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IV. Die Konstitutionelle Drehscheibe

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Im Frühjahr 1869, drei Jahre nach Gründung des Norddeutschen Bundes, war die Vereinigung von Nord- und Süddeutschland kaum vorangekommen. Weder die Regierungen noch die Parlamente verfolgten einen klaren Fahrplan. Wilhelm Scholz verarbeitete diesen von vielen als frustrierend empfundenen Stand der Dinge in einer Karikatur, die den norddeutschen Reichstag, das deutsche Zollparlament und die beiden Kammern des preußischen Parlamentes, das Herrenhaus und das Abgeordnetenhaus (hier als „Landtag“ bezeichnet), als Ringelreiter auf einem Kinderkarussell zeigt (Abb. 1.15). Unter dieser „Constitutionellen Drehscheibe“, wie der Titel das Fahrgeschäft nennt, kommentiert ein kurzer Reim die Situation: „Das Herrenhaus wird alt, der Reichstag wieder jung, doch der Mensch hofft immer auf Besserung.“ In ihrem Versuch, Fortschritte in der deutschen Frage zu machen, schienen sich die verschiedenen Parlamente Deutschlands und Preußens in Scholz’ Augen also im Kreis zu drehen und nirgendwo anzukommen. Zielgerichtet, so seine Kritik, sei ihr Verhalten überhaupt nicht. Was einem blieb, war nur die Hoffnung auf ein Umdenken der Volksvertretungen.

Diese Beschwerde ist interessant, weil sie deutlich macht, dass zeitgenössische Beobachter des politischen Geschehens den deutschen Parlamenten eine wichtige Rolle auf dem Weg zum Nationalstaat beimaßen. Sie verstanden die Volksvertretungen als wirklichen Machtfaktor in der Gründung des Reiches. Historiker haben das oft anders gesehen. Viele Studien haben argumentiert oder sind zumindest stillschweigend davon ausgegangen, dass die monarchischen Regierungen der Einzelstaaten und nicht die parlamentarischen Vertreter des Volkes das Kaiserreich schufen. Besonders Hans-Ulrich Wehler hat diese Sichtweise geprägt, indem er die Ereignisse von 1848 und 1871 als „Doppelrevolution“ beschrieb. Deren erster Teil habe sich „von unten“ entfaltet. Ihr zweiter Teil sei dagegen „von oben“ oktroyiert worden. Als Beweis für diese Interpretation führte er neben anderen Dingen die Tatsache an, dass 1848 mit dem Frankfurter Paulskirchenparlament eine nationale Volksversammlung die Einheit vorantrieb, wohingegen 1870 eine Reihe von Vertragsverhandlungen zwischen den deutschen Regierungen im Mittelpunkt der Ereignisse standen. „Am Eingang zum neuen Staatsgebäude [stand] kein ursprünglicher Emanzipationsakt der politisch mündigen Volksschichten“, so Wehler, „sondern der autoritäre preußische Obrigkeitsstaat expandierte mit blendenden Erfolgen zum Deutschen Reich von 1871.“60

Auch wenn diese Sichtweise ob der erdrückenden Dominanz der preußischen Regierung einiges für sich hat, muss man vorsichtig sein, die Dinge nicht zu verzerren. Zu behaupten, die Reichsgründung sei vollkommen undemokratisch gewesen, wird der Komplexität der Vorgänge nicht gerecht. Das Grundproblem der Wehlerschen und ähnlicher Interpretationen liegt darin, dass sie von einer falschen Annahme ausgehen. Sie blicken auf die Reichsgründung nämlich so, als ob der National- und der Bundesstaat gleichzeitig gegründet worden wären. Staatsgründung und Verfassungsgebung fielen aber, wie wir oben gesehen haben, nicht zusammen.

Abb. 1.15: „Constitutionelle Drehscheibe“, Kladderadatsch (März 1869), Wilhelm Scholz

Wenn wir unseren Blick auf die Verhandlungen der Einigungsverträge im November 1870 beschränken, scheinen die monarchischen Regierungen tatsächlich die einzig relevanten Entscheidungsträger gewesen zu sein. Volksvertreter waren in Versailles die meiste Zeit überhaupt nicht zugelassen. Einer Delegation von Reichstagsabgeordneten wurde erst erlaubt, den preußischen König um Annahme der Kaiserkrone zu ersuchen, nachdem die Gemeinschaft der Fürsten dieses Angebot bereits ausgesprochen und Wilhelm es angenommen hatte. Wenn wir unser Blickfeld aber erweitern und den gesamten Zeitraum zwischen dem Deutschen Krieg vom Sommer 1866 und dem Friedensvertrag mit Frankreich im Frühjahr 1871 betrachten, sehen wir ein ganz anderes Bild. Die gesamtdeutsche Verfassung, so können wir dann erkennen, wurde in jedem wichtigen Schritt des Einigungsprozesses und sowohl auf nationaler als auch auf einzelstaatlicher Ebene mit parlamentarischer Zustimmung ins Leben gerufen. Kurz gesagt: Parlamente spielten eine entscheidende Rolle in der Reichsgründung, weil sie das Ergebnis von 1871 demokratisch absegneten.61

Auf den ersten Blick mag das seltsam erscheinen, weil es keine verfassungsgebende Versammlung im herkömmlichen Sinne gab. Entworfen wurde die Verfassung nicht von einem Parlament, sondern von Bismarck. Wie genau die Verfassung entstanden ist, werden die nächsten beiden Kapitel im Detail nachzeichnen. Hier genügt es, sich kurz die wichtigsten Stationen auf dem Weg zu ihrer Annahme vor Augen zu führen. Bismarck erstellte auf Basis seiner Reformvorschläge für den Deutschen Bund im Herbst 1866 mithilfe seiner Mitarbeiter aus den preußischen Ministerien einen offiziellen Entwurf. Das preußische Kabinett nahm diesen Mitte Dezember ohne große Umschweife an und leitete ihn umgehend an die Regierungen jener norddeutschen Staaten weiter, die Mitglieder des Augustbündnisses waren. Nachdem diese den Entwurf auf einer mehrmonatigen Konferenz verhandelt und angepasst hatten, brachten sie ihn am 4. März 1867 gemeinsam – als Gruppe der „verbündeten Regierungen“ – in ein norddeutsches Parlament ein, das extra für diesen Zweck am 12. Februar nach dem allgemeinen Männerwahlrecht gewählt worden war: den konstituierenden Reichstag. Dieser beriet, überprüfte und änderte den Entwurf. Dabei nahm die liberal-konservative Mehrheit der Abgeordneten nicht nur kleine Nachbesserungen vor, sondern auch größere Korrekturen, die den Charakter von Bismarcks Originalkonzeption teilweise beträchtlich veränderten. So wurde zum Beispiel auf Antrag der Nationalliberalen die Rolle des Kanzlers im föderalen Regierungsgefüge neu definiert. Am 16. April nahm der Reichstag den überarbeiteten Entwurf schließlich an. Die einzelstaatlichen Regierungen bestätigten ihn noch am selben Tag.62

Drei Jahre später spielte der Reichstag keine vergleichbare Rolle. Das lag ganz einfach daran, dass es 1870/71 um einen ganz anderen Vorgang ging. Keine Verfassungsgebung, sondern der Beitritt der Südstaaten zur Verfassungsordnung des Norddeutschen Bundes stand auf dem Programm. Aber selbst in diesen Prozess war das nationale Parlament eingebunden. Mit dem oben bereits erwähnten Gesetz, das die Reichsverfassung enthielt, bekam der Reichstag am 16. April 1871 indirekt auch die Einigungsverträge zur Abstimmung vorgelegt, da diese in die überarbeitete Verfassung eingegangen waren. Durch Annahme des Gesetzes genehmigte der Reichstag also nicht nur die Verfassungsordnung des neuen Nationalstaates, sondern nachträglich auch die Verträge, die diesen geschaffen hatten. Mit anderen Worten: 1870/71 wurden genau wie schon 1867 alle entscheidenden Schritte der Umwandlung Deutschlands in einen Bundesstaat von einer nationalen Volksvertretung gebilligt.

Das gleiche galt für die Parlamente der Mitgliedsstaaten des neuen Bundes. 1867 legten die Regierungen aller norddeutschen Einzelstaaten außer Braunschweig die Verfassung, auf die sie sich mit dem konstituierenden Reichstag geeinigt hatten, ihren jeweiligen Landtagen zur Abstimmung vor. Erst nachdem diese die Verfassung bestätigt hatten, trat sie in den entsprechenden Ländern in Kraft. 1871 wurde jedes der süddeutschen Parlamente gefragt, den Einigungsverträgen zuzustimmen. Ihre Einbeziehung in den Vereinigungsprozess war der Hauptgrund, warum es nach Einigung der Regierungen in Versailles Ende November noch so lang dauerte, bis die Verträge umgesetzt werden konnten. Das bayerische Abgeordnetenhaus erteilte sein Einverständnis erst am 21. Januar, drei Tage nach der Proklamation des Kaisers und ganze drei Wochen nach dem offiziellen Gründungstermin des Reiches.63

Die einzelstaatlichen Volksvertretungen spielten also genau wie der Reichstag eine bedeutende Rolle in der Reichsgründung. Die Parlamente waren zwar nicht die Erzeuger, aber immerhin die Geburtshelfer des gesamtdeutschen Bundesstaates. Sowohl die Verfassungsgebung von 1867 als auch die Staatsgründung von 1871 vollzogen sich auf der Basis parlamentarischer Zustimmung auf Bundes- und Landesebene. Die Reichsgründung war daher mitnichten ein rein undemokratischer Akt des preußischen Obrigkeitsstaates.

Gleichzeitig muss man aber auch festhalten, dass die Einbeziehung der deutschen Parlamente nicht mit der Rolle vergleichbar ist, die das Volk bei der Gründung anderer Nationalstaaten spielte. Das gilt auch für die Bildung der beiden anderen großen Bundesstaaten der Zeit. Die föderalen Verfassungen der Schweiz und der USA hatten ihren Ursprung in einem Ausschuss des Bundesparlamentes beziehungsweise in einem Delegiertenkongress der einzelstaatlichen Volksvertretungen. Außerdem wurden sie entweder durch Volksentscheide oder durch speziell für diesen Zweck gewählte Volksversammlungen angenommen. Vermutlich sind es solche Verfahren, die Historiker vor Augen haben, wenn sie die deutsche Verfassungsgebung als undemokratisch beschreiben. Derartige Vergleiche sind aber problematisch. Die Verfassungen der Schweiz und der USA entstanden in einem republikanischen Umfeld, die deutsche in einem monarchischen. Man muss deshalb die Rolle der deutschen Parlamente vor einem ganz anderen Hintergrund bewerten. Bedenkt man, dass in Deutschland die Fürsten und nicht das Volk als souverän galten, erscheint die Einbindung des Reichstages und der Landtage in die Bildung eines Bundes zwischen eben diesen Souveränen umso bemerkenswerter. Was dadurch entstand, war, wie Ernst Rudolf Huber hervorgehoben hat, eine „vereinbarte Verfassung“ zwischen den monarchischen Regierungen und dem Volk.64

Wie demokratisch das Zustandekommen dieser Vereinbarung war, hing wesentlich von den Handlungsspielräumen der beteiligten Parlamente ab. Wäre es für den Reichstag oder die Landtage überhaupt möglich gewesen, den Verfassungsentwurf oder die Einigungsverträge abzulehnen? Und wenn ja, was wäre dann geschehen? Die einzelstaatlichen Parlamente, so scheint es, hätten ihre Zustimmung kaum verweigern können. 1867 standen sie unter einem enormen politischen Druck, weil sie erst über die Verfassung abstimmen durften, nachdem sich die Regierungen ihrer Länder und der Reichstag bereits auf sie geeinigt hatten. Eine Ablehnung wäre daher ein Schlag ins Gesicht aller monarchischen Entscheidungsträger und nationalen Parlamentsabgeordneten gewesen. Keiner der Landtage der kleinen norddeutschen Fürstentümer oder selbst Sachsens hätte einen solchen Alleingang wagen können, ohne eine Annexion, einen Volksaufstand oder vielleicht sogar beides zu riskieren.

1870/71 lagen die Dinge anders, waren für die einheitsskeptischen Landtage in Bayern und Württemberg aber nicht unbedingt einfacher. Die partikularistischen Parteien im bayerischen Abgeordnetenhaus konnten die Abstimmung über die Einigungsverträge zwar bis Mitte Januar verschieben. Nachdem die anderen süddeutschen Parlamente aber ihr Einverständnis gegeben hatten, wurde die Gefahr der politischen Isolation so groß, dass die Mehrheit der bayerischen Abgeordneten ihren Widerstand aufgab. Nur wenn alle süddeutschen Landtage an einem Strang gezogen und die Verträge geschlossen abgelehnt hätten, wäre die Vereinigung mit dem Norden vielleicht zu verhindern gewesen. Dieses Szenario war aber absolut unrealistisch. In Baden und in Hessen-Darmstadt wollten die Parlamente unbedingt den Beitritt zur Verfassungsordnung des Nordens. Das hatte verschiedene Gründe. In der von Nationalliberalen dominierten badischen Kammer herrschte aufrichtiger Enthusiasmus für die Gründung eines Nationalstaates. Dem Darmstädter Parlament war dagegen vor allem deswegen an einem gesamtdeutschen Bundesstaat gelegen, weil man wieder mit dem nördlichen Teil Hessens, dem ehemaligen Kurfürstentum Hessen-Kassel, von dem man seit dem 16. Jahrhundert getrennt war und das Preußen 1866 annektiert hatte, unter einem Dach vereint sein wollte.

Die Handlungsspielräume des Reichstages waren sehr viel größer. Abgesehen vom Zollparlament, das sich ausschließlich mit Handels- und Gewerbefragen beschäftigte, war der Reichstag die einzige Volksversammlung, die, je nachdem, ob wir von 1867 oder 1871 sprechen, den gesamten deutschen Norden beziehungsweise ganz Deutschland vertrat. Dieses Vertretungsmonopol gab dem Reichstag eine stärkere Position im Prozess der Reichsgründung als jedem Landtag. Andererseits stand der Reichstag umso mehr unter dem Druck, die Erwartungen der gesamtdeutschen Öffentlichkeit zu erfüllen. Nach den Siegen Preußens gegen Österreich und besonders gegen Frankreich herrschte landauf, landab große Begeisterung für die Gründung eines Nationalstaates. Diese Erwartungshaltung machte es für den Reichstag schwer bis unmöglich, Bismarcks Verfassungsentwurf oder die Einigungsverträge gänzlich zu verwerfen. Das schränkte seine Verhandlungsfreiheit beträchtlich ein. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, scheint der konstituierende Reichstag von 1867 mit den teils drastischen Änderungen, die er am Verfassungsentwurf vornahm, das meiste aus seinen Möglichkeiten gemacht zu haben.

Das gilt besonders, wenn man bedenkt, dass Bismarck für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen mit dem Reichstag einen Alternativplan vorbereitet hatte. Zur Absicherung seiner Ziele hatte er am 31. März 1867 – als das Parlament gerade mitten in den Spezialberatungen zu seinem Entwurf steckte – einen geheimen Vertrag zwischen den Regierungen Preußens, Sachsens, Sachsen-Weimar-Eisenachs, und Hessen-Darmstadts geschlossen. Darin verpflichteten sich die Unterzeichner, den Entwurf in Form eines Staatsvertrages zur gemeinsamen Verfassung zu machen, sollte der Reichstag ihn ablehnen. Dazu mehr im nächsten Kapitel.

Angesichts dieser Sicherheitsvorkehrung war die Zustimmung des Reichstages wohl keine unabdingbare Voraussetzung für die Gründung des Bundesstaates. Getrieben von ihren hegemonialen Ambitionen hätte die preußische Monarchie unter Bismarck vermutlich auch ohne parlamentarisches Einverständnis eine gesamt- oder zumindest norddeutsche Ordnung geschaffen. Nichtsdestotrotz war die Billigung des Reichstages politisch außerordentlich wichtig. Andernfalls wäre die Idee, eine Verfassung in Form eines intergouvernementalen Staatsvertrages zu erlassen, nicht Bismarcks Ausweichlösung, sondern seine Hauptstrategie gewesen. Parlamentarische Zustimmung, so betonte er immer wieder, war entscheidend für das Gelingen der Reichsgründung, da er dadurch ein Druckmittel erhielt, um den Widerstand der monarchischen Einzelstaatsregierungen gegen einen preußisch-dominierten Bundesstaat zu überwinden. „Auf Einigung der Regierungen darüber ohne die Mitwirkung einer Vertretung der Nation“, schrieb er kurz vor Ausbruch des Krieges mit Österreich im April 1866 an den preußischen Gesandten in St. Petersburg, „ist […] nicht zu hoffen“.65

Für diese Strategie musste Bismarck aber einen Preis zahlen. Um die Zustimmung des Reichstages zur Verfassung zu erhalten, war er gezwungen, seinen Entwurf so zu gestalten, dass den monarchischen Teilen starke parlamentarische Elemente gegenüberstanden. Die Änderungen, die der Reichstag am Entwurf vornahm, bildeten dieses besondere Gleichgewicht des Regierungssystems weiter aus. Die Reichsverfassung war deshalb ein Kompromiss zwischen den monarchischen Regierungen und den deutschen Parlamenten nicht nur hinsichtlich des Prozesses, der sie zustande brachte, sondern auch hinsichtlich der Strukturen, die sie schuf. Die nächsten beiden Kapitel werden diese komplizierten Strukturen genau untersuchen. Bereits jetzt können wir aber festhalten, dass dieser Kompromisscharakter der Verfassung eine der wichtigsten Spuren war, die die Reichsgründung auf dem gerade beginnenden Lebensweg des neuen Bundesstaates hinterließ. Denn der Kompromiss der Gründungsphase band die Zukunft der föderalen Ordnung an ein Gleichgewicht, das in hohem Maße situationsbedingt und damit zerbrechlich war. Seine Entwicklung und die Folgen eines möglichen Zusammenbruchs waren für niemanden absehbar.

Bismarcks ewiger Bund

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