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III. Gulliver, die Liliputaner und der Löwe

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Gegen Ende des Deutsch-Dänischen Krieges veröffentlichte Le Charivari im August 1864 eine bemerkenswerte Karikatur des bekannten Pariser Genremalers Alfred Darjou (Abb. 1.10). Die Zeichnung zeigt einen preußischen und einen österreichischen Soldaten, vermutlich König Wilhelm und Kaiser Franz Joseph, an einem Buffet. Gierig über den Serviertisch gelehnt, verschlingt der Preuße einen großen Batzen Fleisch, der das Etikett „Jütland“ trägt. Seine linke Hand greift derweil schon nach dem nächsten Bratenstück, auf dem „Alsen“ geschrieben steht. Der Österreicher schaut dem Vielfraß betreten zu, ist sein Teller doch noch vollkommen leer. Kleinlaut fragt er den Preußen: „Wollen Sie das alles alleine essen?“ Darauf entgegnet der Gourmand mit vollgestopftem Mund: „Aber mein lieber Verbündeter, da Ihre Rolle nun einmal die ist, mir zuzuschauen … schauen Sie mir halt zu!“

Die Szene bezieht sich auf die Neuausrichtung der preußisch-österreichischen Beziehungen, zu der es im Rahmen des Deutsch-Dänischen Krieges kam. Ursache für diesen militärischen Konflikt zwischen den beiden deutschen Großmächten und dem skandinavischen Königreich war ein ganzes Bündel komplizierter diplomatischer und dynastischer Probleme, das als „Schleswig-Holstein Frage“ bekannt wurde und über mehrere Jahrzehnte die europäische Politik beschäftigte. Dabei ging es um den Zugehörigkeitsstatus der drei Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, die zwischen der dänischen Krone und dem Deutschen Bund umstritten war. Vor dem Hintergrund des wachsenden Nationalismus in Europa hatte diese Frage große Sprengkraft. Gleichzeitig erschienen die komplizierten dynastischen Verwicklungen im Zeitalter der modernen Kongressdiplomatie geradezu grotesk. Der britische Staatsmann Lord Palmerston soll seinem Ärger darüber gegenüber Queen Victoria Luft gemacht haben: „Nur drei Menschen haben die Schleswig-Holstein Frage je begriffen – Prinzgemahl Albert, der ist tot; ein deutscher Professor, der ist wahnsinnig geworden; und ich, der alles darüber vergessen hat.“48

Abb. 1.10: „Regardez Moi“, Le Charivari (August 1864), Alfred Darjou

Das preußische Heer war den dänischen Truppen weit überlegen. Nach dem entscheidenden Sieg Preußens in der Schlacht um die Wehranlage der Düppeler Schanzen im April 1864 wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Auf Vorschlag des britischen Premierministers Lord Russel versammelte sich danach eine Friedenskonferenz in London, um die politischen Streitfragen zu klären. Der Gipfel brach schnell auseinander, weil sich die Konfliktparteien auf keine klare Grenzziehung einigen konnten. Preußen, so viel wurde in den Verhandlungen klar, war entschlossen, die Herzogtümer zu annektieren. Österreich bevorzugte dagegen den Vorschlag, einen neuen Herzog aus dem Hause Augustenburg einzusetzen und die Territorien zu eigenständigen Mitgliedern des Deutschen Bundes zu machen. Am 24. Juni, nur einen Tag nach Abschluss der Konferenz, kamen Bismarck und der österreichische Kanzler Bernhard von Rechberg zu einer Übereinkunft. Bismarck hatte dabei die Initiative ergriffen und war zu seinem Amtskollegen ins böhmische Karlsbad gereist, wo König Wilhelm und Kaiser Franz Joseph gerade kurten. Die zwei Großmächte, so die Vereinbarung, würden nach Ende des Waffenstillstandes die Insel Alsen und den Rest von Jütland, dem dänischen Festland, einnehmen. Diese Okkupation, spekulierten Bismarck und Rechberg, würde die dänische Monarchie zur endgültigen Aufgabe der Herzogtümer zwingen. In den folgenden drei Wochen eroberten preußische Truppen Jütland bis zum Skagerrak. Am 14. Juli trug der preußische General Eduard Vogel von Falckenstein seinen Namen in das Kirchenbuch von Skagen ein, dem nördlichsten Punkt des dänischen Festlandes.

Dieser Eroberungszug machte aller Welt deutlich, wie sehr Preußen, das schon die treibende Kraft hinter der Kriegserklärung gewesen war, die militärischen Operationen dominierte. Der Beitrag der österreichischen Truppen schien weit weniger wichtig. In der Öffentlichkeit führte dieser Eindruck dazu, dass sich die Wahrnehmung der beiden Großmächte und ihrer jeweiligen Rollen im Bund zu verändern begann. Berlin kratzte an Wiens Führungsanspruch. Österreich, so schien es nicht nur Darjou in seiner Karikatur, war in die Rolle eines Zuschauers gedrängt, der nichts anderes machen konnte, als Preußen beim Sturm auf das dänische Buffet zu beobachten. Das preußische Militär wurde vielerorts frenetisch für seinen Sieg gefeiert, während die österreichische Regierung teils harsche Kritik für ihre zögerliche Haltung einstecken musste.49

In diesem Klima geriet die Regelung der Zukunft der umstrittenen Gebiete zu einem Balanceakt. Der Friede von Wien zwang Dänemark Ende Oktober 1864, Schleswig, Holstein und Lauenburg ein für alle Mal abzutreten. Preußen und Österreich verwalteten die Herzogtümer daraufhin zunächst gemeinsam. Dieses Kondominium hielt aber nicht lange. Schon Mitte August des folgenden Jahres schufen die beiden Großmächte getrennte Machtsphären. Im Vertrag von Gastein stellten sie Holstein unter österreichische und Schleswig unter preußische Verwaltung. Lauenburg ging ebenfalls an Preußen, allerdings erst nach Zahlung von 2,5 Millionen Talern an die klamme Habsburger Staatskasse.

Diese Lösung begünstigte Preußen. Berlin gewann die Kontrolle über zwei strategisch wichtige Territorien nahe seines Kernlandes, während sich Wien um eine Exklave kümmern musste, die 600 Kilometer nördlich der österreichischen Grenze lag. Dass Preußen sich weitgehend durchgesetzt hatte, wurde bereits nach Abschluss der Vorberatungen zum Gasteiner Vertrag deutlich. Von da an drehten sich die Verhandlungen nur noch darum, wie die Territorien unter die Herrschaft der Großmächte gestellt werden würden. Der ursprüngliche österreichische Plan, die Herzogtümer als selbstständige Mitglieder in den Bund aufzunehmen, wurde gar nicht mehr richtig diskutiert.

Genau zu diesem Zeitpunkt, als die beiden Mächte am Verhandlungstisch saßen, veröffentlichte Darjou seine Karikatur und machte dabei eine scharfsinnige Vorhersage. Der Appetit des preußischen Vielfraßes scheint so groß, dass dieser kaum etwas für Österreich übrig lassen und sich vermutlich nicht mit den dänischen Filetstücken zufriedengeben wird. Die kriegsbedingten Annexionen von Jütland und Alsen, so die subtile Botschaft der Zeichnung, seien nur der Anfang einer gewaltsamen preußischen Expansionspolitik, auf die Österreich keine Antwort haben werde.

Im Laufe der nächsten zwei Jahre erwies sich diese Erwartung als richtig. Der seltsame Status der norddeutschen Herzogtümer belastete die österreichischpreußischen Beziehungen schwer und hatte großen Anteil an den Spannungen, die sich schließlich im Krieg von 1866 entluden. Nach dem militärischen Sieg über Österreich annektierte Preußen im Sommer vier Staaten, die aufseiten der Habsburger gekämpft hatten: das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen-Kassel, das Herzogtum Nassau und die Freie Stadt Frankfurt. Drei Monate später verleibte sich Preußen auch Schleswig und Holstein ein. Jede dieser Annexionen verletzte die europäische Rechtsordnung, die die Unabhängigkeit dieser Territorien als Teil der Wiener Kongreßakte von 1815 beziehungsweise des Londoner Protokolls von 1852 garantierte. Die Berliner Regierung unternahm also einen gewaltsamen Rechtsbruch. Dahinter steckten strategische Motive. Die Annexionen vergrößerten das Hohenzollernreich beträchtlich. Fünf Millionen Menschen und 72 500 Quadratkilometer Land kamen unter preußische Herrschaft. Darunter waren einige geostrategisch außerordentlich wichtige Gebiete, wie zum Beispiel der Kieler Hafen. Noch wichtiger war allerdings, dass die Annexionen die geografische Lücke zwischen dem Kernland der Hohenzollern im Osten und ihren westlichen Provinzen im Rheinland und in Westfalen schlossen. „Zum ersten Mal konnte ein Untertan der Hohenzollern nun von der russischen Grenze an der Memel zur alten karolingischen Hauptstadt nach Aachen reisen“, wie der deutsch-amerikanische Historiker Hans Schmitt beschreibt, „ohne einen Fuß auf das Territorium eines anderen deutschen Staates setzen zu müssen“.50

Der französische Großmeister der Karikatur, Honoré Daumier, kritisierte die Annexionen als rechtswidrigen Gewaltakt scharf. Er zeichnete Preußen als dickbäuchigen Soldaten, der kleine menschliche Wesen brutal vom Boden reißt und in seine Rocktasche steckt, währenddessen andere potenzielle Opfer panisch zu fliehen versuchen (Abb. 1.11). Die Karikatur verwendet Motive aus Jonathan Swifts 1726 veröffentlichten Roman Gulliver’s Travels. Daumier vergleicht Norddeutschland, wo die Annexionen stattfanden, mit Lilliput, der Insel der winzigen Menschen. Preußen, der „neue Gulliver“, ist in diesem Land ein Riese und kann mit den Bewohnern, das heißt mit den norddeutschen Kleinstaaten, machen, was es will. Allerdings kommt Gulliver in Swifts Roman nach seinen Abenteuern in Lilliput ins Land der Riesen, Brobdingnag, wo er selbst nur ein Zwerg ist. In Zukunft, so deutet die Karikatur an, wird Preußen auf Gegner treffen, die auch trotz seiner jüngsten Eroberungen größer sind als es selbst, zum Beispiel Frankreich.

Die preußischen Annexionen als brutaler Übergriff einer großen auf viele kleine Figuren – mit dieser Interpretation wies Daumier auf eines der entscheidenden Probleme der föderalen Ordnung hin, die sich gerade in Deutschland bildete, nämlich die Proportionen ihrer Mitglieder. Die Staaten, die den neuen Nationalstaat formten, unterschieden sich enorm in ihrer Größe, Wirtschaftskraft, politischen Bedeutung und militärischen Stärke. Durch die Reichsgründung wurden diese Unterschiede in eine hierarchische Staatsform gegossen. An der Spitze dieser Pyramide stand der neue Gulliver oder vermeintliche Riese, der die anderen Staaten seiner Hegemonie unterwarf: Preußen. Am unteren Ende der Hierarchie befanden sich die zwanzig Winzlinge aus Lilliput, die aus verschiedenen Gründen dem Schicksal der Annexion entronnen waren: Hessen-Darmstadt und sein noch kleinerer Nachbar Waldeck-Pyrmont; die beiden Mecklenburger Herzogtümer, Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz; die nordwestdeutschen Länder Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Lippe; die drei hanseatischen Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Lübeck; und die große Gruppe der thüringischen Zwergstaaten Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg und Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt, Reuß älterer Linie und Reuß jüngerer Linie. Bismarck nannte diese Kleinstaaten manchmal despektierlich „kleines Gemüse“. Diese Beleidigung kam nicht von ungefähr. Einige dieser Staaten waren auf der Landkarte kaum auszumachen und hatten deutlich weniger Einwohner als Berlin. Schaumburg-Lippe umfasste zum Beispiel nur 340 Quadratkilometer und 32 000 Menschen. Preußen erstreckte sich 1871 dagegen auf knapp 349 000 Quadratkilometer, und seine Hauptstadt zählte 900 000 Bewohner.51

Abb. 1.11: „Der neue Gulliver“, Le Charivari (27. September 1866), Honoré Daumier

Die Position zwischen dem föderalen Hegemon und den Kleinstaaten in der Hierarchie des neuen Bundes besetzten die vier Mittelstaaten: die drei Königreiche Bayern, Württemberg und Sachsen und das Großherzogtum Baden. Sachsen erhielt diesen Status während der Gründung des Norddeutschen Bundes, weil es neben Preußen das einzige Königreich in diesem regionalen Staatenverbund war. Die Stellung der süddeutschen Staaten war hingegen das Ergebnis ihrer Beitrittsverhandlungen mit dem Norddeutschen Bund im November 1870. Besonders Bayern und Württemberg, die beiden Königreiche im Süden, beharrten darauf, im neuen Nationalstaat im Vergleich zu den rangniederen Herzog- und Fürstentümern bessergestellt zu werden. Sie machten ihren Beitritt zur Verfassungsordnung des Nordens daher davon abhängig, bestimmte Sonderrechte zu erhalten, die sie, so ihre Hoffnung, gegenüber Preußen stärken würden.52

Bismarck wollte unbedingt, dass die süddeutschen Staaten von sich aus statt unter dem Zwang Preußens in den Bund eintraten. Es war wichtiger Teil seines im nächsten Kapitel näher erläuterten Verfassungskonzeptes, das Reich als einen freiwilligen Bund der souveränen Fürsten und nicht als Erweiterung Preußens zu konstruieren oder ihm zumindest diesen Anschein zu geben. Er war deshalb bereit, viele Forderungen der Südstaaten zu erfüllen. Je länger die schwierigen Verhandlungen dauerten, desto mehr wunderten sich Beobachter, wie weit sein Entgegenkommen gehen würde. In der ersten Dezemberausgabe des Kladderadatsch verglich Wilhelm Scholz Bismarck mit einem Hauswirt, der potenzielle Mieter zum Einzug bewegen will (Abb. 1.12). Die Zeichnung zeigt ihn bei dem Versuch, drei Vertretern der Südstaaten in eine Hausjacke zu helfen, die mit dem Wort „Bund“ bestickt ist. Die drei Umworbenen stehen aber nur zögerlich an der Türschwelle und wehren ab: „Der Rock paßt uns nicht!“ Bismarck will sie umstimmen und ermutigt sie: „Nur immer ran! Wir machen ihn passend. Jedem Einzelnen wird Maß genommen nach seinen berechtigten Eigenthümlichkeiten, und dann so lange geändert, bis ihm der Rock bequem sitzt. Immer ran!“ Bismarck schien also bereit, wie der Titel der Karikatur unterstreicht, die süddeutschen Staaten „um jeden Preis“ zum Beitritt zu bewegen.53

Die Verhandlungen schufen am Ende tatsächlich eine große Bandbreite an Sonderrechten, die zunächst in die Einigungsverträge und dann später in die Reichsverfassung aufgenommen wurden, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden. Durch die Festschreibung dieser Privilegien schuf die Vereinigung von Nord und Süd unterhalb des föderalen Hegemons Preußen zweit- und drittklassige Staaten. Am deutlichsten äußerte sich diese Hierarchie im Bundesrat. Im zentralen Verfassungsorgan der neuen Föderalordnung besaß Preußen siebzehn, die Mittelstaaten zwischen drei und sechs und die Kleinstaaten eine oder zwei Stimmen. Ein weiteres Merkmal, das die Reichsgründung in dem Bundesstaat verankerte, war also die grundlegende Ungleichstellung der Mitgliedsstaaten.54

Diese strukturelle Eigenart schuf ein enormes Konfliktpotenzial, das durch den monarchischen Charakter der föderalen Ordnung noch verstärkt wurde. In einer Umgebung, die von Status- und Prestigefragen besessen war, bargen institutionalisierte Unterschiede in der Position vermeintlich souveräner Einzelstaaten die Gefahr ernsthafter Konflikte. Dieses Problem wurde deutlich, noch bevor die Tinte unter den Einigungsverträgen getrocknet war. Die Novemberverhandlungen in Versailles waren so kompliziert, dass sie mehrmals kurz vor dem Scheitern standen. Gerade Bayerns ständig neue Forderungen belasteten die Gespräche schwer. Die zerstörerischen Phantasien, die Bismarck seiner Frau in dem eingangs zitierten Brief anvertraute, spiegelten eben diese frustrierende Situation wider. Erschöpft von den endlosen Verhandlungsrunden und der Trivialität ihrer Gegenstände, verlor der Chefunterhändler des Norddeutschen Bundes allmählich die Geduld. Er lag mit Gallenschmerzen darnieder und träumte davon, einer Bombe gleich zu explodieren und das ganze Theater in die Luft zu jagen. Das Verhalten der bayerischen Delegierten zerrte arg an seinen Nerven, drohten sie doch mehrmals, die Gespräche abzubrechen und nach München zurückzukehren. Letztlich scheiterten aber alle derartigen Versuche, eine bessere Verhandlungsposition herauszuschinden. Nachdem die Regierungen von Hessen, Baden und Württemberg entschieden hatten, die Verträge zu unterzeichnen, blieb den bayerischen Unterhändlern keine andere Wahl, als kooperativer zu werden. Die Gefahr einer kompletten Isolation war einfach zu groß. Unter diesem Druck kamen die beiden Parteien zu einer Übereinkunft. Bismarck akzeptierte eine lange Liste bayerischer Sonderrechte, während die Münchener Regierung ihr Einverständnis dazu gab, dem preußischen König die Kaiserwürde zu verleihen.55

Abb. 1.12: „A tout prix“, Kladderadatsch (4. Dezember 1870), Wilhelm Scholz

Die Details offenbaren, wie bizarr und schmutzig dieser Kuhhandel war. Ludwig II. von Bayern stemmte sich vehement gegen die Aussicht, dass sein Cousin, der preußische König, in den Rang eines Kaisers aufsteigen könnte. Die Hohenzollern, diese protestantischen Emporkömmlinge von der Schwäbischen Alb, ranghöher als das ehrwürdige Haus Wittelsbach, eine der ältesten Dynastien Europas? Für Ludwig ein Alptraum. Bismarck konnte den Widerstand des Königs nur überwinden, indem er seinen größten Schwachpunkt ausnutzte: Geld. Ludwig, ein Träumer und Psychopath, der sich lieber der mystischen Opernwelt Richard Wagners als dem trockenen Geschäft der Politik hingab, war wegen des Baus seiner Märchenschlösser immer in finanziellen Schwierigkeiten. Den geheimen Zahlungen, die Bismarck ihm anbot, konnte er schließlich nicht widerstehen. Wenn auch schweren Herzens, willigte er ein, dem preußischen König im Namen der deutschen Fürsten die Kaiserkrone anzutragen. Ironischerweise kam das Geld für diese Bestechung aus der Enteignung einer anderen alteingesessenen Dynastie. Bismarck zwackte die Summen vom Vermögen der Welfen ab, das Preußen 1866 im Rahmen der Annexion von Hannover konfisziert hatte.56

Diese Hintergründe zeigen, welch merkwürdige Mischung aus ernsthaften politischen Konflikten und – wie Bismarck in dem schon mehrmals erwähnten Brief an seine Frau schrieb – fürstlichen „Gelüsten“ die Einigungsverhandlungen beherrschte. Kein Wunder, dass die letzten Meter zur Gründung des Reiches so nervenaufreibend waren. Bei allen Beteiligten lagen die Nerven blank. Die württembergische Regierung verschob gar kurz vor Schluss die Unterzeichnung der Verträge. Eine Hofintrige hatte König Karl I. plötzlich verunsichert. Er bestand nun darauf, dass sein Land im neuen Bund nicht schlechter gestellt sein dürfe als Bayern, das andere süddeutsche Königreich. Unter dem Druck der drohenden Isolation brachten seine Minister den Monarchen aber bald wieder zu Verstand, und die Verträge wurden unterzeichnet.57

Dieser Vorfall veranschaulicht, dass das Zugeständnis der Sonderrechte psychologisch wichtiger war als machtpolitisch. Schließlich waren alle Privilegien der Südstaaten im Vergleich zu der hegemonialen Stellung, die sich Preußen im neuen Bund sicherte, praktisch wertlos. Am wichtigsten war dieser psychologische Faktor für Bayern. Hier war der Widerstand gegen den Eintritt in ein preußisch-dominiertes, mehrheitlich protestantisches Kaiserreich beträchtlich. Die Parteien, die sich die Verteidigung der bayerischen Unabhängigkeit auf die Fahnen geschrieben hatten, feierten 1868 bei den Wahlen zum Deutschen Zollparlament einen erdrutschartigen Sieg. Dieser Wahlausgang lastete schwer auf den bayerischen Diplomaten, die ein Jahr später in Versailles mit Bismarck am Verhandlungstisch saßen. Einen Deal abzuschließen, der nicht zumindest die Chance hatte, die mehrheitliche Zustimmung der lokalen Bevölkerung zu erhalten, war für sie unmöglich. Der Schlüssel dazu schien, in den Verhandlungen möglichst viele, möglichst weitreichende Sonderrechte für Bayern herauszuschlagen. Diese Strategie ging insofern auf, als sie der Münchener Regierung erlaubte, die Gespräche in Versailles in relativer Ruhe führen zu können und der bayerischen Bevölkerung die Ergebnisse anschließend als Erfolg zu verkaufen.

Das funktionierte aber nur kurz, denn viele der schwer erkämpften Sonderrechte erwiesen sich schnell als bedeutungslos. Schon im April 1871 – gerade einmal sechs Tage, nachdem der Reichstag die Reichsverfassung angenommen hatte – enttäuschte Bismarck alle Hoffnungen, Bayern werde im Bund neben Preußen eine besondere Rolle spielen. Die bayerische Regierung hatte erwartet, dass ihr Vorrecht, an Friedensverhandlungen mit einem eigenen Bevollmächtigten teilzunehmen, auch für die bevorstehenden Gespräche mit Frankreich gelten würde. Bismarck erteilte solchen Überlegungen aber eine schroffe Abfuhr. Bayerns „Beteiligung“, unterrichtete er den preußischen Gesandten in Brüssel, „wird, um es kurz auszudrücken, eine mehr ornamentale zu bleiben haben, zur Befriedigung eines Ehrenpunctes“. Auch das Recht bayerischer Diplomaten, das Reich an ausländischen Höfen im Falle der Abwesenheit des kaiserlichen Botschafters zu vertreten, lehnte er bald nach der Reichsgründung ab. Es handle sich dabei, erklärte er im Juni 1871 dem deutschen Botschafter in London, um ein reines „Ehrenrecht“, dem keine praktische Bedeutung zukomme.58

Derartige Demütigungen schürten in Bayern das Gefühl, dass man in den Novemberverhandlungen über den Tisch gezogen worden war. Bayern habe, so klagten viele Beobachter, seine Unabhängigkeit an einen deutschen Nationalstaat verkauft, der sich als nichts anderes herausgestellt habe als die Expansion der preußischen Militärmonarchie. Im Rückblick auf die ersten drei Lebensjahre des Reiches verglich ein anonymer Karikaturist der Münchner Satirezeitschrift Die Bremse im April 1874 „Preußens idealen Reichsgedanken und sein Verhältniß zu Bayern“ mit einer großen Schlange, die eine Pickelhaube trägt und sich gierig über ein kleines Häschen beugt, das für Bayern und seine Reservatrechte steht (Abb. 1.13). Das preußisch-dominierte Reich, warnt die Karikatur, werde bald auch die letzten Sonderrechte auslöschen und Bayern vollständig verschlingen. „Das Häslein wird vielleicht zuletzt gefressen“, betont der Untertitel, „aber gefressen wird es.“

Einen Monat später veröffentlichte das Magazin eine weitere Karikatur zu Bayerns Lage im Bund. Anlass waren die Feierlichkeiten, die im ganzen Reich zu Ehren der Veteranen aus den Einigungskriegen abgehalten wurden. Die Zeichnung zeigt einen Löwen, das bayerische Wappentier, am Boden dahinsiechen (Abb. 1.14). Das ehemals stolze Tier ist an zwei Kreuze gekettet, die als „Denkzeichen“ den Kriegen mit Österreich und Frankreich gewidmet sind. Bayern sei, wie der Titel sagt, „auch ein Veteran, der 1866 und 1870/71 und noch öfter dabei war“. Dennoch bestehe kein Grund, beim „Veteranenfest“ mitzumachen, so die Botschaft der Karikatur, weil die beiden jüngsten Kriege Bayern die Freiheit geraubt und es zu einem Gefangenen eines Reiches gemacht hätten, das ihm seinen Stolz genommen habe.

Abb. 1.13: „Preußens idealer Reichsgedanke“, Die Bremse (4. April 1874), anonymer Künstler

Nur wenige Jahre nach der Vereinigung von Nord und Süd schien es den Befürwortern der bayerischen Unabhängigkeit also so, als seien ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. Edmund Jörg, einer der führenden Politiker der partikularistischen Bayerischen Patriotenpartei, kleidete die Ängste, die mit der Reichsgründung einhergingen, in eindrucksvolle Worte, als er seine Kollegen im bayerischen Landtag am 21. Januar 1871 davor warnte, dem Abschluss der Einigungsverträge zuzustimmen: „Gelingt es uns […] im letzten Augenblick noch das Unheil abzuwenden und die freie, berechtigte Staatsexistenz Bayerns innerhalb der deutschen Nation zu retten, dann, meine Herren, haben wir ein Werk getan […]. Gelingt es uns aber nicht, muß die freie, berechtigte Selbständigkeit und Staatsexistenz Bayerns innerhalb der deutschen Nation untergehen.“59 Solche Warnungen entfalteten deshalb eine beachtliche Wirkung, weil sie der größten Sorge Ausdruck gaben, die Bayern und die anderen Mittelstaaten in den Einigungsverhandlungen umtrieben: der Furcht, das Sagen über ihre eigenen Angelegenheiten an einen nationalen Superstaat zu verlieren, in dem die preußische Hegemonie sie an den Rand der Bedeutungslosigkeit drängen könnte.

Abb. 1.14: „Auch ein Veteran“, Die Bremse (9. Mai 1874), anonymer Künstler

Bismarcks ewiger Bund

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