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VI. Versailles

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Die konkreten Verhandlungen über die Gründung des gesamtdeutschen Nationalstaates fanden ab Ende Oktober im militärischen Hauptquartier in Versailles statt. Ursprünglich hatte Bismarck dafür geworben, alle einzelstaatlichen Monarchen in dem Pariser Vorort zu einem Fürstenkongress zusammenkommen zu lassen, um gemeinsam den Frieden mit Frankreich zu schließen und die „bis dahin getroffenen Vereinbarungen über die deutsche Verfassungsfrage“ zu besiegeln. Dieses Verfahren hätte den monarchischen Charakter der Staatsgründung unterstrichen und so die Fassade vom Fürstenbund gehörig aufpoliert. Aus dem Vorschlag wurde aber nichts, weil der bayerische König die Einladung seines preußischen Vetters ignorierte. Ludwig II. weigerte sich beharrlich, dem Hohenzollern-Emporkömmling nach Versailles hinterherzulaufen und ihn vor den Augen seiner Soldaten zu hofieren. Alle Überredungskünste seitens Bismarcks, des Großherzogs von Baden und sogar seiner eigenen Regierung nützten nichts. Ludwig meldete sich krank und schützte vor, „wegen Sehnendehnung“ das heimische Bett hüten zu müssen.115

So reisten die leitenden Minister der süddeutschen Staaten alleine zu den Einigungsverhandlungen nach Versailles. Im Gepäck hatten sie nach den Erfahrungen von München ganz bestimmte Erwartungen und Ziele. Die badische Regierung wollte ohne weitere Änderungen in den Bund eintreten, vorbehaltlich derjenigen „Modifikationen des Bundessteuerwesens […], welche durch Vereinbarungen mit den anderen süddeutschen Staaten geboten erscheinen“. Einen dahingehenden Antrag hatte das großherzogliche Staatsministerium bereits am 3. Oktober gestellt. Bismarck hatte diese Aktion über den preußischen Gesandten in Karlsruhe angeregt, da ihm die Bekanntgabe des badischen Beitrittswillens „in diesem Augenblick als Grundlage und als Druck auf Verhandlungen mit Baiern willkommen“ war.116

Die hessische Regierung fügte sich mehr oder weniger in ihr Schicksal. Sie wollte sich zwar nicht unter die Fuchtel Preußens begeben, sah aber zum Eintritt in den angeblichen Fürstenbund schon allein um Aufhebung der bestehenden Teilung des Großherzogtums willen keine Alternative. Dalwigk betonte gegenüber seinem royalen Chef, dass Preußen „vollkommen Herr der Situation“ sei und Hessen in eine „nicht haltbare isolierte Lage“ zu kommen drohe, nachdem Baden, Württemberg und selbst Bayern Unterverhandlungen über eine Vereinigung aufgenommen hätten. Der Großherzog entgegnete resigniert: „Il faut faire bonne mine à mauvais jeu [Dann muss man eben gute Miene zum bösen Spiel machen]. Mein Trost ist, daß mir mein kleiner Finger sagt: Cela ne durera pas … [Das wird nicht lange dauern …]“.117

Die württembergische Regierung unter Mittnacht hatte ihr Programm schon am 9. Oktober im Staatsanzeiger öffentlich gemacht. Man wolle eine „verfassungsmäßige Einigung“, das bisherige völkerrechtliche Verhältnis also in ein staatsrechtliches umwandeln, die Selbstständigkeit der Einzelstaaten weitestmöglich erhalten sowie eine Zentralgewalt mit deutschem Parlament, begrenzter Gesetzgebung und einheitlichem Heer schaffen. Eine Übernahme der norddeutschen Verfassung ohne Änderungen sei nicht möglich. Diese Erklärung lief letztlich auf einen Beitritt zum Fürstenbund bei gleichzeitiger Gewährung von umfangreichen Sonderrechten hinaus. Der Schwäbische Merkur bezeichnete die Verlautbarung daher als die „einer verschämten Braut“, die „ihr Jawort lange versagt hat und auch jetzt noch dem Bräutigam, dem sie nicht entgehen kann, dasselbe nicht unwiderruflich geben kann“.118

Am schwierigsten war aus preußischer Sicht nach wie vor die Haltung der bayerischen Regierung. Bray hielt sich nach den taktischen Spielchen Preußens auf der Münchener Konferenz lange bedeckt. Am 30. Oktober legte er schließlich einen Entwurf eines „selbständigen Verfassungsvertrages“ über die „Verbindung Bayerns mit dem übrigen Deutschland“ vor. Dieses zwölf Punkte umfassende Konzept griff die Idee eines Doppelbundes wieder auf, die Hohenlohe schon vor dem Krieg in verschiedenen Formen ins Spiel gebracht hatte. Der Entwurf ging davon aus, dass Baden, Hessen und Württemberg dem Norddeutschen Bund beitreten und diesen so zu einem „Deutschen Bund“ erweitern würden. Bayern, so der Vorschlag, sollte sich diesem engeren Bund durch ein weiter gefasstes „unauflösliches Verfassungsbündnis“ angliedern. Die so geschaffene „nationale Gesamtverbindung“ sollte dann „den Namen Das Deutsche Reich führen“.

Als gemeinsame Organe sah Artikel 2 einen Reichstag und einen Reichsrat vor, in dem die Regierungen der Einzelstaaten vertreten sein und Bayern acht anstatt der auf Grundlage der norddeutschen Verfassung geplanten sechs Stimmen zustehen sollten. Das Präsidium des Reiches sollte bei der Krone Preußens unter dem Titel eines „Deutschen Kaisers“, „Kaisers von Deutschland“, oder „Kaisers der Deutschen“ liegen. Für Bayern waren umfangreiche Reservatrechte vorgesehen, vor allem im Bereich der Außenpolitik und des Militärs. Das bayerische Heer sollte im Frieden selbstständig bleiben. Nur im Krieg sollte der Oberbefehl auf den Bundesfeldherrn übergehen. Außerdem behielt sich Bayern einen eigenen Heeresetat und die gesamte Militärgesetzgebung vor. Die äußere Vertretung des Reiches inklusive der Instruktion der Diplomaten sollte gemeinschaftlich durch den Kaiser und den bayerischen König erfolgen. An Friedensverhandlungen sollten grundsätzlich bayerische Bevollmächtigte teilnehmen. Außerdem sprach Brays Entwurf Bayern das Recht zu, einen gewissen Anteil der Reichsbeamten besetzen zu dürfen, und ein Vetorecht gegen alle Abänderungen der Reichsverfassung, die seine Sonderrechte berühren würden.119

Dieses Konzept eines Doppelbundes widersprach Bismarcks Ansatz einer einheitlichen föderalen Ordnung diametral. Statt eines Fürstenbundes, der die preußische Hegemonie sicherte, plante Bray ein dualistisches System, das Bayern an die frühere Stelle Österreichs setzen und zu einem Gegengewicht Preußens machen würde. Obwohl die Idee eines preußisch-bayerischen Tandems aus den „Grundzügen“ des Vorjahres entlehnt war, sah Bismarck in diesem Vorschlag eine unverschämte Anmaßung. Noch am gleichen Abend erklärte er Brays Entwurf gegenüber Mittnacht für völlig „unannehmbar“. Besonders störte er sich an der Vorstellung einer gemeinschaftlichen Ausübung der auswärtigen Gewalt, die seiner Meinung nach nur zu internationalen Verwicklungen führen konnte. Nach mehreren vertraulichen Aussprachen, bei denen Bayerns Zwangslage immer deutlicher hervortrat, teilte Bismarck Bray am 4. November unmissverständlich mit, dass er „als Basis“ aller weiteren Verhandlungen „die Herstellung eines engeren Bundes“ betrachte. „Diese Basis [sei] nach [seiner] Ansicht die einzige, welche den Wünschen der deutschen Nation [entspräche], und welche daher zur Gründung dauernder Institutionen geeignet [sei], während sie zugleich breit genug [sei], um der Stellung Raum zu gewähren, auf welche Bayern, vermöge seiner Bedeutung, in einem deutschen Bunde Anspruch [habe].“120

Um diese Absage an einen Doppelbund zu unterstreichen und den Druck auf Bayern zu erhöhen, änderte Bismarck seine Verhandlungstaktik. Statt mit allen süddeutschen Staaten gleichzeitig eine Einigung zu erzielen, wie ursprünglich geplant, entschied er sich nun dazu, zunächst die Verträge mit Baden, Hessen und Württemberg unter Dach und Fach zu bringen. Bayern wollte er sich derweil, wie Bray erschrocken feststellte, „als besten Brocken bis zuletzt“ aufheben. Der bayerische Ministerpräsident hatte diese Vorgehensweise selbst vorgeschlagen, um den Stillstand der Verhandlungen zu durchbrechen und so Bayerns konstruktive Haltung zu demonstrieren. Er hatte aber nicht damit gerechnet, dass Bismarck auf diesen Vorschlag eingehen würde, war der Kanzler doch bisher peinlichst genau darauf bedacht gewesen, alles zu vermeiden, was den Eindruck hätte erwecken können, die Fürsten beziehungsweise ihre Regierungen würden nicht an einem Strang ziehen.121

Doch der Bluff ging nach hinten los. Jetzt drohte der Münchener Regierung die komplette Isolation. Gleich bei der ersten und einzigen gemeinsamen Verhandlungsrunde am 6. November einigten sich die Bevollmächtigten Badens, Hessens und Württembergs mit Delbrück über die Eckpunkte einer Übernahme der norddeutschen Verfassung. Einzelgespräche mit Bismarck und Roon klärten in den darauffolgenden Tagen, welche politischen und militärischen Sonderrechte sie dafür im Gegenzug erhalten sollten. Allein die Anbahnung dieser Einigung erhöhte den Druck auf die bayerische Delegation so sehr, dass sie schon vor Abschluss der Verträge am 9. November wieder am Verhandlungstisch saß. Der Plan eines Doppelbundes war nicht mehr aufrechtzuhalten. Bray musste seinem König beibringen, dass es jetzt, wo alle anderen süddeutschen Staaten die Ausweitung des vermeintlichen Fürstenbundes von 1867 akzeptiert hatten, keine Alternative mehr dazu gab, diesem ebenfalls beizutreten. Die Frage war nur noch, zu welchen Konditionen.122

Das Ergebnis dieser Verhandlungen waren drei Einigungsverträge und zwei gesonderte Militärkonventionen mit Baden und Württemberg. Diese Gründungsdokumente des neuen Reiches schufen eine breite Palette an besonderen Mitgliedschafts- und Reservatrechten, die den Südstaaten gewisse Privilegien im Entscheidungsprozess des Bundes beziehungsweise eine Befreiung von bestimmten Bundeskompetenzen garantierten. Diese Sonderrechte durchbrachen also das Prinzip der Gleichheit unter den Mitgliedern des Fürstenbundes, machten dadurch aber dessen Ausdehnung auf den Süden möglich. Ihre Verteilung spiegelte die Verhandlungsposition der jeweiligen Staaten in Versailles wider. Die hessische Regierung konnte keine großen Ansprüche stellen und musste sich mit einigen kleineren Begünstigungen im Postwesen zufriedengeben. Für die badische Regierung, die ihre Einigungsmodalitäten in demselben Vertrag wie Hessen regelte, sprang mehr heraus. In Anerkennung ihrer Loyalität gegenüber Preußen bekam sie den Wunsch erfüllt, die Bier- und Branntweinsteuer weiterhin selbst regeln zu dürfen.123

Dieses Reservatrecht wurde auch der Stuttgarter Regierung zugesprochen. Damit sich die württembergische Braut nicht länger zierte, den Bund für die Ewigkeit einzugehen, machte ihr Bismarck aber noch weitere Geschenke. Das Königreich erhielt das Recht auf ein eigenes Postwesen und einen ständigen Sitz in den Bundesratsausschüssen für auswärtige Angelegenheiten und das Landheer. Außerdem verlieh die Militärkonvention dem württembergischen König bestimmte Zustimmungsrechte gegenüber dem Bundesfeldherrn, zum Beispiel bei der Ernennung von Offizieren und der Stationierung der landeseigenen Regimenter. Dazu kamen noch einige Ehrenrechte, wie etwa ein besonderer Fahneneid und eigene Feldzeichen. Dahinter stand die Überlegung, dass der König von Württemberg, der gerade als Bundesgenosse Preußens gegen Frankreich im Felde stand, militärisch bessergestellt werden müsse als sein royaler Cousin in Sachsen, der 1866 auf der Seite Österreichs gegen die Hohenzollern gekämpft hatte.124

Die Münchener Regierung konnte wegen der Schlüsselstellung Bayerns als größter Beitrittskandidat mit Abstand die umfangreichsten Sonderrechte herausschlagen. Bray hatte das Königreich in den Verhandlungen aber so weit ins Abseits manövriert, dass diese Privilegien weit hinter die Stellung eines Co-Hegemons an der Seite Preußens zurückfielen, die er sich in seinem Verfassungsentwurf ausbedungen hatte. Von einer gemeinsamen Führung der Außenpolitik war keine Rede mehr. Stattdessen speiste Bismarck die Bayern mit einigen kleineren Vorrechten ab, die sie an der Gestaltung der Außenpolitik zu beteiligen versprachen. Dem neu zu schaffenden Ausschuss des Bundesrates für auswärtige Angelegenheiten sollte Bayern ebenso vorsitzen wie dem für das Landheer. Außerdem gab Bismarck grünes Licht für die Forderungen Bayerns, Friedensverhandlungen beizuwohnen und den Bund in anderen Ländern im Falle der Abwesenheit der regulären Gesandten durch seine Diplomaten zu vertreten. Hinzu kam das Recht, den stellvertretenden Vorsitz im Bundesrat zu übernehmen. Die Gebiete, in denen Bayern von der Bundesgesetzgebung befreit wurde, waren äußerst vielfältig. Dazu gehörten neben dem Bier- und Branntweinsteuerrecht auch das Heimats- und Niederlassungswesen, die Post, das Immobiliarversicherungsrecht und das wichtige Eisenbahnwesen. Hier behielt Bismarck dem Bund jedoch das Recht vor, „einheitliche Normen für die Konstruktion und Ausrüstung der für die Landesverteidigung wichtigen Eisenbahnen aufzustellen“.125

Die größte Sonderstellung gestattete er Bayern gegen den Widerstand Roons im Militärwesen. Diese Bevorzugung war der Münchener Regierung so wichtig, dass man sie nicht in einer separaten Militärkonvention, sondern im eigentlichen Einigungsvertrag regelte. Der König musste den Oberbefehl nur in Kriegszeiten an den Bundesfeldherrn abgeben. Diesem stand ansonsten nur das Inspektionsrecht zu. Auch das Recht, in Bayern einen Belagerungszustand zu verhängen, blieb bei den Wittelsbachern. Ferner konnte die bayerische Regierung erreichen, dass das Königreich seine eigene Militärgesetzgebung behielt und für seine Regimenter Spezialetats aufstellen durfte. All das machte das „Bayerische Heer“, wie der Vertrag festlegte, zu einem „in sich geschlossenen Bestandtheil des Bundesheeres mit selbständiger Verwaltung, unter der Militairhoheit Seiner Majestät des Königs von Bayern“.126

Bismarck stutzte die Forderungen der bayerischen Regierung also so weit zurecht, dass sie den äußeren Rahmen der Bundesverfassung nicht sprengten, kam ihnen ansonsten aber sehr weit entgegen. Anders gesagt: Er reizte die Flexibilität, die er dem Bund 1867 gegeben hatte, bis an die Grenzen aus. Dieses Zurechtbiegen der einheitlichen Grundstrukturen des Nationalstaates brachte ihm besonders vonseiten der Liberalen viel öffentliche Kritik ein, wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen haben. Aber auch unter den Verhandlungspartnern in Versailles war der Unmut groß, als erste Informationen über das Ausmaß der bayerischen Sonderrechte durchsickerten. Das wurde besonders deutlich in dem in Kapitel 1 bereits erwähnten „württembergischen Zwischenfall“. Angestachelt von einer Hofintrige untersagte König Karl seiner Delegation, den schon ausgehandelten Einigungsvertrag zu unterschreiben, solange sein Königreich schlechter gestellt werden würde als Bayern. Mittnacht und Suckow mussten zurück nach Stuttgart reisen, konnten dort den in seinem Ehrgefühl gekränkten Monarchen mit Verweis auf die anstehenden Kammerwahlen und die Gefahr revolutionärer Unruhen im Falle eines Bekanntwerdens des royalen Boykotts aber wieder umstimmen. Trotzdem verzögerte diese Episode den Abschluss des württembergischen Beitrittsabkommens so lange, dass selbst die widerborstige bayerische Regierung ihren Vertrag vorher unterzeichnete. Bismarck war darüber so frustriert, dass er am 12. November an seinen Sohn schrieb: „Wenn nicht ein deutsches Unwetter dazwischen fährt, so wird mit diesen Diplomaten und Bürokraten alter Schule nichts zu Stande kommen, wenigstens in diesem Jahre nichts.“127

Dass es ihm schließlich gelang, allen süddeutschen Regierungen seinen Fürstenbund zu verkaufen, verbuchte Bismarck trotz aller Zugeständnisse und Kritik als großen Erfolg. Außenpolitisch sicherte die Einigung den Bund gegenüber Frankreich ab und ebnete den Weg für Friedensverhandlungen, die den gerade geschaffenen Nationalstaat direkt als neue internationale Großmacht anerkennen würden. Angesichts der „Lage Europas und der deutschen Sache, wie [er] sie vor Augen habe“, betonte Bismarck Anfang Dezember gegenüber einem preußischen Ministerkollegen, seien ihm bei den Vertragsabschlüssen „die sicheren Übel und die möglichen Gefahren der Ablehnung größer erschienen als die der Annahme dessen, was [er] von Bayern [habe] erreichen können“. Deutschlandpolitisch sah er die Ausweitung der Bundesverfassung auf den Süden trotz aller Ausnahmeregelungen als gewaltigen Schritt vorwärts. „Wenn [man] die Annahme der allgemeinen Wehrpflicht, die Präsenzstärke von ein Prozent der Bevölkerung mit der dreijährigen Dienstzeit in Anschlag bringe und die übrige gemeinsame Gesetzgebung“, erklärte er gegenüber dem freikonservativen Reichstagsabgeordneten Friedrich von Frankenberg am Tag des bayerischen Vertragsabschlusses, „so [sei] der Fortschritt ein so bedeutender, daß [man] ihn nicht zurückweisen könne“.128

Alles, was über diesen erreichbaren Fortschritt hinausging, war für Bismarck eine Frage der Zukunft. Er war davon überzeugt, dass die Mischverfassung, die sich hinter dem Fürstenbund versteckte, auch mit den süddeutschen Sonderrechten genügend Raum für eine organische Entwicklung ließ, die unter Preußens Anleitung zu einer größeren Vereinheitlichung führen könne. Vier Tage nach der Vertragsunterzeichnung mit Baden äußerte er gegenüber Großherzog Friedrich mit Blick auf den sich abzeichnenden gesamtdeutschen Bund und die schwebenden Verhandlungen mit Bayern: „Wenn unsere innere Verbindung auch zu wünschen übrig läßt, so haben wir doch ein gemeinsames Band, das durch die wachsenden Bedürfnisse der Nation immer fester geschlungen werden wird; wir haben eine monarchische Spitze, die zugleich als Heerführer die Einheit des Heeres in sich verkörpert. Alle diese Vorzüge gestatten nicht nur, sondern gebieten, das Gute dem Besseren vorzuziehen und somit das Mögliche auszuführen. Hat Bayern diese Schwelle betreten, und zwar mit unserem Beistand, so ist von einem Rückgang keine Rede mehr; es kann nur noch vorwärts schreiten und wir dürfen der Zukunft die bessere Entwicklung getrost überlassen.“129

Dieses Entwicklungspotenzial des Bundes wurde in Bismarcks Augen von den Sonderrechten nicht wesentlich geschmälert. Denn es handelte sich dabei hauptsächlich um Scheinvorteile oder, wie es der badische Ministerpräsident Jolly nannte, „allerhand gleichgültige Torheiten“, die den Regierungen der beiden süddeutschen Königreiche den Eindruck von besonderem Einfluss lassen, ihnen aber realiter keine wirklich ins Gewicht fallende politische Macht geben sollten. Besonders ausgeprägt war diese taktische Überlegung bei den außenpolitischen Privilegien, die Bismarck Bayern zugestand. Ende November erklärte er in einem Erlass an Delbrück, dass man keinen „Anstoß“ nehmen könne „an den in den diplomatischen Beziehungen an Bayern eingeräumten Ehrenrechten, wie die Substitution der bayerischen Gesandten und die Bildung eines Ausschusses für die auswärtigen Angelegenheiten im Bundesrat“. Die „einheitliche Leitung“ der Außenpolitik werde durch diese Rechte „nicht gefährdet, da Bayern auf jede Teilnahme an der Instruierung der Gesandten verzichtet“ habe. „Der Ausschuss“ werde außerdem „an den Befugnissen des Präsidiums in keiner Weise teilnehmen, sondern nur zum Vortrag der betreffenden Sachen im Bundesrat dienen.“ Selbst das in einem zusätzlichen Geheimabkommen verabredete Recht Bayerns, bei Friedensverhandlungen hinzugezogen zu werden, war zwar symbolisch wichtig, praktisch aber wertlos, weil auch der bayerische Bevollmächtigte der Instruktion des Bundespräsidiums beziehungsweise Kanzlers Folge zu leisten haben würde.130

Die außenpolitischen „Konzessionen und die ganze an Bayern eingeräumte Stellung“ standen folglich „der nationalen Entwicklung Deutschlands nicht im Wege“, wie Bismarck in seinem Erlass an Delbrück unterstrich. Im Gegenteil: Die Sonderrechte machten die Gründung des Nationalstaates erst möglich, weil anders der Beitritt der süddeutschen Fürsten, insbesondere des bayerischen Königs, der sich andernfalls „ohne Zweifel jeder weitern Möglichkeit [zur Verhandlung] entzogen haben würde“, nicht zu erkaufen gewesen wäre. An der Substanz der Verfassung und dem sie umgebenden Schein eines Fürstenbundes änderten sie nichts. Zu Letzterem trugen sie sogar bei. Die vielen Ehrenrechte, die den süddeutschen Monarchen gewährt wurden, verstärkten den Eindruck, dass der neue Gesamtstaat ein Bund der Fürsten und nicht der Staaten war. Das gleiche galt auch für alle übrigen Mitgliedschafts- und Reservatrechte, da die Verträge den Staaten diese Privilegien stets über ihren jeweiligen Souverän beigaben und so in einen monarchischen Kontext einbetteten. Am deutlichsten wurde das in den Präambeln, die genau wie die Verfassung von einer Vereinbarung zwischen den Fürsten statt zwischen den Staaten sprachen.131

Es gab überhaupt nur eine Handvoll nennenswerter Veränderungen an der norddeutschen Verfassung. Fast alle fanden sich in dem zuerst abgeschlossenen Vertrag mit Baden und Hessen und wollten entweder den Bund als Schutzwehr der einzelstaatlichen Monarchen stärken oder die württembergische und bayerische Regierung durch Berücksichtigung ihrer auf der Münchener Konferenz geäußerten Wünsche in selbigen locken. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes wurde auf das Presse- und Vereinswesen ausgedehnt. Diese Erweiterung ging auf einen Vorschlag zurück, den Mittnacht in München wohl gemacht hatte, um der zunehmend nationalen Öffentlichkeit mit ihrer wachsenden Zahl an Zeitungen und Organisationen, die über alle Landesgrenzen hinweg operierten, gerecht zu werden. Bei Beschlussfassungen des Bundesrates oder des Reichstages über Angelegenheiten, die nicht den ganzen Bund berührten, sollten nun nur die Stimmen derjenigen Bevollmächtigten beziehungsweise Abgeordneten gezählt werden, die die betroffenen Staaten vertraten. Diese Regelung, die sich an den konfessionell getrennten Abstimmungsmodus der „itio in partes“ im Reichstag des Heiligen Römischen Reiches anlehnte und von Bismarck selbst bereits 1866 ins Spiel gebracht worden war, sollte die Länder vor ungewollten Übergriffen der anderen Mitgliedsstaaten des Bundes schützen. Kriegserklärungen des Präsidiums wurden außer im Falle eines Angriffes auf das Bundesgebiet grundsätzlich von der Zustimmung des Bundesrates abhängig gemacht. Das gleiche galt nun für jede Form der Bundesexekution, das heißt, für alle Strafmaßnahmen gegen verfassungsbrüchige Einzelstaaten. Diese beiden Regelungen entsprachen der Vorstellung, dass in einem Fürstenbund nur dessen kollektiver Souverän, also die im Bundesrat verkörperte Gemeinschaft aller Monarchen, in den Herrschaftsbereich eines seiner Mitglieder eingreifen und Entscheidungen über Krieg und Frieden treffen könne. Außerdem wurden die Bestimmungen zur Änderung der Verfassung präzisiert. Die Sonderrechte einzelner Bundesstaaten sollten nur mit deren Zustimmung geändert werden können. Dadurch wurden sie besonders geschützt. Der bayerische Vertrag formulierte zudem die betreffende Regelung aus dem hessisch-badischen Vertrag dahingehend um, dass eine Sperrminorität von vierzehn Stimmen im Bundesrat ausreichte, um jede Verfassungsänderung zu blockieren. Damit war sichergestellt, dass die drei Königreiche Bayern, Württemberg und Sachsen gemeinsam ein Veto einlegen konnten gegen jeden Versuch, die ausgehandelte Ordnung zu modifizieren. Auch diese Bestimmung ging auf die Münchener Konferenz zurück, wo man ausgiebig über die Einführung einer Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit für Verfassungsänderungen diskutiert hatte.132

Mit diesem Verhandlungsergebnis konnte Bismarck gut leben. Alle Änderungswünsche, die sein Bundeskonzept ernsthaft zu untergraben drohten, konnte er verhindern. Dazu gehörten vor allem zwei Forderungen. Der bayerische König brachte über seine Diplomaten wiederholt die Idee ins Spiel, das Bundesgebiet neu zu strukturieren und Bayern für seinen Beitritt mit einer „Ausdehnung seiner […] Territorialmacht“ zu entschädigen. Dabei ging es nicht um mögliche Gebietsgewinne auf französischem Boden, etwa im Elsass, sondern um die Herstellung einer Verbindung zwischen Unterfranken und der bayerischen Pfalz. Eine solche Vergrößerung Bayerns konnte nur auf Kosten Badens geschehen. Während Bray die Schaffung einer schmalen Landbrücke befürwortete, verlangte Ludwigs Kabinettssekretär August von Eisenhart gar die Annexion der gesamten Pfalz, inklusive Mannheim und Heidelberg. Bismarck erteilte allen derartigen Vorschlägen eine entschiedene Absage. Ein solcher Gebietsschacher hätte den Status quo der einzelstaatlichen Monarchien infrage gestellt und damit den Daseinszweck des Fürstenbundes ausgehöhlt, noch bevor die Tinte unter den Verträgen trocken gewesen wäre. Ludwigs Kompensationswünsche versuchte er deshalb anderweitig zu befriedigen. In dem bereits erwähnten geheimen Zusatzabkommen überließ er ihm die sogenannte „Düsseldorfer Galerie“, eine wertvolle Sammlung von Gemälden Alter Meister, die Bayern nach dem Krieg von 1866 an Preußen hatte abtreten müssen.133

Die andere große Bedrohung, der sich Bismarck bei dem Versuch, die Verfassung möglichst unbeschadet durch die Verhandlungen zu bringen, gegenübersah, war die Forderung nach Einführung eines Ober- beziehungsweise Staatenhauses. Schon bei Gründung des Norddeutschen Bundes hatte er diese Idee an mehreren Fronten abwehren müssen, wie wir oben gesehen haben. Jetzt drängte vor allem die hessische Regierung auf eine Umsetzung dieses Vorschlages. Dahinter steckten in erster Linie politische Motive. Dalwigk und seine rechte Hand Hofmann, der Hessen schon auf der Berliner Regierungskonferenz drei Jahre zuvor vertreten hatte, sahen in der bloßen Übernahme der norddeutschen Verfassung eine Unterwerfung Süddeutschlands unter Großpreußen. Ein Oberhaus hielten sie für ein geeignetes Mittel, um den geplanten Bund zu dezentralisieren. Hofmann schlug in einer Denkschrift deshalb vor, die gesamtdeutsche Volksvertretung in ein Volks- und ein Staatenhaus zu gliedern. Zum Vorbild nahm er die Zweikammersysteme der Schweiz, der USA und der Frankfurter Reichsverfassung. Das Staatenhaus sollte sowohl Vertreter der einzelstaatlichen Regierungen als auch der Landtage umfassen und als konservatives Gegengewicht zur ersten Kammer die „nivellierende Kraft“ abschwächen, die vom allgemeinen Wahlrecht ausging. Dadurch sollten partikularistische Interessen besser geschützt und einer unitarischen oder gar demokratischen Weiterentwicklung des Regierungssystems vorgebeugt werden.134

Um diese Pläne umzusetzen, versuchte Dalwigk eine Opposition gegen Bismarck zu schmieden. Ganz besonders umgarnte er die bayerische Delegation. Er ermutigte Bray, bei den Beitrittsverhandlungen auf der Schaffung eines Oberhauses zu bestehen und so eine Bedingung „im deutschen Sinne zu stellen, die auch den übrigen Staaten zugute“ käme. Dank seiner Initiative bildete sich eine bunte Gruppe von Unzufriedenen, die eine Revision der Verfassung für angebracht hielten. Dazu gehörten neben dem sächsischen Ministerpräsidenten Richard von Friesen auch der Herzog von Coburg und der Großherzog von Oldenburg. Alle drei hatten schon 1866 ein Oberhaus gefordert, meinten damit allerdings sehr verschiedene Dinge. Friesen schwebte ähnlich wie Hofmann eine zweite Parlamentskammer aus Delegierten der einzelstaatlichen Regierungen vor, die zusätzlich zum Bundesrat eingerichtet werden sollte. Peter von Oldenburg wollte den Bundesrat ebenfalls behalten, ein Oberhaus allerdings zur Vertretung der „Interessen der hohen Aristokratie der Nation“ machen und darin neben den Monarchen der Einzelstaaten auch die ehemals regierenden Fürsten versammeln. Ernst von Coburg erneuerte in einer Denkschrift dagegen seine Empfehlung, den Bundesrat abzuschaffen und durch ein Staatenhaus sowie ein Reichsministerium zu ersetzen.135

Bismarck lehnte all diese „fürstliche[n] Phantasiegebilde“, die „im Hauptquartier [umherspukten]“, wie er seiner Frau entnervt berichtete, aus demselben Grund ab wie schon drei Jahre zuvor. Er sah in der Einführung eines Oberhauses – egal, in welcher Form – eine unnötige Verkomplizierung der Verfassungsmaschinerie. Zum Schutz monarchischer Souveränität und einzelstaatlicher Interessen bedurfte es aus seiner Sicht keines neuen Vertretungsorganes, sondern einer überzeugenden Ausweitung des Fürstenbundes. Um die Forderung nach einem Oberhaus zu entkräften, musste er letztlich gar nicht viel tun. Sie verpuffte gewissermaßen von selbst. Die inhaltlichen Differenzen zwischen den verschiedenen Befürwortern dieser Idee verhinderten, dass sie eine größere Durchschlagskraft entwickelte. Das zeigte sich spätestens in den Gesprächen, die Dalwigk mit den bayerischen Bevollmächtigten führte. Bei einem geheimen Treffen am 1. November machte Bray klar, dass er keinen der unausgegorenen Pläne unterstütze. Er fürchtete, dass die Errichtung eines Oberhauses genau die Entwicklung begünstigen würde, die Dalwigk und seine Mitstreiter damit verhindern wollten: die Entstehung eines preußisch geführten Einheitsstaates.136

Obwohl Brays Absage den Kampf um ein Oberhaus aussichtslos machte, intrigierte Dalwigk im Hintergrund weiter. Dabei gelang es ihm, den preußischen Kronprinzen anzustacheln, der ohnehin frustriert über seinen weitgehenden Ausschluss von den Verfassungsverhandlungen war. Friedrich Wilhelm hatte schon im August eine Denkschrift für Bismarck verfasst, in der er für ein Oberhaus aus den souveränen und mediatisierten Fürsten des Bundes plädiert hatte. Ein Zweikammersystem schien auch ihm zur Korrektur des allgemeinen Wahlrechts dringend geboten. Einen Tag nach Abschluss des Vertrages mit Baden und Hessen, der die Übernahme der norddeutschen Verfassung für den neuen Bund besiegelte, machte er seinem Ärger Luft. Er warf Bismarck vor, die Chance, die in den Einigungsverhandlungen läge, nicht zur Einführung eines Oberhauses und anderen Verbesserungen an der Verfassungsordnung zu nutzen. Bismarck erwiderte darauf, dass solche vorschnellen Änderungen die noch ausstehende Verständigung mit Bayern und Württemberg nur erschweren würden. Nach eigener Aussage empfahl ihm der Kronprinz daraufhin, Preußens Übergewicht zu nutzen und die gewünschten Modifikationen notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Diese Aufforderung lehnte Bismarck strikt ab. Als er später in seinen Memoiren auf das Bekanntwerden dieser Auseinandersetzung durch die posthume Veröffentlichung der Kriegstagebücher des Kronprinzen zurückblickte, betonte er, dass „die Anwendung der Stärke in damaliger Gegenwart […] die Schwäche der Zukunft Deutschlands geworden“ wäre. Jeder Akt von Gewalt hätte schließlich die Fassade des Fürstenbundes komplett eingerissen.137

Um das gesamte deutsche Haus mit dieser schützenden Verkleidung auszustatten und so den dauerhaften Fortbestand der einzelstaatlichen Monarchien zu sichern, brauchte es nach Ansicht Bismarcks und seiner Mitstreiter keine zweite Parlamentskammer, sondern einen Kaiser. Die Einführung des Kaisertitels sollte gewissermaßen der „Schlußstein“ auf den Verfassungsbau des Fürstenbundes setzen, wie der Großherzog von Baden in einem Brief erklärte, den er auf Anregung des Kanzlers an den bayerischen König schrieb, um ihn von der Kaiseridee zu überzeugen. „Gerade weil die bisherigen Verhandlungen über eine innigere Verbindung der süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund noch kein für die Öffentlichkeit greifbares Resultat ergeben“ hätten, sei „es um so wichtiger […], wenn von den deutschen Fürsten der Vortritt angesichts der Forderungen der ganzen Nation genommen“ werde, „ehe der Zeitpunkt [eintrete], wo das Handeln nur noch als Folge eines übermächtigen Druckes von unten“ erscheinen würde. „Solche erzwungenen Schritte [seien] von bleibendem nachhaltigen Einfluß auf die ganze fernere Entwicklung“, da es dann „sehr schwer, wenn nicht unmöglich“ werden würde, „die Einbußen an Autorität und Ansehen, die man dabei [erlitten habe], wieder auszugleichen“.138

Um dem neuen Bund genau diese Aura monarchischer Autorität zu geben, legte Bismarck größten Wert darauf, wie er an Ludwig II. schrieb, dass die „Anregung“ dazu, dem König von Preußen in seiner Funktion als Träger des Bundespräsidiums den Titel eines Kaisers zu geben, „von keiner andern Seite wie von Eurer Majestät und namentlich nicht von der Volksvertretung zuerst ausgehe“. Denn „die Stellung würde gefälscht werden, wenn sie ihren Ursprung nicht der freien und wohlerwogenen Initiative des mächtigsten der dem Bunde beitretenden Fürsten“ verdanke. Dem Entwurf des Antrages, den er sich erlaubt habe zu verfassen, läge deshalb jener „Gedanke zu Grunde, welcher in der That die deutschen Stämme“ erfülle: „der deutsche Kaiser ist ihr Landsmann, der König von Preußen ihr Nachbar“. „Nur der deutsche Titel“ bekunde, „daß die damit verbundenen Rechte aus freier Übertragung der deutschen Fürsten und Stämme“ hervorgehen würden. „Daß die großen Fürstenhäuser Deutschlands, das Preußische eingeschlossen, durch das Vorhandensein eines von ihnen gewählten deutschen Kaisers in ihrer hohen europäischen Stellung nicht beeinträchtigt würden“, lehre „die Geschichte“.139

Trotz seines Widerwillens gegen ein preußisches Kaisertum folgte Ludwig schließlich diesem Appell. Der wachsende politische Druck drängte ihn dazu. Die Bestechungsgelder, die Bismarck ihm versprach und von denen schon im vorhergehenden Kapitel die Rede war, lockten ihn. Seine Regierung hatte im Tausch gegen die bayerischen Sonderrechte ohnehin schon im Rahmen der Vertragsverhandlungen eingewilligt. Es war aber erst die Vorstellung vom Fürstenbund und vom Kaisertum als dessen höchstem Ausdruck, die es für den bayerischen König möglich machte, seinem preußischen Vetter die Kaiserkrone anzutragen, ohne seine eigene Stellung zu kompromittieren. Das wurde ganz deutlich in dem Schreiben, mit dem Ludwig am 30. November Wilhelm von Preußen die Kaiserwürde anbot. Diesen sogenannten Kaiserbrief hatte Bismarck nach Ideen erstellt, die ihm Constantin Rößler, der Redakteur des Preußischen Staatsanzeigers, schon während der Kaiserdiskussion im Frühjahr hatte zukommen lassen. Ludwig übernahm Bismarcks Entwurf ohne relevante Änderungen. In dem Brief informierte er Wilhelm, dass er sich an die anderen Fürsten gewandt und ihnen vorgeschlagen habe, „gemeinschaftlich […] in Anregung zu bringen, daß die Ausübung der Präsidialrechte des Bundes mit der Führung des Titels eines Deutschen Kaisers verbunden werde“. Er habe sich zu diesem Schritt entschlossen, da „dadurch den Gesamt-Interessen des deutschen Vaterlandes u. seiner verbündeten Fürsten entsprochen werde“. Zugleich vertraue er aber darauf, „daß die dem Bundespräsidium nach der Verfassung zustehenden Rechte durch die Wiederherstellung eines deutschen Reiches und der deutschen Kaiserwürde als Rechte bezeichnet“ würden, welche der preußische König „im Namen des gesammten deutschen Volkes auf Grund der Einigung seiner Fürsten“ ausübe.140

Der offizielle Antrag, auf dem die anschließende Proklamierung des Kaisers beruhte, erklärte das Kaisertum also zu einem Ausfluss des Fürstenbundes. Dem Kaiser sollten seine Rechte nur als Folge einer „Einigung“ der Fürsten zustehen. Die „staatsrechtliche Grundlage des Reichs“ war demnach keine Reichsmonarchie, sondern ein „Fürstenbündnis, das dem Kaiser die Reichsgewalt nur delegierte“, wie Ernst Rudolf Huber hervorgehoben hat. Gleichzeitig verwandelte der Kaisertitel die Rechte des Bundespräsidiums von preußischen Privilegien in Reichsbefugnisse. Diese Umformung preußisch-königlicher zu national-kaiserlicher Gewalt machte es für die einzelstaatlichen Monarchen wiederum einfacher, einen Teil ihrer Souveränität an das Bundespräsidium abzugeben. Eben deshalb drängten „die deutschen Fürsten in ihrer Mehrzahl“ ja auf die Einführung des Kaisertitels, wie Bismarck Delbrück einen Tag nach Abschluss des letzten Einigungsvertrages wissen ließ.141

Dass die Kaiserkrone ihren Ursprung in dem Bund der Fürsten hatte, unterstrich Bismarck noch einmal, als die Zustimmung der süddeutschen Landtage zu den Einigungsverträgen auf sich warten ließ. Da es angesichts des anhaltenden Widerstands der Patriotenpartei fraglich schien, ob das bayerische Abgeordnetenhaus überhaupt seine Genehmigung erteilen würde, instruierte er noch am Weihnachtstag den preußischen Gesandten in München, der dortigen Regierung zu verstehen zu geben, dass die anstehende Kaiserproklamation von allen parlamentarischen Entscheidungen unabhängig sei: „Was speziell die Kaiserfrage betrifft, so würden wir auch darin, in Übereinstimmung mit dem einmütigen Drange der Nation, uns durch ein ablehnendes Votum der bayerischen Kammer nicht abhalten lassen vorzugehen. Der Antrag des Königs von Bayern und sämtlicher übriger deutscher Souveräne ist von dem Votum einer Minorität der jetzigen Zweiten Kammer unabhängig, und die Annahme des Kaisertitels wird nicht durch dieses Votum bedingt. Es würde vielmehr auch nach der Auffassung Seiner Majestät des Königs unseres allergnädigsten Herrn nur um so mehr hervortreten, daß es die Fürsten-Souveräne und nicht einzelnen Kammerabstimmungen sind, welche in Vertretung des nationalen Gefühls Seiner Majestät die Kaiserkrone darbringen.“142

In das gleiche Horn hatte Kaiser Wilhelm schon einige Tage zuvor gestoßen, als er die Deputation des Reichstages empfing, die ihm unter der Führung von Parlamentspräsident Eduard von Simson darum bat, „durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen“, wie es in der offiziellen Adresse hieß. Nachdem er die Volksvertreter eine Woche hatte warten lassen, betonte er in seiner Erwiderung auf dieses Gesuch, dass die ihm angetragene Standeserhöhung alleine von den Fürsten ausging. „Mit tiefer Bewegung“ habe ihn „die durch Se. Majestät den König von Bayern an [ihn] gelangte Aufforderung zur Herstellung der Kaiserwürde […] erfüllt“. Die parlamentarische Abordnung verstehe er so, dass sie ihm lediglich „im Namen des norddeutschen Reichstages die Bitte“ bringe, sich diesem an ihn „ergehenden Rufe nicht [zu] entziehen“. Er „nehme gerne [diesen] Ausdruck des Vertrauens und den Wunsch des norddeutschen Reichstages entgegen“. Allerdings erkenne er „nur in der einmütigen Stimme der deutschen Fürsten und freien Städte und in dem damit übereinstimmenden Wunsch der deutschen Nation und ihrer Vertreter […] den Ruf der Vorsehung […], dem [er] mit Vertrauen auf Gottes Segen folgen“ dürfe. Es gereiche aber sicher auch den Volksvertretern „zur Genugthuung […], daß [er] durch Se. Majestät den König von Bayern die Nachricht erhalten habe, daß das Einverständniß aller deutschen Fürsten und freien Städte gesichert [sei] und die amtliche Kundgebung desselben“ bevorstehe.143

Die Proklamationsurkunde, die Bismarck verfasste und bei der Zeremonie im Versailler Spiegelsaal am 18. Januar verlas, machte diese Interpretation des Kaisertums amtlich. Darin hieß es: „Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, nachdem die Deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reiches die seit mehr als sechzig Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen, […] bekunden hiermit, daß Wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem Ruf der verbündeten Fürsten und Städte Folge zu leisten und die deutsche Kaiserwürde anzunehmen.“ Diese Verlautbarung erklärte den Kaiser zu einem von den Fürsten eingesetzten Mandatsträger. Um das zu unterstreichen, spielte die Formel genau wie der Kaiserbrief und die Ansprache, die Wilhelm bei der Proklamationszeremonie hielt, mit der Idee, dass das neue Kaisertum eine „Wiederherstellung“ der 1806 erloschenen Kaiserwürde des Heiligen Römischen Reiches sei. Wie schon das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, glaubte außer dem Kronprinzen keiner der politischen Entscheidungsträger an irgendeine echte Verbindung zwischen dem neuen und dem alten Kaisertum. Zu unterschiedlich waren die politischen, dynastischen und historischen Umstände. Trotzdem war die Anspielung auf den römisch-deutschen Vorgänger wichtig. Denn sie suggerierte, dass sich der neue Kaiser gleich dem Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches nicht als Reichsmonarch über die regierenden Fürsten erhob, sondern aus ihrem Kreis zum Sachverwalter ihrer Interessen erwählt wurde. Dementsprechend gelobte Wilhelm, „die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht [zu übernehmen], in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glieder zu schützen“, das heißt den Fürstenbund und die Souveräne, die ihm angehörten, zu verteidigen.144

Die Proklamation, das einzige öffentliche Ritual der Reichsgründung, war also um die Legende vom Fürstenbund herum aufgezogen. Sie stellte das Reich als ein Bündnis souveräner Monarchen und den Kaiser als dessen obersten Vertreter dar. Auch der kaiserliche Titel, den Bismarck erst nach einem erbitterten, bereits im vorhergehenden Kapitel geschilderten Streit mit dem preußischen König und dessen Thronfolger durchsetzen konnte, war Teil dieser Inszenierung. Die Fürsten setzten keinen „Kaiser von Deutschland“ ein, der die Hoheitsgewalt über das Reich beanspruchte, sondern nur einen „Deutschen Kaiser“, der als primus inter pares ihren Bund anführte. Indem die süddeutschen Landtage und der Reichstag den Einigungsverträgen zustimmten und Letzterer, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, die Bezeichnungen „Kaiser“ und „Reich“ in die Verfassung aufnahm, bestätigten sie neben dem Sein des frisch geschaffenen kleindeutschen Nationalstaats auch diesen Schein des Fürstenbundes.

Bismarcks ewiger Bund

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