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Kapitel 3: Verfassungsgebung als Realpolitik

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Die Zeit der Ideale ist vorbei. Die deutsche Einheit ist aus der Traumwelt in die prosaische Welt der Wirklichkeit hinuntergestiegen. Politiker haben heute weniger als je zu fragen, was wünschenswert, als was erreichbar ist.1

Die Sitzreihen im Osnabrücker Club der Harmonie waren an diesem kalten Winterabend des 30. Dezember 1867 dicht gefüllt. Alle, die in der westfälischen Stadt Rang und Namen hatten, waren der öffentlichen Einladung „zur Besprechung der wichtigsten politischen Fragen der Gegenwart“ gefolgt. Die Stimmung war aufgeregt. Viele waren geradezu euphorisch über den Sieg Preußens gegen Österreich, die Auflösung des alten Bundes, und die bevorstehenden Wahlen zum konstituierenden Reichstag. Große Veränderungen lagen in der Luft. Aber wie würde die Neuordnung Deutschlands aussehen? Bislang kursierten nur Gerüchte über den Verfassungsentwurf, an dem Bismarck gerade mit den Vertretern der anderen norddeutschen Regierungen in Berlin feilte. Vereinzelt munkelte man, dass „die konstitutionelle Entwicklung in den einzelnen Staaten“ und die „bürgerliche Freiheit“ von der Errichtung einer „Militärdiktatur“ in einem „Großstaat Preußen“ bedroht sein könnten. Noch gab es aber keine offiziellen Verlautbarungen. Umso gebannter lauschten die Versammelten jetzt, wie ihr Bürgermeister Johannes von Miquel, von dem es hieß, er habe einen guten Draht zur preußischen Regierung, die Stunde der Realisten ausrief.2

Miquels Wort hatte Gewicht. 1859 hatte er den Deutschen Nationalverein mitbegründet. Seitdem gehörte er zu den wichtigsten liberalen Politikern in Deutschland. Sofort nach der Annexion Hannovers durch Preußen war er im Sommer 1866 ins preußische Abgeordnetenhaus eingezogen und hatte dort eine entscheidende Rolle bei der Abspaltung der Nationalliberalen von der Fortschrittspartei gespielt. Er hatte nach dem Triumph der preußischen Armee bei Königgrätz intensiv darum geworben, die Fundamentalopposition gegen Bismarck aufzugeben, den preußischen Verfassungskonflikt beizulegen und die preußische Regierung bei der Umgestaltung Deutschlands zu unterstützen. Um die neue Verfassung mit zu verhandeln, kandidierte er jetzt für einen Sitz im konstituierenden Reichstag. Dafür bewarb er sich an diesem Abend mit einem Manifest des Pragmatismus. Man sei zu lange daran gewöhnt gewesen, erklärte er, „auf den inneren Trieb, der in den Dingen selbst [liege], auf das täglich schreiender werdende Bedürfnis einer nationalen Wiedergeburt, auf die wachsende Einsicht im Volke“ zu vertrauen. Aber „nun [seien] die Ereignisse ganz anders gekommen“ und die Vereinigung Deutschlands nicht durch das Volk, sondern „allein durch die Heeresmacht des preußischen Staates“ auf den Weg gebracht worden. Diese „reale Natur der Dinge“ müsse man jetzt akzeptieren, „patriotischen Sinn“ walten lassen und „Opferfreudigkeit“ zeigen. Auch wenn man früher „die Lösung der deutschen Frage durch das deutsche Volk und auf dem Wege der Freiheit“ angestrebt habe, müsse man „jetzt weiter bauen auf der vorhandenen Grundlage, weil sie die einzige“ [sei].

Konkret hieße das unter anderem, sich damit abzufinden, dass die Vereinigung Deutschlands vorerst kein liberales Regierungssystem errichten werde. „Die Hauptaufgabe des Staates“ liege „vorerst […] nicht auf dem Gebiet bürgerlicher Freiheit, sondern auf dem Gebiet der Machtstellung, äußeren Sicherheit und der volkswirtschaftlichen Entwicklung“. „Vor allem [gelte] es heute, ein starkes und sicheres Haus zu bauen, dann erst [werde] die Zeit kommen, das Haus zu zieren und zu schmücken“. Auch zur Angliederung des Südens sei das die richtige Strategie. Denn „je stärker der Norddeutsche Bund organisiert [werde], um so gewaltiger [werde] seine Anziehungskraft auf Süddeutschland sein“. Deshalb bestehe „die einfache Aufgabe des nächsten Parlaments darin, die nationalen Elemente zu sammeln, die partikularistische Reaktion zu überwinden und die Regierung in ihrem Bestreben, einen einheitlichen und kräftigen norddeutschen Staat aufzurichten, nach Kräften zu unterstützen“. Das hieße keinesfalls, die „nationale Entwicklung“ gegen „den Absolutismus“ einzutauschen. Denn man könne „die Bildung des Norddeutschen Bundes auf solchen Grundlagen zu erlangen suchen, die mindestens die zukünftige Ausbildung eines wahrhaft konstitutionellen Staats nicht von vornherein verhindern“. Es gelte, sich „immer gegenwärtig“ zu halten, „daß die Einheit zur Freiheit führen soll und auf die Dauer nur durch die Freiheit gesichert werden“ könne. „Die wahre Einheit“ werde nämlich erst „gewährleistet durch eine Staatsform, welche […] ein harmonisches Zusammenwirken aller lebensfähigen Kräfte“ zulasse.3

Miquels Rede nahm vorweg, was sich wenige Monate später bewahrheiten sollte: Die Verhandlungen der neuen deutschen Verfassung im konstituierenden Reichstag von 1867 standen ganz im Zeichen der Realpolitik. Im Streit zwischen den verschiedenen Parteien und Bismarck, dem Chefunterhändler der einzelstaatlichen Regierungen, wurde die Verfassung nicht aus seichten Träumen idealistischer Staatsvorstellungen geschmiedet, sondern aus der harten Wirklichkeit politischer Kompromisse. Mochte Bismarck der Meister der Realpolitik sein, so bewiesen die Nationalliberalen, dass auch sie diese Kunst beherrschten. Ihr Pragmatismus half einer Verfassung in die Welt, die keiner der an dem Vereinigungsprozess Deutschlands beteiligten Kräfte alles, aber jeder etwas gab. Man habe „einen dem in Deutschland gewohnten Wege völlig entgegengesetzten eingeschlagen“, betonte der Historiker Heinrich von Sybel während der Verhandlungen im Reichstag, wo er der nationalliberalen Fraktion angehörte. Denn man habe „nicht ein noch so vortreffliches Hand- und Lehrbuch der Politik genommen“, […] das Sparrwerk des formalen constitutionellen Staatswesens zu Papier gebracht, [und] dann […] diesen Fächern zu Liebe die im Lande vorhandenen realen Kräfte zerschnitten […], sondern umgekehrt, [.…] in dem Chaos der vorjährigen Deutschen Zustände […] die existirenden realen Kräfte aufgesucht [und] nach deren Zahl und Maaß gesetzliche Formen zu schaffen gestrebt“.4

Wie genau sahen diese „Formen“ aus? Und welche Absichten standen hinter ihnen? Mit anderen Worten: Was für eine strukturelle Grundlage schufen die Verfassungsverhandlungen für den neuen Bund? Diese Fragen sind alles andere als einfach zu beantworten. In der Verfassung, auf die sich Bismarck mit dem Reichstag einigte, war das Explizite genauso wichtig wie das Implizierte, das Offengelassene genauso bedeutend wie das Festgelegte und das Verschwiegene genauso entscheidend wie das Niedergeschriebene. Der ganze Text war, wie der Weimarer Minister Christian Bernhard von Watzdorf schon in den Beratungen der einzelstaatlichen Regierungen anmerkte, „absichtlich etwas dunkel gehalten“. Im Nachhinein scheint es fast so, als seien die Verfassungsgeber einer Maxime gefolgt, die Talleyrand schon zu Zeiten des Wiener Kongresses aufgestellt hatte. Eine gute Verfassung, so der französische Diplomat und Großmeister der Realpolitik, müsse vor allem eines sein: „kurz und dunkel“.5

Der Geschichtswissenschaft ist es bisher nicht wirklich gelungen, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Unter den großen Kaiserreichshistorikern der letzten fünf Jahrzehnte gehen die Meinungen über die Verfassung weit auseinander. In dem Irrgarten der Artikel und Bestimmungen haben sie jeweils andere Abzweigungen genommen und sind zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen gelangt. Hans-Ulrich Wehler beschrieb die Verfassung als „pseudokonstitutionellen Semi-Absolutismus“, das heißt als eine in staatsrechtliche Regeln gehüllte Alleinherrschaft, die die wichtigsten Bereiche der Exekutive, allen voran die Militärgewalt, vom Einfluss des Parlaments abschirmte. Wolfgang Mommsen sprach dagegen von einem „System umgangener Entscheidungen“ und einem „dilatorischen Herrschaftskompromiss“, der die entscheidenden Probleme, wie zum Beispiel die Einrichtung einer in ihren Rechten und Pflichten klar definierten Regierung, nicht löste, sondern nur verschob. Für Michael Stürmer war die Verfassung wiederum nicht mehr als ein „Organisationsstatut“, eine bloße Aufstellung von mehr oder weniger zusammenhängenden Regeln. Volker Ullrich erkannte in ihr schließlich einen „merkwürdigen Zwitter“, in dem sich Elemente aus verschiedenen, teils widersprüchlichen Systemen zu einem eigentümlichen Mischmasch vereinten.6

Alle diese Beschreibungen haben etwas für sich. Die teils sperrigen, teils abstrakten Formulierungen zeigen aber auch, wie schwer sich Historiker damit tun, konkrete Aussagen über die Verfassung zu treffen. Das liegt nicht nur an der Komplexität und Widersprüchlichkeit der einzelnen Bestimmungen, sondern auch an einer ganz bestimmten Herangehensweise. Wir sind es gewöhnt, Verfassungen in ein Standardschema von Regierungsordnungen einzuordnen. Dementsprechend haben sich Historiker bisher vor allem damit beschäftigt, inwieweit es sich bei der Verfassung um eine konstitutionelle oder parlamentarische Monarchie, eine besondere Form des Absolutismus oder um eine ganz eigene Herrschaftsordnung handelte. Die bekannteste Auseinandersetzung dazu trieb die beiden bedeutendsten Verfassungshistoriker der deutschen Nachkriegsgeschichte für gut drei Jahrzehnte um. Ernst Rudolf Huber verstand die Reichsverfassung als Höhepunkt des deutschen Konstitutionalismus und damit als Verkörperung eines eigenständigen Verfassungstypus, der durch eine einzigartige Balance zwischen monarchischer Exekutive und parlamentarischer Legislative eine ganz besondere Kompromissfähigkeit gehabt habe. Sein Kontrahent Ernst-Wolfgang Böckenförde hielt die Verfassung dagegen für eine Übergangsform zwischen monarchischer und parlamentarischer Monarchie, deren dualistischen Strukturen ein einigendes Formprinzip gefehlt habe.7

Letztlich helfen uns solche Diskussionen wenig, Aufbau und Funktion der Verfassung besser zu verstehen. Denn alle Versuche, sie als ein einheitliches System zu begreifen, sei es konventioneller, sei es eigener Prägung, gehen von einer grundsätzlich falschen Annahme aus. Wie Lothar Gall in seiner monumentalen Bismarck-Biografie hervorgehoben hat, kann man „von der Verwirklichung einer besonderen Staatsidee“ in der Reichsverfassung „nur sehr begrenzt sprechen, auch wenn darüber damals wie später von Juristen wie Historikern mehr oder weniger Geistreiches gesagt und geschrieben worden ist“. Mit anderen Worten: Die Verfassung war überhaupt kein staatsrechtliches System im herkömmlichen Sinne. „Die gewöhnliche sogenannte constitutionelle Schablone“, betonte der freikonservative sächsische Abgeordnete Ludwig von Zehmen im konstituierenden Reichstag, kann einfach „für das Verfassungswerk […] nicht passend scheinen“. Denn das Dogma der Verfassung war das Fehlen eines jeden Dogmas. Sie kannte kein stringentes Organisationsprinzip, dem alle oder auch nur die Mehrheit ihrer Bestimmungen folgten. Will man sie als eine in sich schlüssige Ordnung beschreiben, kann man sich daher nur in dem Dunkel verirren, in das ihr verschachtelter Aufbau ihre wahren Absichten hüllte.8

Diese Systemlosigkeit der Verfassung war kein Zufall. Die Verhandlungen im Reichstag verzichteten genau wie Bismarcks Entwurf ganz bewusst darauf, eine bestimmte Organisationsform einzurichten. Das Augenmerk lag stattdessen darauf, die Verfassung als einen pragmatischen Kompromiss zwischen den Kräften anzulegen, die an der Gründung des Bundes beteiligt waren. „Theoretisch kann man viel [über die Verfassung] sagen“, blickte Bismarck 1878 im Reichstag bei der ersten großen Strukturreform des Regierungssystems zurück, „praktisch war sie der Abdruck dessen, was damals tatsächlich vorhanden und was in der Folge dessen möglich war, mit der geringen Ausdehnung und Richtigstellung, die sich damals im Augenblick machen ließ“. Anders gesagt: Die Verfassung war ein Stück textgewordene Realpolitik, das sich darauf beschränkte, die Machtverhältnisse, die zu seiner Entstehung führten, strukturell abzubilden. Sie definierte deshalb kein einheitliches System, wie Christopher Clark in seinen Betrachtungen Von Zeit und Macht betont hat, sondern nur einen losen „Rahmen für ein Wechselspiel der Kräfte“.9

Die Vorlage für diesen Rahmen lieferte Bismarcks Verfassungsentwurf, dessen Entstehung wir im vorhergehenden Kapitel verfolgt haben. Was Bismarck nach dem Gang durch das Preußische Staatsministerium und die Konferenz der einzelstaatlichen Regierungen dem konstituierenden Reichstag präsentierte, war ein auf der Idee des Fürstenbundes basierendes Konglomerat aus Vorschriften, die Preußen eine hegemoniale Stellung sicherten, die Souveränität der monarchischen Häupter schützten und dem Parlamentarismus enge Schranken setzten. Was der Reichstag auf Betreiben der Liberalen daraus machte, war ein noch komplexeres und flexibleres Gefüge, das eine Unitarisierung des Bundes begünstigte, Ansätze einer Reichsmonarchie enthielt und die Entstehung einer verantwortlichen Regierung möglich machte. In seiner während der Übergangszeit vom Kaiserreich zur Weimarer Republik veröffentlichten Studie der Reichsgründung behauptete der Historiker Erich Brandenburg deshalb, dass „die Umgestaltung, welche die Verfassung durch den Reichstag erfahren [habe], […] so weitgehend gewesen [sei] und […] sich auf so wichtige Punkte erstreckt [habe], daß von dem Entwurf der Regierungen eigentlich nur das Grundgerüst stehen geblieben [sei]“.10

Diese Einschätzung geht nach allem, was wir heute über die Ausarbeitung des Entwurfs und den Verlauf der Verhandlungen wissen, zu weit. Auf einige Anpassungen, die der Reichstag vornahm, hatte Bismarck schon bei Erstellung des Entwurfs spekuliert. Außerdem wurden die weitgehendsten Änderungsvorschläge, die vor allem aus der Ecke der Linksliberalen kamen, entweder von den anderen Fraktionen verworfen oder von Bismarck im Namen der verbündeten Regierungen abgelehnt. Und dennoch: Der konstituierende Reichstag hatte zweifelsohne einen profunden Einfluss auf die Gestaltung der Verfassung. Die über neunzig Amendements, die eine Mehrheit fanden und von Bismarck akzeptiert wurden, veränderten den ursprünglichen Entwurf beträchtlich. Außerdem stellten sie ein für alle Mal die Funktion des konstituierenden Reichstages klar. Bei dessen Zusammentritt war noch offen gewesen, was genau sein Auftrag war. Es gab keine eindeutigen Vorgaben darüber, ob er den Entwurf nur diskutieren und unverbindliche Vorschläge machen oder ihn abändern und über sein Inkrafttreten abstimmen sollte. Nicht wenige, vor allem liberale Stimmen forderten, lieber das preußische Abgeordnetenhaus zur entscheidenden parlamentarischen Instanz für die Verhandlungen des Entwurfs zu machen. Durch die Art und das Ausmaß der Amendements, die durch die dynamische Debatte unter den Abgeordneten zustande kamen, reklamierte der Reichstag diese Stellung aber eindeutig für sich. Heinrich von Treitschke schrieb dazu in einem Aufsatz für die Preußischen Jahrbücher von 1867: „Das Preußische Abgeordnetenhaus wies dem Reichstag nur die bescheidenen Befugnisse einer beratenden Versammlung zu, die zwingende Macht der Lage erhob ihn zu einem vereinbarenden Parlament.“11

Trotz dieser wichtigen Rolle, die der konstituierende Reichstag für das Zustandekommen der Verfassung spielte, wissen wir verhältnismäßig wenig über ihn. Die Forschung hat sich nie groß für ihn interessiert. Selbst Heinrich von Sybel, der an den Verhandlungen als Abgeordneter teilnahm, hat den Reichstag in seiner Darstellung der Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., abgesehen von einer Beschreibung der angeblichen Harmonie zwischen Bismarck und dem Liberalismus, weitgehend übergangen. Auch spätere Studien zur Reichsgründung haben dem Parlament nicht viel Beachtung geschenkt. Die meisten betonen zwar seinen eng gesteckten Handlungsspielraum, befassen sich aber nicht weiter damit, wie und warum die Verhandlungen die Verfassung änderten. Es gibt überhaupt nur eine umfangreichere Analyse der inneren Entscheidungsprozesse des Reichstages. Klaus Erich Pollmann hat sie vor über dreißig Jahren als Teil einer Studie über den Parlamentarismus im Norddeutschen Bund angefertigt. Darin widmet er sich jedoch mehr der Struktur der Versammlung und dem Staatsverständnis der Abgeordneten als den konkreten Änderungen, die diese an der Verfassung vornahmen. Kurzum: Während wir aus diversen Gesamtdarstellungen zur deutschen Verfassungsgeschichte zumindest die wichtigsten Amendements kennen, die der Reichstag vorgenommen hat, wissen wir nur sehr wenig über die Debatten, aus denen sie entstanden.12

Wollen wir begreifen, was hinter den einzelnen Bestimmungen der Verfassung steckte, müssen wir das ändern. Bismarck betonte gleich zu Beginn der parlamentarischen Beratungen, dass sich „die Motive [der Verfassung] aus der allgemeinen und späteren Special-Discussion ergeben [werden] von Seiten derjenigen, die den Verfassungs-Entwurf unterstützen, oder durch die Erklärungen der Regierungen, die gefordert werden, und die sich an die auftauchenden Zweifel knüpfen werden“. Besonders die liberalen Abgeordneten waren ohnehin entschlossen, die Absichten hinter den vorgeschlagenen Strukturen aufzudecken und gegebenenfalls für Anpassungen zu werben. Sie übten scharfe Kritik daran, dass Bismarck dem Entwurf keinerlei Materialien über dessen Motive beigefügt hatte. Eduard Lasker, der Wortführer des linken Flügels der Nationalliberalen, vermutete dahinter gar den Versuch, den „wahren Geist der Verfassung“ zu verschleiern und das Parlament von möglichen Änderungen abzuhalten. Viele sahen in diesem Informationsmangel aber auch eine Chance, eben diesen Geist der Verfassung selbst zu bestimmen und ihr so eine ganz bestimmte Richtung zu geben. So forderte etwa Laskers Parteikollege Carl Braun das Parlament unter der lauten Zustimmung seiner Kollegen auf: „Die Motive, die belebende Kraft, müssen wir selbst in diesen Entwurf hineintragen, und die Ausbildung müssen wir unserer Nation und der Zeit und der Zukunft überlassen.“13

Um die Verfassung und die in sie gesetzten Erwartungen zu verstehen, müssen wir also die Überlegungen, die den wichtigsten Bestimmungen zugrunde lagen, aus der Debatte im konstituierenden Reichstag rekonstruieren. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die dortigen Verhandlungen unter ganz besonderen Bedingungen stattfanden, die die Abgeordneten teilweise unter erheblichen Zugzwang setzten. Eine davon war der Faktor Zeit. Die parlamentarischen Beratungen wurden trotz der komplexen Materie im Eiltempo durchgepeitscht. Zwischen der Einbringung des Entwurfs am 4. März und der Schlussabstimmung am 16. April lagen gerade einmal sechs Wochen. Die Versammlung gönnte sich für gewöhnlich nur einen Ruhetag pro Woche. An den meisten übrigen Tagen kam sie für fünf bis sechs Stunden im Gebäude des Preußischen Herrenhauses in der Leipziger Straße in Berlin, dem heutigen Sitz des Bundesrates, zusammen. Die Verträge, die die norddeutschen Regierungen zur Einrichtung eines „neuen Bundesverhältnisses“ verpflichteten, liefen im August aus. Bismarck hatte sie bewusst so angelegt, um den Reichstag unter Druck zu setzen und den Parteien keine Zeit für lange taktische Spielchen zu lassen. Wollten sie die Gründung des Nationalstaates nicht gefährden, hatten sie gar keine andere Wahl, als den Entwurf rasch durchzuwinken. Denn nach dem Reichstag mussten auch noch die Landtage und die Regierungen der Einzelstaaten der endgültigen Version der Verfassung zustimmen. „In allen diesen Momenten“, unterstrich Bismarck, als er den Entwurf in den Reichstag einbrachte, liege „eine neue Aufforderung zur Beschleunigung“ der Beratungen. Er wage gar nicht, „die Situation […] näher in’s Auge zu fassen, in welche Deutschland gerathen würde, wenn bis zum 18. August […], also in 5 ½ Monaten […], unser Werk nicht zum Abschluß gebracht würde“.14

Mit dieser indirekten Warnung spielte Bismarck auf einen weiteren Umstand an, der den Reichstag dazu drängte, den Weg für die Verfassung alsbald frei zu machen: die Gefahr eines Krieges mit Frankreich. Hintergrund war die sogenannte Luxemburgkrise. Während des Krieges zwischen Preußen und Österreich hatte Bismarck Napoleon III. in geheimen Verhandlungen den Erwerb von Luxemburg als Gegenleistung für die Neutralität Frankreichs in Aussicht gestellt. Das Großherzogtum gehörte zwar sowohl zum Deutschen Bund als auch zum Deutschen Zollverein, war aber in Personalunion mit den Niederlanden verbunden. Bismarck und Napoleon kamen überein, dass Frankreich sich das kleine Land gegen eine Zahlung von fünf Millionen Florins an den niederländischen König einverleiben könnte. Als dieses Arrangement nach dem Krieg publik wurde, ging ein Sturm der Entrüstung durch die deutsche Öffentlichkeit, die sich ob der Neuordnung der deutschen Verhältnisse im nationalen Fieber befand. Luxemburg, das Stammland der gleichnamigen Dynastie, die vier Kaiser des Heiligen Deutschen Reiches gestellt hatte, galt den meisten als deutsches Land, das unmöglich dem Erzfeind überlassen werden konnte. Unter diesem öffentlichen Druck musste Bismarck seine Zusage an Napoleon III. zurückziehen. Der französische Gebietserwerb fiel flach, und eine internationale Konferenz in London garantierte im Mai die künftige Unabhängigkeit und Neutralität Luxemburgs.15

Diese Krise spannte die Beziehungen zwischen Berlin und Paris zeitweise so sehr an, dass ein Krieg kurz bevorzustehen schien. Beide Seiten erhöhten ihre militärische Alarmbereitschaft. Frankreich mobilisierte seine Truppen. Bismarck drohte mehrmals mit einer Generalmobilmachung der norddeutschen Einzelstaaten. Diese außenpolitische Bedrohung machte die rasche Konsolidierung der staatlichen Umgestaltung Deutschlands zu einer sicherheitspolitischen Notwendigkeit. In dieser Situation waren die Nationalliberalen ganz besonders gefragt, weil von ihnen die Mehrheitsbildung im konstituierenden Reichstag abhing. Rudolf von Bennigsen, der als langjähriger Vorsitzender des Deutschen Nationalvereins und jetziger Vizepräsident des Reichstages eine ihrer Galionsfiguren war, richtete deshalb am 1. April eine vorher mit Bismarck abgesprochene und von insgesamt siebzig Abgeordneten fraktionsübergreifend unterzeichnete Interpellation an die preußische Regierung, die sich nach deren Haltung in der Luxemburg-Frage erkundigte. Darin versicherte er, dass „alle Parteien einig zusammenstehen werden in der kräftigsten Unterstützung zur Abwehr eines jeden Versuchs, ein altes deutsches Land von dem Gesammt-Vaterlande loszureißen“.16

Vor dem Plenum erklärte er dazu im Namen seiner liberalen Kollegen, die ihn immer wieder mit lauten „Bravo“-Rufen unterbrachen: „Die Interpellation […], sie ist absichtlich von uns gerade ausgegangen, weil […] in solchen Fällen der auswärtigen Politik, wo es gilt Deutschen Boden zu verteidigen gegen ungerechte Gelüste des Auslandes, keine Parteien im Hause existiren dürfen, daß die Schwierigkeiten, welche sich in den letzten Wochen bei einzelnen Fragen des Ausbaus der inneren Verfassung gezeigt haben, die Differenzen, die bis heute noch nicht vollständig gelöst sind, zwischen den liberalen Parteien des Reichstages und der Vertretung der Regierungen, daß sie nicht den geringsten Einfluß äußern werden auf die Haltung des ganzen Reichstages, wo es gilt, muthig und entschlossen dem Auslande gegenüber zu stehen“. Im Gegenteil, „die Gefahr der Einmischung des Auslandes in unsere Angelegenheiten, die Gefahr, daß wir jetzt an unsern Grenzen Stücke von Deutschland verlieren sollen, wenn wir uns nicht schnell verständigen“, betonte er, werde „das Bedürfniß der Verständigung bei den Regierungen und bei den Vertretern der Nation nur steigern“. Die Botschaft war klar. Angeführt von den Nationalliberalen wollte die Mehrheit des Reichstages lieber im Streit um einzelne Aspekte des Entwurfs nachgeben als die Verhandlungen in die Länge zu ziehen, die Verfassung am Ende womöglich scheitern zu lassen, und so Deutschland ohne gemeinsame staatliche Struktur einem französischen Angriff auszusetzen.17

Neben der angespannten außenpolitischen Lage überschattete auch die jüngere Geschichte die Verhandlungen. Die Erinnerung an 1848/49 war im konstituierenden Reichstag allgegenwärtig. Viele Abgeordnete hatten die Revolution selbst miterlebt, ja waren schon damals in parlamentarischen Versammlungen tätig gewesen. Besonders die Liberalen hatten viele Veteranen in ihren Reihen. Der nationalliberale Eduard von Simson, der zum Präsidenten des Reichstages gewählt wurde, hatte auch schon der Frankfurter Nationalversammlung und dem Erfurter Unionsparlament vorgestanden. Seine Kollegen hoben ihn gegen seinen Willen noch einmal ins Amt, um die Kontinuität des liberalen Kampfes für die Einheit und Modernisierung Deutschlands zu betonen. Seine Wahl machte deutlich, wie stark die Liberalen noch unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution standen. Zu keinem Zeitpunkt der Verhandlungen konnten sie sich davon frei machen, dass der damalige Versuch, einen Nationalstaat durch einen parlamentarischen Alleingang zu gründen, kurz vor der Ziellinie gescheitert war. 1848/49 war für sie ein Trauma, das ihre Positionen zur neuen Verfassung entscheidend mitbestimmte.18

Bismarck versäumte nicht, daraus Kapital zu schlagen. Das Trauma der Liberalen gab ihm ein effektives Druckmittel an die Hand, um sie dazu zu drängen, seinem Entwurf zuzustimmen. Gleich in seiner Eröffnungsrede erinnerte er daran, wie vor knapp zwanzig Jahren erst die Frankfurter Paulskirche und dann das Erfurter Unionsparlament die Nationalstaatsgründung in den Sand gesetzt hatten: „Liefern […] wir den Beweis“, forderte er die Abgeordneten auf, „daß wir – und Alle, die wir hier sind, wir haben es selbst erlebt – die Lehren zu Herzen genommen haben, die wir aus den verfehlten Versuchen von Frankfurt und von Erfurt ziehen mußten“. Diese Lehren bestünden vor allem darin, dass die liberalen mit den konservativen Kräften zusammenarbeiten und kompromissbereit sein müssten. Nur so sei eine Vereinigung Deutschlands zu bewerkstelligen und eine Wiederholung des Fiaskos von 1848/ 49 zu verhindern. „Das Deutsche Volk“, erhöhte er den Druck, „hat ein Recht, von uns zu erwarten, daß wir der Wiederkehr einer solchen Katastrophe vorbeugen, und ich bin überzeugt, daß Sie mit den verbündeten Regierungen Nichts mehr am Herzen liegen haben, als diese gerechten Erwartungen des deutschen Volkes zu erfüllen.“19

Diese Warnung, angesichts der schlechten historischen Erfahrungen die eigenen Ansprüche herunterzuschrauben, erntete laut den Protokollen „lebhaftes Bravo von allen Seiten“. Besonders die Nationalliberalen betonten in der anschließenden Generaldebatte ausdrücklich ihre Absicht, bei den Spezialverhandlungen Pragmatismus statt Idealismus walten zu lassen. Dabei war ihre Angst, dass die Vereinigung Deutschlands womöglich wieder kurz vor Schluss misslingen könnte, fast greifbar. Wie sehr das Trauma von 1848/ 49 ihre Verhandlungsposition bestimmte, wurde zum Beispiel in einem emotionalen Appell deutlich, mit dem Carl Braun, der die Revolution im hessischen Nassau erlebt hatte, die anderen Abgeordneten zu Kompromissbereitschaft aufforderte: „Denkt an Frankfurt, seid bescheiden in Euren Ansprüchen, verlangt nicht Alles auf einmal, begnügt Euch mit einem Theile, damit das Ganze nicht wieder wie im Jahre 1849 als Fata Morgana in der Luft zerrinne.“ Auch wenn der Entwurf nicht den liberalen Idealen entspräche, sei er besser als gar keine Verfassung. „Der Entwurf [habe] wenig Aehnlichkeit mit dem, was wir nach gewöhnlichen Begriffen eine Constitution zu nennen pflegen“, gab er zu, und sei „in dieser Beziehung gerade nicht correct, noch viel weniger ‚elegant‘, […] allein, was würde der correcteste und eleganteste Entwurf helfen“, fragte er in die Runde, „wenn er ein Stück Papier bliebe, wie die so außerordentlich correcte und elegante Reichsverfassung vom Jahre 1849 geblieben ist“?20

Aus solchen Überlegungen zogen die meisten Liberalen den Schluss, genau wie Bismarck die Vereinigung Deutschlands als ein realpolitisches Problem anzugehen. Das bedeutete für sie, der Gründung eines Nationalstaates den Vorrang vor der Einrichtung einer liberalen Regierungsordnung einzuräumen. Dementsprechend kooperierten sie mit den konservativen Kräften und halfen einer Verfassung ins Leben, die vielen ihrer Ideale widersprach, von der sie aber hofften, sie in Zukunft ihren Vorstellungen gemäß umformen zu können. Die Losung, der sie folgten und die sie auch in den Verhandlungen des Reichstages immer wieder ausriefen, lautete „Einheit vor Freiheit“. Dabei ging es für sie um die Existenz der Nation. Georg von Vincke, der Wortführer der Altliberalen, die schon vor dem preußischen Verfassungskonflikt während der sogenannten „Neuen Ära“ zwischen 1858 und 1862 mit den Konservativen zusammengearbeitet hatten, erklärte dazu: „Einheit und Freiheit ist nicht möglich ohne Existenz. Was wir hier zu sichern haben, ist die Existenz des Deutschen Vaterlandes, zunächst die Existenz des Norddeutschen Bundes. Haben wir die, so lassen Sie uns weiter reden, wie er zur Einheit und zur Freiheit führt.“21

Diese Prioritätensetzung veranlasste die große Mehrzahl der Liberalen dazu, im Streit über die verschiedenen Verfassungsvorschriften immer wieder nachzugeben. Das Trauma von 1848/ 49 beeinflusste dadurch viele der wichtigsten Entscheidungen, die der Reichstag traf. Die Geschichte saß gewissermaßen immer mit am Verhandlungstisch. Für die Gestaltung der Verfassung hatte das Folgen, die die Entwicklung Deutschlands über Jahrzehnte hinaus prägten. Viele Historiker haben deshalb die Entscheidung, die Errichtung einer freiheitlichen Verfassungsordnung mit einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung und einem Katalog von Grund- und Bürgerrechten der Gründung des Nationalstaats unterzuordnen, als Teil eines fatalen Moments in der deutschen Geschichte beschrieben. In seiner Betrachtung zu Deutschlands langem Weg nach Westen schildert zum Beispiel Heinrich August Winkler, wie die gemäßigten Liberalen durch die Vertagung der Freiheitsfrage einen undemokratischen Macht- und Militärstaat legitimierten und so den neuen Nationalstaat auf einen verhängnisvollen Kurs setzten.22

Diese teleologische Sichtweise nimmt nicht nur der historischen Situation ihre Offenheit, sondern unterschätzt auch die strukturellen Veränderungen, die vor allem die Nationalliberalen im Reichstag durchsetzen konnten. Natürlich willigten sie dort letztlich in eine Verfassung ein, die in vielerlei Hinsicht das Gegenteil der Frankfurter Reichsverfassung von 1848/ 49 war. Angesichts ihrer beachtlichen Verhandlungserfolge kann man aber nicht davon sprechen, dass sie sich der Bismarckschen Machtpolitik wehrlos ergaben. Sie hielten vielmehr so weit wie möglich dagegen. Trotz des vorübergehenden Kompromisses, den sie eingingen, obwohl er vielen ihrer Ideale widersprach, erklärten sie zu keinem Zeitpunkt einen dauerhaften Verzicht auf ihre Forderung nach einer freiheitlichen Regierungsordnung. In Anbetracht dessen erscheint die Verfassung weniger als Kapitulationsurkunde denn als einstweiliges Kooperationsabkommen.23

Für das Zustandekommen dieses Abkommens waren die strukturellen Bezüge der neuen Verfassung zu ihren historischen Vorgängern von besonderer Bedeutung. Das machte gleich zu Beginn der Beratungen Benedikt Waldeck deutlich. Der Wortführer der linksliberalen Fortschrittspartei war ein lebendes Denkmal der jüngeren Verfassungsgeschichte. Während der 1848er-Revolutionen hatte er dem Verfassungsausschuss der Preußischen Nationalversammlung vorgestanden, der einen liberalen Verfassungsentwurf mit umfangreichen Grundrechten und einem parlamentarischen Regierungssystem ausgearbeitet hatte, die nach ihm benannte Charte Waldeck. Jetzt betonte der 65-Jährige, dass „der Verfassungs-Entwurf […] Reminiscenzen fast aus allen Theilen der deutschen Entwickelung“ enthalte. Daher sei es „nothwendig, daß, wenn man gründlich über diesen Verfassungs-Entwurf sprechen will, man sich in diejenigen Zustände vertieft, […] welche auf das Deutsche Reich den Deutschen Bund folgen ließen, in die Bestrebungen, welche in Frankfurt, welche in Erfurt, und dann nachher auch in anderen Projecten theilweise auftauchten“.24

Wie diese Aussage andeutete, waren drei historische Verfassungen ganz besonders wichtig für die Verhandlungen im Reichstag. Zum einen war das die Verfassung des Deutschen Bundes. Diese hatte aus zwei internationalen Verträgen, der Deutschen Bundesakte von 1815 und der Wiener Schlussakte von 1820 bestanden und die Herrschaft der Fürsten nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen wiederhergestellt. Zum anderen betrachteten die Abgeordneten den Entwurf immer wieder im Lichte der beiden Verfassungen, die im Rahmen der 1848er-Revolutionen für einen deutschen Nationalstaat entworfen worden waren: die liberale Verfassung der Frankfurter Nationalversammlung und die Verfassung der Erfurter Union, mit der die preußische Regierung das nationale Verfassungsprojekt nach dem Scheitern der Paulskirche in ihrem Sinne hatte umdeuten und so Österreich im Ringen um die Vorherrschaft in Deutschland hatte ausschalten wollen.

Teilweise entbrannte heftiger Streit darüber, inwieweit diese Vorgänger Vorbild für den neuen Bund sein sollten. So konterte Miquel die Bemerkungen Waldecks damit, dass er „von vorn herein den Versuch“ ablehne, „den Entwurf zu kritisiren aus historischen Reminiscenzen oder theoretischen Idealen“. Immerhin sei „die politische Lage neu und originell“. „Große Völker“, mahnte er, „kopiren nicht“ unter solchen Umständen, sondern „sind immer neu“. Hinter dieser Replik stand mehr als nur nationalistisches Pathos oder pragmatische Ignoranz. Die historischen Bezüge der neuen Verfassung waren so umstritten, weil damit ganz konkrete politische Machtfragen verknüpft waren. Jede Anlehnung an die staatenbündische Konstruktion des Deutschen Bundes stärkte die Monarchien. Schließlich waren die Bundesakte und die Wiener Schlussakte dazu geschaffen worden, die Stellung der Fürsten zu sichern. Umgekehrt bedeutete die Übernahme von diversen Bausteinen aus den Revolutionsverfassungen eine gewisse Liberalisierung, waren die Entwürfe von Frankfurt und Erfurt doch beide um ein starkes Parlament und eine umfangreiche Grundrechtsgarantie herum konstruiert worden. Die Frage, ob und wie sich die künftige Verfassung auf ihre Vorgänger beziehen würde, hatte also direkte Folgen für das Verhältnis zwischen monarchischen und parlamentarischen Kräften, dem Kerngegenstand der Verhandlungen.25

Die Beratungen des Reichstages waren aber nicht nur von der Geschichte, sondern auch von der Zukunft geprägt. Gedanken darüber, in welche Richtung sich die Verfassung nach ihrem Inkrafttreten entwickeln würde, spielten eine zentrale Rolle. Jedes politische Lager wollte den historischen Wendepunkt, den die Gründung eines Nationalstaates markierte, dafür nutzen, die eigenen Interessen nicht nur für den Moment, sondern auch für die Zukunft zu befördern. Alle rechneten damit, dass sich die Verfassung in den nächsten Jahrzehnten deutlich fortentwickeln würde. Besonders die Nationalliberalen versuchten deshalb immer wieder, Keime in die Verfassung zu streuen, die vielleicht später aufgehen konnten. So drehten sich die Verhandlungen oft weniger um das Heute als um das Morgen. Wie der linksliberale Abgeordnete Franz Jacob Wigard erklärte, verlangte schon „der reale, der praktische Boden, […] nicht allein die Gegenwart, sondern auch die Zukunft bei der Berathung [der] Vorlage in’s Auge [zu] fassen“. Schließlich „baut [man] kein Haus nur für heute, in dem man längere Zeit wohnen will, sondern man versieht es mit Grundfesten, damit es dauerhaft sei und schütze vor herannahenden Stürmen, und nicht selbst von ihnen umgerissen wird“.26

In den Verhandlungen des Reichstages verbanden sich also traumatische Erinnerungen an die Vergangenheit mit sicherheitspolitischen Sorgen um die Gegenwart und gespannten Erwartungen an die Zukunft. Dadurch entstand ein dichtes Geflecht aus Ängsten und Hoffnungen, das die Atmosphäre bestimmte, in der die Abgeordneten die einzelnen Bestimmungen von Bismarcks Entwurf entweder annahmen oder abänderten. So kam gewissermaßen zwischen dem Blick zurück und dem Blick nach vorn eine Verfassung zustande, die eine Momentaufnahme der Machtverhältnisse zwischen den Kräften war, die den Bund mit begründeten. Die ganz spezielle historische Situation, in der der konstituierende Reichstag tagte, machte die Verfassung also zu einem Abbild der Realpolitik, aus der sie entstand. In diesem Sinne beschrieb Johannes von Miquel die Verfassung während der Beratungen als eine „practische Nothwendigkeit“, die „dringenden practischen Bedürfnissen“ entgegenkam. Anders gesagt: Die Verfassung war in Paragrafen gegossener Pragmatismus, ein realpolitischer Kompromiss zwischen liberalen und konservativen Kräften, der das freie Spiel der Kräfte in ein lockeres Gefüge aus Regierungsorganen und -ebenen überführte. Auf den folgenden Seiten lernen wir dieses Gefüge besser kennen. Bevor wir dazu in die parlamentarische Debatte eintauchen, müssen wir aber erst die Spielregeln des Forums verstehen, in dem diese stattfand.27

Bismarcks ewiger Bund

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