, die als Legitimationsgrundlage der neuen Ordnung hätte dienen können. Wie wir im Laufe der nächsten Kapitel sehen werden, wurde der preußische König trotz Annahme des Kaisertitels kein Reichsmonarch, der über den gekrönten Häuptern der anderen Einzelstaaten gestanden hätte. Die besondere Machtstellung seines Königreiches machte ihn vielmehr im Kreis der monarchischen Souveräne zum Ersten unter Gleichen. Als primus inter pares stand er gewissermaßen dem Kollegium der Fürsten vor, beherrschte sie aber nicht.74

Abb. 1.17: „Une Aiguille“, Le Charivari (4. September 1866), Cham

Diese eingeschränkte Position des Kaisers spiegelte sich in seinem Titel wider. Die Bezeichnung „Deutscher Kaiser“ war ganz bewusst anstelle des konventionelleren Prädikats „Kaiser von Deutschland“ gewählt worden. Es handelte sich dabei um einen bloßen Ehrentitel, eine Neuschöpfung, die während der Verhandlungen in Versailles für viel Ärger gesorgt hatte. König Wilhelm weigerte sich hartnäckig, den Titel anzunehmen. Die Situation eskalierte am Abend vor der Proklamation. In einem stickigen, überhitzten Raum diskutierte Wilhelm die Titelfrage mit Bismarck, dem Minister des königlichen Haushalts und dem Kronprinzen mehr als drei Stunden lang. „Nur ein Scheinkaisertum übernähme er, nichts weiter als eine andere Bezeichnung für ‚Präsident‘“, klagte Wilhelm laut den Tagebucheinträgen seines Sohnes. „Er müßte sich mit einem Major vergleichen, dem der Charakter als ‚Oberstleutnant‘ verliehen worden sei.“ Bismarck aber blieb hart und bestand darauf, dass Wilhelm auf keinen Fall am nächsten Morgen zum „Kaiser von Deutschland“ ausgerufen werden könne. Denn diese Formel hätte suggeriert, dass Wilhelm der neue territoriale Herrscher über ganz Deutschland gewesen wäre. Diese Stellung gab die Verfassung dem Kaiser aber nicht. Die Südstaaten hätten die Einrichtung eines solchen Amtes in den Einigungsverhandlungen nie akzeptiert.

Abb. 1.18: „Comment Bismarck comprend l’unité allemande“, Le Charivari (26. Dezember 1870), Honoré Daumier

Zu später Stunde war Wilhelm von dieser Argumentation so frustriert, dass er schließlich aufgab. Er verfluchte Bismarck, beweinte den Untergang des alten Preußens und ging dann einfach zu Bett, ohne dass die Frage gelöst worden wäre. Während der Proklamationsfeier am nächsten Morgen zeigte sich der Großherzog von Baden umsichtig. Als Ranghöchster unter den anwesenden Fürsten fiel ihm die Aufgabe zu, den neuen Kaiser auszurufen. Dabei vermied er, die Titelfrage noch einmal aufkommen zu lassen. Als er die anwesenden Hoheiten und Militärs dazu aufforderte, dem neuen Kaiser zu huldigen, brachte er einfach ein Hoch auf „unseren Kaiser Wilhelm“ aus.75

Die Schaffung des Kaisertums war also ein äußerst problematischer Vorgang, der die Frage nach der Geltungskraft des monarchischen Prinzips eher umging als sie zu beantworten. Als Legitimationsquelle für die neue Bundesstaatsordnung eignete er sich daher genauso wenig wie die opportunistische Zustimmung des Reichstages. In gewisser Weise richtete die Proklamation des Kaisers in dieser Hinsicht mehr Schaden als Nutzen an. Indem die Verhandlungen zwischen Nord und Süd das Amt eines Kaisers installierten, diesem aber nicht die Stellung eines Monarchen gaben, verwässerten sie das ohnehin durch die preußischen Annexionen schwer ramponierte monarchische Prinzip noch weiter. Unter diesen Vorzeichen legitimierte der Fortbestand des Monarchismus die neue föderale Ordnung höchstens oberflächlich.

Dazu kam noch ein weiteres Problem. Der kleindeutsche Bundesstaat konnte sich auch auf keine große historische Tradition berufen. Wilhelm beschwor in seiner kurzen Rede während der Zeremonie in Versailles zwar die „Wiederherstellung des Deutsches Reiches“, und die offizielle Proklamationsurkunde sprach davon, „mit der Herstellung des Deutschen Reiches die seit mehr denn sechzig Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern“. Es war aber offensichtlich, dass die politischen und militärischen Vorgänge zur Gründung des Reiches mit der Tradition eines großdeutschen Staatenbundes brachen, die Deutschland seit dem Mittelalter geprägt hatte.76

Nur wenige Tage nachdem der preußische Sieg bei Königgrätz das Ausscheiden Österreichs aus Deutschland besiegelt hatte, führte Cham diesen Bruch den Lesern von Le Charivari deutlich vor Augen. Er verglich die Situation in Deutschland mit der Konfrontation zwischen einer edlen Dame und einem Hausmeister, der bei einer Säuberungsaktion wertvolles Porzellan zerbrochen hat (Abb. 1.19). Wütend fragt sie ihn: „Du Dummkopf, hast du diesen Teller in tausend Teile zerschlagen?“ Keck erwidert er: „Gnädige Frau, das ist Politik! Ich wollte nur sehen, wie es zurzeit um den Deutschen Bund steht.“ Preußen, so die Aussage der Szene, habe Deutschland einer Säuberung unterzogen und dabei das Porzellan der staatenbündischen Tradition Deutschlands auf dem harten Boden der Geschichte zerschmettert. Österreich, die noble Herrin des deutschen Hauses und Hüterin dieser Tradition, sei zwar schockiert, könne aber nichts mehr tun, außer den Schaden zu betrachten. Die Wahl dieser Metapher ist interessant, weil sie zeigt, wie radikal der Bruch mit der Vergangenheit von Zeitgenossen empfunden wurde. Das Geschirr sieht so gründlich zerstört aus, dass es unmöglich scheint, es jemals wieder zusammenzusetzen.

Es gab nur sehr wenige Intellektuelle und Personen des öffentlichen Lebens, die versuchten, das neue Reich in eine historische Tradition einzubinden. Die meisten äußerten ihre Ideen nicht während, sondern erst einige Jahre nach der Reichsgründung. Das lag vermutlich daran, dass das Legitimationsdefizit der neuen Ordnung mit dem langsamen Verblassen der Euphorie über die militärischen Siege und die Staatsgründung immer deutlicher zutage trat. Gewöhnlich konzentrierten sich solche Versuche darauf, das Amt des Kaisers in eine historische Linie mit dem Kaisertum des Heiligen Römischen Reiches zu stellen. So versuchte der konservative preußische Historiker Albert von Ruville, ein überzeugter Konvertit zum Katholizismus, über diesen Ansatz den „Beweis für den staatsrechtlichen Zusammenhang zwischen altem und neuem Reich“ zu erbringen. Letzteres, argumentierte er, sei wegen eben dieser Verbindung kein Bundesstaat, sondern ein „monarchischer Einheitsstaat“.77

Die wichtigste Persönlichkeit unter diesen Außenseitern war der preußische Kronprinz Friedrich, ein Romantiker mit viel Sinn für das Mittelalter. Als sich der Gesundheitszustand seines Vaters Mitte der 1880er-Jahre verschlechterte, schlug er vor, bei seiner Thronbesteigung den Namen Kaiser Friedrich IV. statt Friedrich III. anzunehmen. Damit wolle er deutlich machen, dass er nicht in der Nachfolge des preußischen Königs Friedrichs II., des Großen, stehe, sondern in der des Heiligen Römischen Kaisers Friedrichs III., der im 15. Jahrhundert über das Reich geherrscht hatte. Schon während der Einigungsverhandlungen in Versailles war der Kronprinz jedoch der einzige wichtige politische Entscheidungsträger gewesen, der das neue Reich in die Nachfolge des alten hatte stellen wollen. Alle anderen Staatsmänner fanden diesen Gedanken entweder amüsant oder einfach nur befremdlich. So verwarf Bismarck Friedrichs Namenspläne mit dem Hinweis, dass niemand auch nur die „entfernteste Verbindung“ zum Heiligen Römischen Reich sehe.78

Die große Mehrheit der Politiker, aber auch der Bevölkerung zeigte überhaupt kein Interesse für irgendwelche historischen Kontinuitäten. Das Thema wurde gar nicht diskutiert. Die Unterschiede waren einfach zu groß, als dass ein überzeugender geschichtlicher Zusammenhang hätte konstruiert werden können. Das neue Reich schloss Deutschland staatlich enger zusammen und machte es zu einer europäischen Großmacht. Das alte Reich war hingegen ein loser Staatenbund, dessen schwache Strukturen es über Jahrhunderte anfällig für innere Streitigkeiten und Interventionen von außen gemacht hatten. Der liberale Abgeordnete Carl von Saenger machte diesen Kontrast deutlich, als der Reichstag im Dezember 1870 die Einigungsverträge debattierte. „Dies neue deutsche Reich“, unterstrich er, „es ist gewiß nicht die Nachahmung des alten ehemaligen heiligen römischen Reiches – das war ein trübseliges Konglomerat widerstrebender Kräfte“.79

Abb. 1.19: „Imbécile“, Le Charivari (9. Juli 1866), Cham

Die Geschichte war also genauso wie der Monarchismus und der Parlamentarismus keine kraftvolle Legitimationsquelle für den entstehenden kleindeutschen Bundesstaat. Sie alle kratzten mehr an seinem Image, als dass sie es polierten. Keiner dieser Faktoren stellte einen überzeugenden Grund dafür dar, dass der Nationalstaat die Form eines föderalen Bundesstaates annahm und nicht zum Beispiel einer unitarischen Erweiterung Preußens oder einer losen Konföderation aus preußischen Satellitenstaaten. Der neu geschaffene Bundesstaat hatte somit ein Legitimationsproblem. Es gab nur zwei Merkmale des Einigungsprozesses, die die Gründung eines kleindeutschen Föderalstaates zumindest teilweise rechtfertigten: Krieg und politischer Pragmatismus. Sprudelnde Legitimationsquellen für eine Staatsordnung von so großer Komplexität waren sie aber beide nicht, wie wir nun sehen werden.

Bismarcks ewiger Bund

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