Читать книгу Bismarcks ewiger Bund - Oliver Haardt - Страница 26

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Er fühle sich nun aber zu diesem Schritt gedrängt, weil er „die Bedeutung, welche Äußerlichkeiten in der Meinung [seiner] Landsleute [hätten], unterschätzt“ habe. Der Kaisertitel sei jetzt nötig, um Preußen in den Dienst des Bundes zu stellen. Denn zurzeit wolle „der preußische Partikularismus […] nicht den König von Preußen in den Bundespräsidenten aufgehen lassen, sondern umgekehrt“. Der preußische Staatsapparat akzeptiere „zwar, was dem Könige virtuell zugewachsen“ sei, gefalle „sich aber in betrübenden Betrachtungen darüber, wieviel ihm, scheinbar, genommen sei oder durch den weiteren Ausbau des Bundes genommen werden solle“. Die Einführung des Kaisertitels könne diese Wahrnehmung zurechtrücken und so verhindern, dass preußische Sonderinteressen die Maschinerie der Verfassung blockierten und der Bund als Großpreußen erscheine. Außerdem habe der preußische König in den vergangenen beiden Jahren sowieso praktisch die Stellung eines Kaisers über ganz Deutschland gewonnen. „Süddeutschland gegenüber“ habe sich „durch die Zollkonstitutionen und durch die Bündnisverträge das Verhältnis so gestaltet, daß Seine Majestät dort einen Einfluß“ ausübe, „wie ihn das Kaisertum während der letzten fünf Jahrhunderte seines Bestehens auf Grund seiner verfassungsmäßigen Oberherrschaft faktisch nie genossen“ habe.100

Bismarck verstand also die Einführung des Kaisertitels ähnlich wie drei Jahre zuvor die Beteiligung des Reichstages an der Verfassungsgebung als ein nationalpolitisches Integrationsinstrument, an dem wegen der gegebenen Umstände kein Weg vorbeiführte. Er sah dabei allerding ein großes Problem: die „dynastische Überspanntheit“ des bayerischen Königs. Ludwig II. war so entschlossen, seine Unabhängigkeit zu bewahren, dass Bismarck in seinem Schreiben an den Botschafter in London betonte, es würde ihn „nicht überraschen […], wenn die förmliche Proklamierung eines Anspruchs auf Superiorität und selbst Suzeränität, wie er in der Annahme des deutschen Kaisertitels läge, Bayern zum diplomatischen Bruch, vielleicht zum Bündnisbruche“ bewegen würde. Um aber die Fassade eines Fürstenbundes aufrecht zu erhalten und auch den Südflügel des deutschen Hauses damit zu verkleiden, mussten die vier süddeutschen Monarchen – insbesondere der bayerische König als der nach seinem preußischen Vetter mächtigste deutsche Fürst – freiwillig der norddeutschen Verfassungsordnung beitreten. Bismarck machte deshalb in den nächsten Monaten den Verzicht auf jeden offensichtlichen Zwang zum leitenden Grundsatz seiner Vereinigungspolitik gegenüber den Südstaaten.101

Das wurde erstmals Ende Februar 1870 deutlich. Eduard Lasker, der den linken Flügel der in der deutschen Frage zusehends ungeduldigeren nationalliberalen Fraktion anführte, nutzte die Beratungen des Reichstages über einen Rechtshilfevertrag mit Baden, um „den möglichst ungesäumten Anschluß“ des Großherzogtums an den Norddeutschen Bund zu beantragen. Diese Forderung war durchaus berechtigt. In Baden war die Begeisterung für einen baldigen Beitritt zu einem deutschen Nationalstaat sowohl in der Bevölkerung als auch in den politischen Instanzen groß. Der Landtag wurde von einer nationalliberalen Mehrheit dominiert. Großherzog Friedrich, ein Schwager des preußischen Königs, war genauso wie der Präsident seines Staatsministeriums Julius Jolly ein überzeugter Anhänger der kleindeutschen Reichsidee. Angesichts dieser Umstände spekulierte man sogar darüber, ob Lasker den Antrag nicht heimlich im Auftrag der badischen Regierung gestellt habe.102

Von diesem Verdacht getrieben, lehnte Bismarck den Vorstoß rigoros ab. Eine Aufnahme Badens in den Bund sei kein Selbstzweck, betonte er vor dem Reichstag. Das Ziel der preußischen Regierung sei genau wie das der Nationalliberalen „eine Einigung des gesammten Deutschlands“. Selbst ein um Baden erweiterter Norddeutscher Bund sei nur ein „vorübergehendes Stadium“ auf dem Weg dahin. Deswegen sei es klüger, „den Beitritt Badens in den Norddeutschen Bund“ als ein „Mittel“ zu begreifen, um „für das gesammte Deutschland […] die intimsten, gemeinsamen Institutionen […] herbeizuführen“, mit seiner Anwendung also zu warten, bis die anderen Südstaaten in einer Position seien, dem Großherzogtum zu folgen. Es sei schlicht taktisch unklug, jetzt „gewissermaßen den Milchtopf abzusahnen und das Uebrige sauer werden zu lassen“. Man müsse einfach geduldig bleiben und abwarten, bis sich alle Südstaaten an den Bund anschließen wollten. Deren Beitritt müsse aber unbedingt „in voller Freiwilligkeit, ohne Drohung, ohne Pression, ohne Druck“ geschehen. Denn „der verstimmte, gezwungene Baier oder Württemberger in der engsten Genossenschaft“ könne „nichts helfen“. Es sei vorzuziehen, „noch ein Menschenalter zu warten, als Zwang nach der Richtung hin zu üben“.103

Für die Ablehnung von Laskers Antrag und den Verzicht jeglichen Drucks auf die anderen süddeutschen Staaten sprachen aus Bismarcks Sicht noch zwei weitere Gründe, die er nicht öffentlich erklärte, aber in einem Erlass an den preußischen Gesandten in Karlsruhe ausführte. Erstens dürfe man Frankreich keinen Vorwand liefern, um in den deutschen Vereinigungsprozess zum eigenen Vorteil zu intervenieren. Vielmehr gelte es, „unsere Gegner an den Gedanken zu gewöhnen“, dass die internationalen Friedensbestimmungen von 1866, also vor allem die Festlegung der Mainlinie als Grenze des deutschen Bundesstaates, es nicht verböten, „die Einigung Deutschlands zu vollenden“. Zweitens müsse man unbedingt auf die „Persönlichkeit des Königs von Bayern“ Rücksicht nehmen, da „auf dessen Stimmung bei Entwicklung der süddeutschen Verhältnisse eine Zeitlang erheblich viel ankommen“ werde. Eine Aufnahme Badens in den Bund sei dafür kontraproduktiv. Denn durch eine „Pression“, wie sie in der „Absperrung der bayerischen Landesteile voneinander durch Bundesgebiet zwischen Aschaffenburg und Speyer liegen würde“, wäre Ludwig „mit seinem erregbaren Selbständigkeitsgefühl einer starken Versuchung ausgesetzt“, gemeinsam „mit den bisherigen Gegnern jeder nationalen Politik die Unabhängigkeit Baierns zu wahren“. Man müsse deshalb auf einen freiwilligen Beitritt der Südstaaten warten.104

Darauf deutete im Frühjahr 1870 allerdings wenig hin. Abgesehen von Baden stand keiner der süddeutschen Staaten vorbehaltlos hinter einer Verschmelzung mit dem Norddeutschen Bund. Ganz im Gegenteil: Der Widerstand gegen eine Zwangsvereinigung war groß. Die hessische Regierung unter Großherzog Ludwig hegte gegen Preußen seit der erzwungenen Abtretung Nordhessens an den Norddeutschen Bund einen noch größeren Groll als zuvor. Ministerpräsident Reinhard von Dalwigk hoffte nach wie vor auf eine großdeutsche Lösung und entwickelte sich zu einem Meister des diplomatischen Doppelspiels. Auf der einen Seite bei der Reform des Zollvereins und dem Abschluss des militärischen Beistandspaktes den Schulterschluss mit Preußen suchend, verpasste er auf der anderen Seite keine Gelegenheit, um Österreich und selbst Frankreich dazu anzustacheln, als Retter der süddeutschen Staaten in Deutschland zu intervenieren. Er war aber auch Realist genug, um zu erkennen, dass das gespaltene Hessen kaum Raum hatte, politisch selbstständig zu handeln. „Wir sind ja völlig in den Klauen des Adlers“, beklagte er Ende Juli gegenüber seinem Amtsvorgänger Heinrich von Gagern, dem ehemaligen Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung. Dalwigk vermutete also stark, dass der hessische Großherzog – ob er wollte oder nicht – früher oder später wahrscheinlich in Bismarcks großpreußischen Fürstenbund würde eintreten müssen.105

Die württembergische Regierung stand einer Anbindung an den Norddeutschen Bund kaum positiver gegenüber. In dem dortigen Präsidenten des Staatsministeriums, Karl von Varnbüler, sah Bismarck den „hervorragendsten Widersacher“ seiner Einigungspolitik. Als ausgewiesener Wirtschaftsexperte hatte Varnbüler Preußen in der Reform des Zollvereins zwar unterstützt, weil er Handel und Industrie durch eine engere Zollgemeinschaft fördern und vor allem das Damoklesschwert der halbjährigen Kündigungsfrist beseitigen wollte, mit dem Preußen Württemberg zum Abschluss der Militärkonvention gezwungen hatte. Die Souveränitätsrechte des Königreichs verteidigte er aber verbissen, vor allem auf militärischem Gebiet. Dabei ermutigten ihn König Karl und noch mehr Königin Olga, eine Tochter des russischen Zaren, die jegliche Unterordnung unter die Hohenzollerndynastie entschieden ablehnte. Auch der Landtag hatte für ein Zusammengehen mit dem Norddeutschen Bund wenig übrig. Bei den letzten Wahlen 1868 waren die Volkspartei und die Großdeutsche Partei, die sich beide gegen einen Nationalstaat unter preußischer Führung aussprachen, die zwei mit Abstand stärksten Fraktionen geworden. Seitdem sägten beide wegen des Abschlusses der Militärkonvention und der sich daraus ergebenden Erhöhung des Militäretats an Varnbühlers Stuhl. Das grenzte den Handlungsspielraum des Regierungschefs zusehends ein und machte ihn noch unnachgiebiger gegenüber allen preußischen Avancen als ohnehin schon.106

In Bayern herrschte ebenfalls eine Regierungskrise, die jedwedes Einheitsstreben erschwerte und König Ludwigs ablehnende Haltung noch verstärkte. Dabei ging es genau wie in Württemberg um die kostspielige militärische Angleichung, die die Schutz- und Trutzbündnisse notwendig machten. Nach einem positiven Misstrauensvotum in beiden Kammern musste Ministerpräsident Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, der die militärische und wirtschaftliche Annäherung an Preußen verteidigt hatte, im März zurücktreten. Als Nachfolger ernannte Ludwig den bayerischen Gesandten in Wien, Otto von Bray-Steinburg. Das war ein klares großdeutsches Signal. Bray setzte die Außenpolitik Hohenlohes zwar im Prinzip fort und betonte seine Bereitschaft, die Verträge mit Preußen einzuhalten. Er interpretierte diese aber als reine Defensivbündnisse. Dementsprechend wollte er am Status quo festhalten und alle Versuche, die bayerische Unabhängigkeit weiter einzuschränken, mit französischer und österreichischer Unterstützung abwehren. Innenpolitisch löste seine Berufung die Regierungskrise trotzdem nicht. Im Abgeordnetenhaus hatte seit der Neuwahl im Vorjahr die bayerische Patriotenpartei, die sich voll und ganz dem Schutz der Souveränität des Königreichs verschrieben hatte, eine klare Mehrheit. Für ihre Abgeordneten gingen bereits die Eingriffe in das bayerische Heerwesen, die sich aus der militärischen Angleichung an Preußen ergaben, viel zu weit.107

Allerdings gab es auch Teile der Partei, in der die alte Kaiseridee noch sehr verwurzelt war. Die Einführung eines Kaisertums erschien einigen Patrioten sogar eine Kooperation mit den Liberalen und einen Zusammenschluss mit Preußen möglich zu machen. Das wurde in den Adressdebatten deutlich, die das Abgeordnetenhaus Anfang Februar 1870 als Reaktion auf den Antrag Laskers und die in diesem Zusammenhang von Bismarck öffentlich gemachten Kaiserpläne führte. „Wir wollen Deutsch sein und Bayern bleiben“, betonte zum Beispiel der Geschichtsprofessor Johann Nepomuk Sepp, der zu den bekanntesten Mitgliedern der Fraktion gehörte. „Preußen hat bisher nichts getan, was im Interesse Deutschlands wäre. Ja, wenn es einmal ein Deutschland gäbe, für das wollen wir alle Opfer bringen […]; ja, wenn ein norddeutscher Regent, und wäre es der König von Preußen, als deutscher Kaiser sich gerierte, dann wollte die patriotische mit der Fortschrittspartei gehen.“ Bedingung dafür war in seinen Augen aber die Einberufung einer neuen Nationalversammlung in Frankfurt. Ähnlich äußerte sich sein Abgeordnetenkollege Max Huttler, ein prominenter katholischer Priester und Münchener Verleger: „Würde sich das Ideal eines deutschen Reiches verwirklichen, die Patrioten hätten keine Abneigung gegen eine protestantische Dynastie; warum sollten nicht auch die Hohenzollern die deutsche Krone tragen. Ja, wenn der König von Preußen statt des schwarzweißen das schwarzrotgoldene Banner aufpflanzt und in Frankfurt am Main ein deutsches Parlament beruft, dann ist der Frühling Deutschlands gekommen.“108

Es schien also so, dass selbst unter den schärfsten Gegnern eines kleindeutschen Nationalstaates die Idee eines Kaisertums eine Brücke über den Main bauen konnte. Über diese konnte man aus Sicht Bismarcks vielleicht gehen, um den Fürstenbund auf die süddeutschen Staaten auszudehnen. Allerdings hatte er keinerlei Absicht, auf diesem Weg einen parlamentarischen Zwischenstopp in Frankfurt einzulegen. Die Frage stellte sich letztlich aber auch nicht. Die internationale Krise um die spanische Thronfolge, die die Kandidatur des von Bismarck protegierten Prinzen aus dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen ausgelöst hatte, und die dadurch kontinuierlich wachsenden Spannungen mit Frankreich verdrängten den Kaiserplan von der politischen Tagesordnung. Neue Bewegung in die Umgestaltung der deutschen Verhältnisse brachte erst die französische Kriegserklärung am 19. Juli. Durch die Auslösung der Schutz- und Trutzbündnisse formte sie eine nationale Waffenbruderschaft zwischen dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten, die die politische Vereinigung auf dem Schlachtfeld vorwegnahm. Spätestens der Sieg bei Sedan, bei dem der französische Kaiser Napoleon III. gefangen genommen wurde, spülte die Lösung der deutschen Frage auf der politischen Agenda wieder ganz nach oben.

Angetrieben von der parlamentarischen Agitation der Nationalliberalen forderten weite Teile der Öffentlichkeit nun laut die Vereinigung aller deutschen Staaten. In Württemberg musste der einheitsskeptische Varnbühler gehen. Sein Nachfolger wurde der ehemalige Justizminister Hermann von Mittnacht, der wesentlich engagierter in der Deutschlandfrage war. Er kam zwar ursprünglich aus dem großdeutschen Lager, zeigte sich gegenüber einem Zusammengehen Württembergs mit dem Norddeutschen Bund aber grundsätzlich offen, solange dem Königreich gewisse Sonderrechte eingeräumt werden würden. Unterstützt wurde er dabei vom ebenfalls neu ernannten Kriegsminister Albert von Suckow. Der Generalleutnant kämpfte aus verteidigungspolitischer Überzeugung verbissen für die nationale Sache. Schon ein Jahr zuvor hatte er unter dem Titel Wo Süddeutschland Schutz für sein Dasein findet? ein kurzes Manifest veröffentlicht, das für eine engere Anbindung an Preußen plädiert hatte.109

Diese Kabinettsumbildung in Stuttgart isolierte die bayerische Regierung in ihrer vehementen Opposition gegen eine Vereinigung mit dem Norddeutschen Bund. Bismarck hielt deswegen die Zeit für gekommen, die badische Karte zu spielen. Am 12. September bat er die Regierung in Karlsruhe, „durch vertrauliche Anregungen, namentlich in München, die dortige Regierung zur Aussprache ihrer Auffassung über das künftige Verhältnis Süddeutschlands und besonders Bayerns zum Norden zu bewegen“, dabei aber „jeden Schein einer Pression auf den [bayerischen] König“ zu vermeiden. Die „Initiative zu bestimmteren Vorschlägen“ müsse unbedingt freiwillig von den süddeutschen Regierungen ausgehen. Nur einen Tag später erkannte Bray-Steinburg gegenüber dem preußischen Gesandten in München an, dass der gemeinsam geführte Krieg zu einer Umgestaltung der deutschen Verhältnisse führen müsse. Der bayerische Regierungschef erkundigte sich, „ob nach preußischer Auffassung der Norddeutsche Bund weiterbestehen oder einem neuen, ganz Deutschland umfassenden Bund Platz machen solle“. Um sich darüber zu verständigen, bat er Rudolph von Delbrück, Bismarcks Kanzleramtsleiter und rechte Hand, nach München zu kommen.110

Diese Einladung zwang beide Seiten, ihre Vorstellungen über eine Vereinigung von Nord und Süd näher zu formulieren. Zu diesem Zweck fertigte Delbrück auf seinem Weg vom preußischen Hauptquartier nach München in Reims eine Denkschrift an, die sowohl vom Kanzler als auch vom König als Grundlage der preußischen Verhandlungsposition genehmigt wurde. Darin definierte er das Ziel, das Preußen bei der „Fortbildung der politischen Verhältnisse in Deutschland“ verfolgen müsse, dahingehend, dass „an Stelle der Allianzverträge mit Bayern, Württemberg und Baden […] und an Stelle des Zollvereinsvertrages […] ein dauernder bundesstaatlicher Organismus treten“ müsse. Dessen „allgemeine Gestaltung“ sei „durch die Verfassung des Norddeutschen Bundes, durch den Zollvereinsvertrag und vielleicht noch mehr durch die Erfahrungen des Krieges vorgezeichnet“. Mit anderen Worten: Die preußische Regierung war entschlossen, die bestehenden Strukturen zur Grundlage der Vereinigung mit dem Süden zu machen, also den zwei Jahre zuvor geschaffenen Bund zu erhalten und auszudehnen. Dementsprechend knüpfte die Denkschrift eng an die norddeutsche Verfassung an. Die Kompetenzen, die Delbrück für den neuen gesamtdeutschen Bund gegenüber den Einzelstaaten vorsahen, waren praktisch eins zu eins aus ihr übernommen. Um den Charakter des Bundes als „einheitlich geleitetes Staatswesen“ zu unterstreichen, empfahl die Denkschrift in Anlehnung an Bismarcks Kaiserplan, den neuen Nationalstaat als „Reich“ zu bezeichnen und für das Präsidium den Titel „Kaiser von Deutschland“ einzuführen. Diese Anpassungen würden die „Aufnahme der neuen Gestaltung bei Fürsten und Völkern“ fördern. Sie waren also nicht dazu gedacht, an der Konstruktion des vermeintlichen Fürstenbundes irgendetwas zu ändern. Im Gegenteil: Um dessen Aura bei der Erweiterung nach Süden aufrecht zu erhalten und den „schlafenden Partikularismus“ nicht zu wecken, riet Delbrück, jeden „Anschein einer Vergewaltigung, eines Drucks auf die freie Entschließung“ der süddeutschen Regierungen zu vermeiden.111

Das bayerische Programm unterschied sich von diesen Vorstellungen grundlegend. „In den unveränderten Nordbund treten wir keinesfalls ein“, erklärte Bray gegenüber dem sächsischen Gesandten in München in aller Deutlichkeit. Genauer wurde der bayerische Ministerpräsident in dem Antrag, mit dem er König Ludwig am 12. September bat, ein „Verfassungsbündnis“ mit dem Norddeutschen Bund aushandeln zu dürfen. Das Gesuchsschreiben betonte, dass sich Bayern in einer „Zwangslage“ befinde und deshalb eine Neugestaltung Deutschlands nicht rigoros ablehnen könne. Man müsse Zugeständnisse machen. An der Einführung eines im Kriegsfall unter einheitlichem preußischen Oberbefehl stehenden Heeres und eines gesamtdeutschen Parlamentes führe kein Weg mehr vorbei. Allerdings solle man darauf bestehen, den Norddeutschen Bund durch einen neuen „Deutschen Bund“ zu ersetzen, der viel lockerer und föderalistischer als der bestehende sein müsse. Bei einer solchen „gründlichen Umgestaltung“ des Bundesverhältnisses werde Bayern in vier Gebieten besondere „Kron- und Landesrechte“ beanspruchen, nämlich „das Recht der Vertretung nach außen“, einschließlich des Rechts, internationale Verträge zu schließen, die „dem Zwecke und den Interessen des Bundes nicht widersprechen“, die „militärische Oberherrlichkeit im Frieden“ über die bayerischen Regimenter, „eigene Gesetzgebung, Verwaltung und Finanzen“, und „die selbständige Leitung des Post-, Eisenbahn-, und Telegraphenwesens“. Verweigere Preußen eine Auflösung des Norddeutschen Bundes, sei die einzige akzeptable Möglichkeit ein „weiterer verfassungsmäßiger Bund Süddeutschlands mit dem Norddeutschen Bund“. Auch in diesem Fall müsse Bayern aber eine „Sonder- und Ausnahmestellung“ gewährt bekommen.112

Die bayerische Regierung zog also zwei Optionen in Betracht: die völlige Neugründung eines dezentralen, gesamtdeutschen Staatenbundes und den Abschluss eines Doppelbundes, der den Norddeutschen Bund mit den in einem eigenen Bündnis enger zusammengeschlossenen Südstaaten verband. Bismarcks angeblichen Fürstenbund wollte man sich unter keinen Umständen ohne Anpassungen überstülpen lassen. Dementsprechend schwierig gestalteten sich die Gespräche, zu denen neben Delbrück auch der neue württembergische Premier Mittnacht am 22. September nach München kam. Der norddeutsche Kanzleramtsminister beschränkte sich dabei auf Anordnung Bismarcks darauf, „nur zu hören, welche Karten man hier ausspiele“. Er sammelte die Vorschläge der süddeutschen Vertreter, gab die preußischen Vorstellungen zur Vereinigung Deutschlands aber nicht preis. Diese Verhandlungstaktik trieb die bayerische Regierung fast zur Weißglut. Bray verlangte Auskunft darüber, ob Preußen zu einer Umgestaltung oder gar Auflösung des Norddeutschen Bundes bereit sei. Dem entgegnete Delbrück einfach, dass der preußische König bisher keinen Grund gehabt habe, darüber nachzudenken. Ein Anlass dazu bestünde erst, wenn ein genauer Alternativvorschlag zur Gestaltung des neuen Bundesverhältnisses auf dem Tisch läge.113

Sollten die Gespräche nicht völlig ohne Ergebnis enden, ließ diese Haltung den Verhandlungspartnern gar keine andere Wahl, als die norddeutsche Verfassung als „Leitfaden“ zu benutzen, wie das Protokoll der Konferenz festhielt. In den vier Tagen, die die Konferenz dauerte, diskutierten die bayerischen und württembergischen Vertreter die Vereinigung ihrer Länder mit dem Norden deshalb auf Grundlage von Bismarcks angeblichem Fürstenbund. Dabei bestanden sie zwar auf zahlreichen Anpassungen, ließen die Idee der Gründung eines komplett neuen Bundes aber praktisch fallen. Aus Sicht Bismarcks war das der entscheidende Durchbruch. Auf Nachfrage Delbrücks, ob den süddeutschen Staaten in späteren Verhandlungen über einen Beitritt zum Norddeutschen Bund Sonderrechte gewährt werden könnten, telegrafierte er am 24. September nach München, dass „der Ausschluß der Bundecompetenz in Baiern bezüglich einer Anzahl selbst erheblicher Gegenstände der Bundesgesetzgebung […] kein Grund [sei], die Aufnahme Baierns zu versagen“. Es müsse dann einfach „die Zeit […] nachhelfen, das Ueberschreiten des Rubikon wäre immer gewonnen“. Auch wenn sich Bayern weiter sträubte und vorerst an der Möglichkeit eines Doppelbundes festhielt, zeichnete sich also als Ergebnis der Münchener Konferenz eine Lösung ab. Die Vereinigung würde wahrscheinlich auf Grundlage der norddeutschen Verfassung erfolgen, den süddeutschen Staaten dafür bestimmte Sonderrechte gewähren, und dadurch den Fürstenbund von 1867 in der ein oder anderen Form über den Main hinaus auf ganz Deutschland ausweiten.114

Bismarcks ewiger Bund

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