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Kapitel 1: Szenen einer Geburt

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Versailles, 21. Januar 1871

Mein Liebling,

ich habe Dir schrecklich lange nicht geschrieben, verzeihe, aber diese Kaisergeburt war eine schwere, und Könige haben in solchen Zeiten ihre wunderlichsten Gelüste, wie Frauen, bevor sie der Welt geben, was sie doch nicht behalten können. Ich hatte als Accoucheur mehrmals das dringende Bedürfnis, eine Bombe zu sein und zu platzen, daß der ganze Bau in Trümmern gegangen wäre.1

Als Johanna von Bismarck diese Zeilen ihres geliebten Gatten las, hielt sie vermutlich für eine Weile verwundert inne. Warum in aller Welt war ihr Ehemann so verstimmt? Eigentlich sollte er diesen Moment doch genießen. Das ganze Reich feierte die Proklamation des Kaisers in Versailles als seinen politischen Sieg. Dieser triumphale Abschluss der vielen, oft umstrittenen Anstrengungen, die er in den letzten Jahren unternommen hatte, machte ihn zum umjubelten „Reichsgründer“. Sein Brief aber war getränkt von Verzweiflung und Wut. Er offenbarte Johanna eine Innenwelt, die mit Glanz und Gloria nichts zu tun hatte. Während der langwierigen Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten in Versailles, ja sogar am Tag der Proklamation selbst litt Bismarck unter Gallenschmerzen und verfiel in tiefe Depressionen. Euphorisch war er überhaupt nicht. Er ließ das schlecht zusammengeschusterte Zeremoniell einfach über sich ergehen und war froh, als es endlich vorbei war.2

Warum quälte Bismarck die Reichsgründung so sehr, dass er alle Beteiligten und mit ihnen sein Werk am liebsten in die Luft jagen wollte? Ein Accoucheur, ein Geburtshelfer also, der wie eine Bombe explodiert, würde ja unweigerlich auch das Kind töten, dem er unter großen Mühen auf die Welt geholfen hat. Woher kamen derart zerstörerische Gedanken? Waren sie nur Ausdruck eines cholerischen Temperaments oder hatten sie ihren Ursprung in echten Problemen, die Deutschlands Vereinigung zu einer wahren Qual machten?

Die Reichsgründung war ein dichtes Labyrinth aus unterschiedlichen Optionen, ausgeklügelten Plänen, riskanten Entscheidungen, unglaublichen Zufällen, und improvisierten Lösungen. Wie haben sich diese verschlungenen Pfade auf die föderale Ordnung ausgewirkt, die 1871 geschaffen wurde, um dem neuen Nationalstaat einen strukturellen Rahmen zu geben? Man kann die geschichtliche Bedeutung dieser Frage gar nicht hoch genug einschätzen. Die Gründung des Deutschen Reiches pflügte die politische Landschaft Europas gründlich um. Überall erkannten Beobachter die Tragweite des Moments. „Die deutsche Revolution“, erklärte der britische Oppositionsführer Benjamin Disraeli im Februar 1871 vor dem Unterhaus, sei „ein größeres politisches Ereignis als die französische Revolution des letzten Jahrhunderts“. Der amerikanische Präsident und ehemalige Bürgerkriegsgeneral Ulysses Grant betonte 1871, dass es die USA nun, da es auch in Deutschland einen föderalen Bundesstaat gab, mit einer neuen, günstigeren Lage jenseits des Atlantiks zu tun habe: „Die Errichtung eines amerikanischen Bundessystems in Europa […] kann gar nicht anders als demokratische Institutionen zu fördern und den friedlichen Einfluss amerikanischer Ideale zu verbreiten.“3

Innerhalb Deutschlands wurde die Reichsgründung ebenfalls als epochale Zäsur wahrgenommen. Dabei verknüpften viele Beobachter ihr persönliches Schicksal mit dem der Nation. So schrieb der preußische Geschichtswissenschaftler Heinrich von Sybel, der für die Nationalliberalen im Reichstag saß, an seinen Historikerfreund und politischen Weggefährten Hermann Baumgarten nur wenige Tage nach der Kaiserproklamation: „Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben? Was zwanzig Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt! Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?“ Sybels Euphorie war typisch für liberale Kreise. Die Liberalen litten immer noch unter dem Trauma von 1848, als die bürgerliche Revolution und mit ihr der Versuch, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen, grandios gescheitert waren. Nun feierten sie die Gründung des Reiches geradezu als Erlösung. Zwischen dem Fiasko des Frankfurter Paulskirchenparlamentes und dem Erfolg von Bismarcks Einigungspolitik schienen Welten zu liegen.4

Überall spürten die Menschen also, dass sie Zeugen einer Veränderung von historischen Ausmaßen waren. Dieses Bewusstsein bildete den Nährboden für ein außergewöhnliches Phänomen: Historiker begannen, die Geschichte der Reichsgründung zu erzählen, während der Vereinigungsprozess noch im Gang war. In der öffentlichen Debatte über die Einigungskriege und die zukünftige Organisation Deutschlands gehörten Historiker zu den wichtigsten Kommentatoren. Unter ihnen waren viele Nationalliberale, die seit Jahrzehnten für einen deutschen Nationalstaat gekämpft hatten. Besonders aktiv war Heinrich von Treitschke. Seine Schriften richteten sich an ein breites Publikum und behandelten alle möglichen Probleme, die im Rahmen der Neugestaltung Deutschlands auftauchten: von der Reform des Deutschen Bundes über die Rolle der Mittelstaaten bis hin zur Annexion von Elsass-Lothringen. Diese Veröffentlichungen machten ihn zum einflussreichsten deutschsprachigen Historiker der Reichsgründungszeit. Gemeinsam mit Heinrich von Sybel, Johann Gustav Droysen und anderen Vertretern der borussischen Geschichtsschreibung propagierte er ein ganz bestimmtes Bild der Reichsgründung. Die Auflösung der „Märchenwelt des Partikularismus“ und die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates, so die Borussen, sei die Erfüllung von Preußens historischer Mission, ja der göttlich vorherbestimmte, vorläufige Höhepunkt der deutschen Geschichte.5

Als die Monarchie 1918 zusammenbrach, ging diese teleologische Sichtweise gemeinsam mit den Hohenzollern unter. An die Stelle des preußischen Fixsterns trat ein vielschichtiges Trauma, sich speisend aus den Erfahrungen des kräftezehrenden Krieges, der Scham über die militärische Niederlage, dem Wegfall aller gewachsenen Strukturen und der Empörung über den „Schandfrieden“ von Versailles. Die Geschichtsschreiber der Nation mussten den Gründungsmythos von 1871 neu verorten. Angesichts der Revolution konnte die Bismarcksche Reichsgründung nicht länger der natürliche Ausgang der deutschen Geschichte sein. Andernfalls wäre das Reich nicht zusammengebrochen. Über allem stand nach dem Untergang der „geprägten Form“, wie der Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch in seinen Beobachtungen aus dem revolutionären Berlin resümierte, eine Frage: „Was aber dann?“6

Von dieser Unsicherheit getrieben flüchteten viele Historiker in kontrafaktische Überlegungen. War die Gründung eines kleindeutschen Reiches die einzige Möglichkeit zur Vereinigung Deutschlands gewesen? Hatte Österreich wirklich aus dem Nationalstaat ausgeschlossen werden müssen? Mit solchen Fragen machten vor allem österreichische Historiker wie Raimund Kaindl die Idee einer großdeutschen Alternative wieder salonfähig. Im Laufe der 1920er- und frühen 1930er-Jahre entfaltete diese Vorstellung immer mehr Wirkungskraft. Nationalistisch gesinnte Historiker, allen voran Heinrich von Srbik, instrumentalisierten sie ganz offen, um einen Anschluss Österreichs an das Reich zu propagieren. In der Nazizeit gingen regimetreue Historiker noch einen Schritt weiter. Typisch war die Argumentation einer Rezension, die 1936 in der Historischen Zeitschrift, dem wichtigsten Fachjournal der deutschen Geschichtswissenschaft, erschien. Der Erste Weltkrieg habe als der „dritte und größte der deutschen Einigungskriege […] die völkischen Kräfte geweckt und frei gemacht […] für einen wirklichen deutschen Staatsbau, die unvergänglichen preußischen Werte nach dem Zusammenbruch der preußischen Hegemonialstellung zu deutschen Werten erweitert und die Hindernisse beseitigt für die Wiederherstellung des großdeutschen Reiches“.7

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste sich die Debatte über die Reichsgründung wiederum neu erfinden. Die Besatzung und Teilung Deutschlands rückten Fragen nach dem territorialen Umfang des ehemaligen Reiches in den Hintergrund. Ost und West entwickelten ihre eigenen Sichtweisen auf die Reichsgründung. In der DDR waren marxistische Historiker vor allem damit beschäftigt, die Reichsgründung als Moment des Fortschritts oder der Reaktion zu verorten. Eine klare Antwort fanden sie nicht. Das galt selbst für Ernst Engelberg in seiner berühmten Bismarck-Biografie.8

Westdeutsche Historiker versuchten indes, die verschiedenen Handlungsspielräume in der Reichsgründung zu bestimmen. Dadurch erweiterten sie das historiografische Blickfeld. Neben Bismarck und Preußen wurden langsam auch die nationale Volksbewegung, die Mittel- und Kleinstaaten und die anderen europäischen Länder als wichtige Akteure wahrgenommen. Studien wie Otto Beckers Monumentalwerk Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung zeigten dabei, dass die Reichsgründung das Ergebnis einer großen Bandbreite von individuellen Entscheidungen gewesen war, bei denen die jeweiligen Protagonisten ganz unterschiedliche, oft widersprüchliche Vorstellungen über die Zukunft Deutschlands hatten.9

In den 1970er-Jahren verschob der Aufstieg der Sozialgeschichte den Fokus der Diskussion. Die Bielefelder Schule um Hans-Ulrich Wehler rückte soziale und wirtschaftliche Fragen in den Mittelpunkt. Das veränderte das Bild der Reichsgründung fundamental. Sie war nicht länger nur eine Geschichte von „Blut und Eisen“, sondern auch von „Dampf und Kohle“. Große Prozesse und politische Strömungen – die Industrielle Revolution, die Entwicklung der Infrastruktur, der Nationalismus, und der Liberalismus – wurden immer wichtiger.10

Seit den 1980er-Jahren hat die kulturelle Wende der Geschichtsschreibung Historiker immer mehr dazu bewogen, die Reichsgründung jenseits der traditionellen Kriterien des Nationalstaates zu betrachten. Dabei sind eine Vielzahl von lokalen und regionalen Zugehörigkeitsgefühlen herausgearbeitet worden, die neben der wachsenden nationalen Identität weiter existierten. Vor allem britische Historiker wie Abigail Green oder Jasper Heinzen haben in den letzten beiden Jahrzehnten gezeigt, dass die Spannungen zwischen diesen verschiedenen Loyalitäten eine wichtige Rolle in den Versuchen der Einzelstaaten spielten, vor, während und nach der Reichsgründung ihre Selbstständigkeit zu behaupten. In diesem Zusammenhang wurden die lange vernachlässigten Mittel- und Kleinstaaten genau kartographiert.11

Unsere Landkarte des Kaiserreiches ist dank solcher Studien bunter geworden. Dadurch haben wir die Möglichkeit, sie ganz anders als vorherige Generationen zu lesen und die Reichsgründung neu zu entdecken. Bisher haben sich Historiker wenig bis gar nicht dafür interessiert, dass die Vereinigung ein föderaler Prozess war, der einen föderalen Staat errichtete. Dafür gibt es zwei große Gründe. Zum einen drehte sich die Diskussion hauptsächlich um solche Fragen, die die Nation als Ganzes und nicht die einzelnen Staaten betrafen. Dieser Schwerpunkt erscheint nur natürlich für eine Debatte über die Gründung eines Nationalstaates. Es steckte allerdings mehr dahinter. Vor dem Hintergrund der territorialen Expansion, Verkleinerung und Teilung, die Deutschland im 20. Jahrhundert durchmachte, wurde die Reichsgründung oft aus einer bewusst nationalen Perspektive heraus interpretiert, um so zu politischen Debatten über die Grenzen und Identität Deutschlands beizutragen. Die borussischen Historiker benutzten die Reichsgründung, um die Hohenzollernmonarchie zu legitimieren. Historiker der Zwischenkriegszeit stützten entweder die nationalsozialistische Ideologie, indem sie das Dritte Reich als den Nachfolger des Kaiserreiches hinstellten, oder sie stemmten sich dagegen, indem sie das Hitler-Regime als das genaue Gegenteil des Bismarckschen Reiches beschrieben. Nachkriegshistoriker stritten über den Charakter der Reichsgründung im Licht der politischen Situation des Kalten Krieges und der Teilung Deutschlands. Angesichts dieser Entwicklung ist die Geschichte der Reichsgründung, wie der deutsche Historiker Ewald Frie 2004 feststellte, „ein Jahrhundert lang vermintes Terrain gewesen“. Einer der großen Nachteile der nationalen Sichtweise, die dieses Minenfeld schon so lange prägt, ist das Problem, dass sie automatisch die gesamtdeutschen Merkmale des Einigungsprozesses in den Vordergrund rückt, während sie die Rolle der einzelnen Staaten und den Verbundscharakter des neu geschaffenen Reiches in den Hintergrund drängt.12

Der strikt chronologische Ansatz der meisten Studien ist der zweite Grund dafür, warum Historiker die föderale Dimension der Reichsgründung so lange vernachlässigt haben. Das Kaiserreich wurde durch eine Reihe imposanter, teils dramatischer Ereignisse gegründet, die allesamt auf nationaler Bühne stattfanden. Die drei Einigungskriege, die Ausarbeitung und Annahme der Reichsverfassung und die Proklamation des Kaisers waren die wichtigsten. Versteht man diese Ereignisse nur als aufeinanderfolgende Schritte im Gründungsprozess eines Nationalstaates, übersieht man leicht, dass jedes für sich genommen einen ganz bestimmten Aspekt eines föderalen Problems betraf, das nur durch föderale Mittel gelöst werden konnte: die Umwandlung der losen Strukturen des alten Deutschen Bundes in eine neue, sehr viel engere Staatenunion.13

Wie können wir diesen Prozess der Föderalisierung verstehen? Und wie können wir die Merkmale identifizieren, die er dem Bundesstaat, den er schmiedete, einbrannte? Die Antwort darauf ist nicht einfach. Wir müssen unseren Blickwinkel gleich in dreierlei Hinsicht anpassen. Erstens müssen wir die Reichsgründung aus der Perspektive der deutschen Einzelstaaten betrachten statt aus der des Nationalstaates, den sie schließlich formten. Zweitens dürfen wir uns nicht primär auf die Abfolge der Ereignisse konzentrieren. Stattdessen müssen wir vor allem die unterschwellig ablaufenden Veränderungen in den Blick nehmen, die sich wie ein roter Faden durch die ganze Phase der Reichsgründung zogen und alle wichtigen Ereignisse miteinander verknüpften. Drittens müssen wir der historischen Situation ihre Offenheit zurückgeben. Der Prozess, den wir heute als Reichsgründung bezeichnen, hätte zu jeder Zeit eine ganz andere Richtung nehmen können. Als logische Abfolge von Schlüsselereignissen erscheint er nur im Nachhinein. Für die Menschen, die die Reichsgründung erlebten, war sein Ausgang ungewiss. Denn der Kampf um die Neuorganisation Deutschlands fand in einem öffentlichen Raum statt, der prall gefüllt war mit verschiedenen Ideen, sich ständig veränderte und genauso unberechenbar war wie die Ereignisse selbst. Wir müssen die staatliche Umgestaltung der deutschen Verhältnisse deshalb als eine dynamische Verwandlung begreifen, die sich durch kollektive, miteinander konkurrierende Ideen vollzog, die ständig im Fluss waren und zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen hätten führen können.

Mit diesem Ansatz verlassen wir die festgetretenen Pfade der Borussen. Nach einer nun 150 Jahre andauernden Debatte über die Reichsgründung hören wir endlich auf, die Geschichte rückwärts zu lesen. Dadurch können wir viele herkömmliche Anschauungen über die Vereinigung revidieren und jene föderalen Strukturen ausfindig machen, die sie gleich einem Geburtsvorgang hervorbrachte. Fünf Geburtsmale sind besonders wichtig: ein Mangel an Koordination zwischen den verschiedenen Mitgliedsstaaten und Regierungsebenen; eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen preußischer und nationaler Exekutive; eine konfliktträchtige Ungleichstellung zwischen den Einzelstaaten; ein vorübergehender Kompromiss zwischen den Verteidigern monarchischer Souveränität und den Befürwortern eines parlamentarischen Regierungssystems; und eine unzulängliche Legitimitätsgrundlage des neuen Bundesstaates. Kurz gesagt: Statt dem Nationalstaat einen stabilen strukturellen Rahmen zu geben, erzeugte die Reichsgründung eine fragile und widersprüchliche Regierungsordnung, die Streit und Machtkämpfe anstelle von Kompromissen und Verfassungstreue förderte.

Um diese Einsicht zu gewinnen, muss man die Reichsgründung mit den Augen der Zeitgenossen sehen. Ein Weg dazu ist die Analyse von Karikaturen, die in verschiedenen satirischen Zeitschriften in den 1860er- und 1870er-Jahren erschienen. Diese spöttischen Bilddarstellungen gewähren aufschlussreiche Einblicke in die Stimmungslage der politischen Landschaft, weil sie den Widerstreit miteinander konkurrierender Ideen über eine mögliche Vereinigung der deutschen Staaten aufnahmen, künstlerisch verarbeiteten und befeuerten. In Zeiten großer historischer Veränderungen haben Karikaturen immer eine besondere Bedeutung. Durch ihren Einfluss auf den öffentlichen Diskurs spielten sie eine wichtige Rolle in allen modernen Revolutionen. Genau deswegen versuchten wackelnde Regierungen regelmäßig, die Verbreitung von satirischen Veröffentlichungen durch Pressegesetze und eine strikte Zensur zu beschränken. Wie der Royalist und Verleger Boyer de Nîmes drei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille in seiner Histoire des caricatures de la révolte des Français feststellte, sind Karikaturen „das Thermometer, das anzeigt, welches der Hitzegrad der öffentlichen Meinung ist“.14

Wie populär und einflussreich Karikaturen zu Zeiten der Reichsgründung waren, belegt ihre weite Verbreitung. Ähnlich wie im Viktorianischen England und in Frankreich gab es auch in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen großen Anstieg hochwertiger satirischer Bilddarstellungen. Das beliebteste deutsche Satiremagazin, der Kladderadatsch, erschien jede Woche und steigerte seine Verkaufszahlen zwischen 1858 und 1873 von 22 000 auf 50 000 Exemplare. Die größte deutsche Tageszeitung, das Berliner Tageblatt, hatte dagegen 1873 eine Auflage von nur 37 000 Stück. Im Kladderadatsch fanden sich häufig literarische, philosophische und historische Anspielungen sowie Zitate im lateinischen, griechischen, englischen oder französischen Original. Das Gros seiner Leser kam dementsprechend aus dem liberalen Bildungsbürgertum. Aber auch viele konservative Politiker und sogar einige Fürsten lasen das Blatt regelmäßig, sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Eine der treffendsten Beschreibungen für den Status, den das Magazin mit der Zeit gewann, stammt von Thomas Mann, der 1905 die Enkelin eines Mitbegründers der Zeitschrift heiratete. Laut dem großen Romancier war der Kladderadatsch „jahrzehntelang ein fester Bestandteil des politisch-literarischen Inventars des deutschen Bildungsbürgertums“.15

Als fest etablierte Printmedien folgten Satirezeitschriften oft den größeren Trends, denen die öffentliche Meinung im Jahrzehnt der Reichsgründung unterlag. Der Kladderadatsch änderte zum Beispiel wie die meisten Liberalen seine Sicht auf Bismarck. Stellte ihn das Magazin anfänglich als einen Reaktionär dar, der die preußische Verfassung mit Füßen getreten habe, porträtierte es ihn nach dem militärischen Sieg Preußens über Österreich als einen Respekt gebietenden, wenn auch immer noch umstrittenen Staatsmann, der die Fähigkeiten besitze, die Zersplitterung der deutschen Nation zu überwinden. Auf ähnliche Weise stimmten französische Satiremagazine nach dem Sturz Napoleons III. und dem Ende der Zensur in den Chor ein, der die Bonaparte-Dynastie öffentlich an den Pranger stellte. Unmittelbar nach der Niederlage bei Sedan begannen sie zu fordern, den gefangen genommenen Kaiser zusammen mit Bismarck und König Wilhelm von Preußen, den „schrecklichen Deutschen“, aufs Schafott zu bringen.16

Der humoristische Blick, mit dem Satiremagazine auf den Einigungsprozess schauten, entlarvt viele versteckte Probleme und Motivationen der Reichsgründung. Das gibt den Spottbildern eine ganz besondere Bedeutung. Kein anderes Format war so dafür geeignet, die Geschehnisse rund um die Vereinigung zu kommentieren. Karikaturisten haben ein ganz besonderes Gespür für eigenwillige Strukturen, komische Proportionen und die manchmal fast dramatische Ironie, die sich auftut, wenn Anspruch und Wirklichkeit in der Politik auseinanderklaffen. Diese gattungsspezifische Eigenschaft gab den damaligen Bildsatirikern genau die richtigen Werkzeuge an die Hand, um die turbulenten und komplizierten Vorgänge der Reichsgründung einzufangen und das Wesentliche hinter all dem Gerede, Zeremoniell, und Streit zu enthüllen. Die überlebensgroßen Persönlichkeiten, die bitteren Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Verhandlungsparteien, die seltsamen Improvisationen und die vielen Notlösungen boten ihnen ideale Munition. Schließlich ähnelte das Ergebnis des Vereinigungsprozesses, wie der amerikanische Soziologe Barrington Moore 1966 treffend zusammenfasste, „zeitgenössischen viktorianischen Häusern mit modernen Elektroküchen, aber unzureichend ausgestatteten Badezimmern mit tropfenden Wasserrohren, die hinter neu verputzten Wänden dekorativ versteckt waren“.17

Um die wichtigsten Perspektiven gegeneinander abzuwägen, untersucht dieses Kapitel Karikaturen aus mehreren verschiedenen Satiremagazinen. Der Kladderadatsch, gegründet 1848 von einer Gruppe Intellektueller um den jüdischen Schriftsteller und Humoristen David Kalisch, stand den Nationalliberalen nahe und unterstützte nach 1866 weitgehend Bismarcks Reichsgründungspolitik. Politisch war das Journal gemäßigt progressiv, gelegentlich sogar konservativ. Von den vielen Satirezeitschriften, die in Berlin während der 1848er-Revolution wie Pilze aus dem Boden schossen, war es das einzige sogenannte „Witzblatt“, das die strikte Zensur der Gegenrevolution überlebte. Bis in die 1880er-Jahre hinein beschäftigte das Heft nur einen Karikaturisten: Wilhelm Scholz, einen Berliner Illustrator, der eigentlich Porträtmaler hatte werden wollen, bevor finanzielle Schwierigkeiten ihn gezwungen hatten, die Kunstakademie zu verlassen. Der Wechsel zum Kladderadatsch sollte sich für ihn auszahlen. Seine Karikaturen waren so beliebt, dass sie regelmäßig in anderen Magazinen oder Sammelbänden nachgedruckt wurden. Einige zierten sogar als großformatige Poster die Litfaßsäulen in Berlin.18

Im Gegensatz zum Kladderadatsch kritisierten süddeutsche und österreichische Satiremagazine die preußische Hegemonie während und nach der Reichsgründung scharf. Der Münchener Punsch, der 1848 nach Vorbild des berühmten Londoner Punch gegründet wurde, stand unter der Leitung eines ausgesprochenen Bismarck-Gegners, Martin Eduard von Schleich. Unter dem Pseudonym M. E. Bertram verurteilte Schleich die preußische Vereinigungspolitik und verteidigte die seiner Meinung nach viel progressivere bayerische Verfassungsordnung. Fast noch kritischer war Johann Baptist Sigl, der Herausgeber der Münchener Zeitschrift Die Bremse, die er ein Jahr nach Gründung des Reiches ins Leben rief. Er brandmarkte die Reichsgründung ganz offen als das Ende bayerischer Souveränität und Freiheit. Sowohl der Münchener Punsch als auch Die Bremse waren kleine Publikationen, in denen fast alle Artikel von den jeweiligen Herausgebern geschrieben wurden. Sie umfassten jedoch eine relativ große Anzahl an Karikaturen, die sich in künstlerischem Stil und intellektuellem Anspruch stark unterschieden und daher vermutlich von verschiedenen Illustratoren gezeichnet wurden. Leider ist deren Identität in den meisten Fällen unbekannt.19

Der österreichische Kikeriki war eine größere Satirezeitschrift und hatte eine viel breitere Basis an Autoren. Allerdings wurden auch hier viele Karikaturen anonym veröffentlicht. Gegründet wurde das Blatt 1861 vom Wiener Journalisten und Theaterdichter Ottokar Franz Ebersberg, besser bekannt unter seinem Pseudonym O. F. Berg. Bis zu seinem Tod 1886 war das wöchentlich erscheinende Heft liberal und demokratisch ausgerichtet. Es kommentierte die sozialen Verhältnisse oft vom Standpunkt des kleinen Mannes und kritisierte die Reichsgründung als eine gewaltsame Unterjochung Deutschlands durch den preußischen Obrigkeitsstaat.20

Das französische Journal Le Charivari verfolgte die Reichsgründung aus der Perspektive der wichtigsten internationalen Großmacht, die einer Vereinigung der deutschen Staaten im Wege stand. Charles Philipon, der Herausgeber der antimonarchistischen Satirezeitung La Caricature, gründete das Blatt 1832 mit dem Ziel, eine breitere Leserschaft zu erreichen. Damit war er überaus erfolgreich. Obwohl Le Charivari nur vier Seiten umfasste und seine Auflage nie 3000 Exemplare überschritt, wurde er schnell zu einer der wichtigsten Tageszeitungen Frankreichs. Auch in Deutschland las man das Blatt. Diese Popularität lag vor allem an seiner gefeierten Seite Drei, die jeden Tag eine neue kunstvolle Lithographie zeigte. Diese Kunstwerke wurden oft in anderen französischen und europäischen Zeitungen sowie farbig gedruckten Sammelbänden reproduziert. Dadurch erreichten sie viel mehr Leser als das Journal selbst. Die strenge französische Zensur schränkte Le Charivari in der Kommentierung politischer Verhältnisse allerdings lange Zeit stark ein. Zwischen 1835 und 1848 konnte das Magazin nur Karikaturen zum Alltagsleben veröffentlichen. Nach dem kurzen Hauch der Freiheit während der 1848er-Revolution machte es Louis Napoleons Staatstreich 1851 wieder unmöglich, Karikaturen zur Innenpolitik abzudrucken. Stattdessen wandte sich die Zeitschrift europäischen Angelegenheiten zu. Dabei versuchten die Autoren und Karikaturisten häufig, durch subtile Vergleiche auf innerfranzösische Verhältnisse anzuspielen. In den 1860er-Jahren wurde die deutsche Frage ein zentrales Thema. Die meisten Karikaturen dazu wurden von zwei der berühmtesten Künstler des französischen Realismus gezeichnet, Honoré Daumier und Amédée de Noé, der das Pseudonym Cham benutzte. Daumier veröffentlichte in Le Charivari mehr als 3900 Lithographien von herausragender künstlerischer Qualität. Der zeitgenössische französische Dichter Charles Baudelaire adelte ihn als „einen der wichtigsten Männer nicht nur […] der Karikatur, sondern der modernen Kunst“. Cham wurde nicht weniger gefeiert. Viele der Zeichnungen, die er in seiner 36-jährigen Beschäftigung bei Le Charivari anfertigte, erschienen in aufwendigen Sammelalben, die wahre Bestseller wurden. Wie fast alle anderen Karikaturisten der Zeitung waren Daumier und Cham überzeugte Republikaner, die dem bonapartistischen Regime Napoleons III. äußerst kritisch gegenüberstanden. Sie waren allerdings auch stolze Franzosen, die die deutsche Vereinigung von einem ausgeprägt nationalistischen Standpunkt aus verfolgten.21

Derartige Vorbehalte gilt es zu bedenken, wenn wir die Reichsgründung durch die Linse politischer Karikaturen betrachten. Die verschiedenen Blickwinkel und Ansichten der satirischen Bilder sind aber weniger Bürde als Gewinn für eine solche Analyse. Denn sie bereichern unser Verständnis über die komplexen, oft widersprüchlichen Strömungen der öffentlichen Meinung, die den politischen Raum bildete, in dem der Einigungsprozess diskutiert, geplant und vollzogen wurde. Anders ausgedrückt: Sie machen die größeren Reflexions- und Vorstellungsprozesse sichtbar, die den politischen Entscheidungen der Staatsmänner ihre Bedeutung gaben.22

Bismarcks ewiger Bund

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