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IV. Für und Wider die Zentralisierung

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Die Verteilung der Kompetenzen zwischen den verschiedenen Regierungsebenen des neuen Bundes war eine Schlüsselfrage, die sich wie ein roter Faden durch die gesamten Verhandlungen zog. Von ihrer Beantwortung hing ab, wer in Zukunft der Taktgeber der politischen Entwicklung sein würde: die von ihren monarchischen Regierungen geführten Einzelstaaten oder der Bund, wo dem Reichstag eine entscheidende Rolle in der Gesetzgebung zustand.

Ähnlich wie bei ihrem vorübergehenden Verzicht auf eine Grundrechtsgarantie vertrauten die National- und Altliberalen auch in dieser Frage auf die Zukunft. Genauer gesagt: Sie glaubten an die unaufhaltsame Kraft der Zentralisierung. Nach der Staatsgründung, so erwarteten sie, würde sich der Bund weiterentwickeln und die Einzelstaaten vermutlich zu einer engeren Einheit zusammenwachsen. Das schien ihnen schon allein deswegen wahrscheinlich, weil der neue Bund die wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen zwischen den Einzelstaaten früher oder später würde vereinheitlichen müssen. Ein solcher Integrationsprozess, spekulierten sie, würde die Zuständigkeiten des Bundes gegenüber den Ländern erweitern, die Bundesgesetzgebung ausdehnen und dadurch den Reichstag, ohne dessen Zustimmung kein Bundesgesetz zustande kommen konnte, stärken. Sie setzten also auf eine Zentralisierung, die im Schlepptau den Einfluss des Parlaments steigern würde. Am Ende dieser Entwicklung, so ihre Hoffnung, würde eine unitarische Ordnung mit parlamentarischer Regierung stehen. Die Voraussetzungen dafür schienen ihnen durchaus günstig. „Wenn ich [seinen] Inhalt […] näher prüfe, wenn ich absehe von Begriffs-Definitionen und dergleichen“, fasste August Grumbrecht diese Hoffnungen zusammen, „so kann ich mir nicht verhehlen, daß dieser Verfassungs-Entwurf, welchen Namen er auch führen mag, den Zweck hat, ein Staatsgebilde zu schaffen, welches uns vorbereitet zu einem Deutschen Einheitsvolksstaate.“59

Dieser Fortschrittsglaube nährte sich vor allem aus zwei Quellen. Einerseits umfasste Bismarcks Entwurf in den im preußischen Handelsministerium ausgearbeiteten Abschnitten über das Zoll-, Handels-, Post- und Telegrafenwesen bereits viele zentrale Pfeiler zur Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes. So wurde der Bund zum Beispiel zu einem einheitlichen Zoll- und Handelsraum erklärt. Solche Arrangements schienen geradezu aus einem liberalen Lehrbuch über Freihandel und Wirtschaftseinheit übernommen worden zu sein. Das war kein Zufall. Wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen haben, hatte sich Bismarck bewusst für eine derartige Regulierung dieser Gebiete entschieden, um seinen Entwurf dadurch bei den Liberalen beliebter zu machen. Dieser Plan ging auf. Die entsprechenden Artikel wurden von einer breiten Mehrheit des Reichstages ohne große Änderungen angenommen. Die wenigen Anträge, die es gab, kamen vor allem vom ehemaligen Hannoveraner Finanzminister Carl Erxleben, der jetzt zu den führenden Abgeordneten der Bundesstaatlich Konstitutionellen Vereinigung gehörte und die jeweiligen Bestimmungen in partikularistischer Richtung abändern wollte. Alle derartigen Vorschläge fielen aber krachend durch. Einige Artikel der Regierungsvorlage wurden gar einstimmig und ohne einen einzigen Wortbeitrag angenommen. Die Liberalen schluckten also den Köder, den Bismarck ausgeworfen hatte. Aus ihrer Sicht begaben sie sich damit zwar an seine Angel, zogen ihn aber auch in den Strom jener Entwicklung hinein, auf die sie spekulierten.60

Andererseits gelang es den Liberalen, viele wichtige Änderungen durchzusetzen, die die Kompetenzen des Bundes gegenüber den Ländern teilweise erheblich ausweiteten. Das gesamte Staatsangehörigkeitsrecht machten sie zur Bundesangelegenheit. Die Bundesfinanzhoheit konnten sie faktisch auf direkte Steuern ausdehnen, wie wir weiter unten sehen werden. Außerdem unterstellten sie dem Bund ganze Rechtsgebiete, die Bismarcks Entwurf im Zuständigkeitsbereich der Einzelstaaten gelassen hatte. Miquel scheiterte zwar mit dem Antrag, die Kompetenz des Bundes auf das gesamte bürgerliche Recht auszudehnen. Auf Vorschlag seines Kollegen Lasker wurden aber immerhin das Obligations- und das Strafprozessrecht dem Bund übertragen. Damit waren die Liberalen in ihrem „Streben nach einer Rechtseinheit“, die sie laut Miquel als „nothwendige Voraussetzung eines nationalen Staates“ sahen, ein ganzes Stück vorangekommen.61

Bei den Verhandlungen dieser komplexen Materien verfolgten besonders die Nationalliberalen das Ziel, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich die wirtschaftlichen Kräfte frei entfalten können würden. Das wurde vor allem deutlich in den Beratungen über das Eisenbahnwesen. Dieses Feld war äußerst umstritten, weil mit der anhaltenden Expansion des Schienennetzes konkrete wirtschaftliche und strategische Interessen zusammenhingen. Die Einzelstaaten wollten die lukrativen Einnahmen aus dem dynamischen Wirtschaftszweig nicht einfach abgeben. Gleichzeitig brauchte der Bund die Eisenbahnen für militärische Operationen und sein inneres Zusammenwachsen. Bismarcks Entwurf sah daher einen Kompromiss vor. Die Einzelstaaten sollten prinzipiell die Zuständigkeit für ihre Eisenbahnlinien behalten, diese aber „wie ein einheitliches Netz verwalten“. Der Bund sollte außerdem das Recht bekommen, die Tarife zu kontrollieren und für Verteidigungs- und Verkehrszwecke Eisenbahnen übernehmen zu können.62

Im Grundsatz akzeptierten die Nationalliberalen diese Regelung. In einer eigens dafür eingerichteten Kommission, die das Eisenbahnwesen unter ihrer Führung verhandelte, schraubten sie aber kräftig an den Details. So konnten sie eine ganze Reihe von Modifizierungen erreichen, die letztlich darauf hinausliefen, die Vereinheitlichung und Zentralisierung der Eisenbahnen zu fördern, gleichzeitig aber die freie Konkurrenz des Marktes zu garantieren. Der Berichterstatter der Kommission, der nationalliberale Abgeordnete Otto Michaelis, der wie Braun zum Kongreß der deutschen Volkswirte gehörte und noch im gleichen Jahr ins neu eingerichtete Bundeskanzleramt ging, um dort die wirtschaftliche Integration des Bundes voranzutreiben, erklärte im Plenum des Reichstages den Zweck dieser Anpassungen: „Wir haben […] nicht nur die Gegenwart ins Auge zu fassen: wir haben die Zukunft sicher zu stellen, und die Zukunft des Verkehrs beruht nicht auf dem Zwange, den wir den Bahnen [auferlegen]; sie beruht darauf, daß das Vertrauen des Capitals und des Unternehmungsgeistes auf unsere öffentlichen Verhältnisse, auf die Sicherheit, welche das in Eisenbahnen angelegte Capital findet, uns rasch ein weiter und weiter ausgebildetes Eisenbahnnetz schaffe. Mit der weiteren Entwickelung des Eisenbahnnetzes steigt die Concurrenz zwischen den Eisenbahnen, steigt die gleichmäßige Vertheilung der Production und des Wohlstandes über das ganze Land“. Michaelis argumentierte also, dass der freie Markt – wenn man nur geeignete Verhältnisse schaffe – automatisch zu einer Vereinheitlichung des Bundes führen werde. Der von den Liberalen so ersehnte Einheitsstaat war demnach die natürliche Folge einer deregulierten Wirtschaftsordnung.63

Die entsprechenden Justierungen, die vor allem die Nationalliberalen an den relevanten Stellschrauben von Bismarcks Entwurfs vornahmen, führten, wie der Weimarer Ministerpräsident und fraktionslose Abgeordnete Christian Bernhard von Watzdorf klarstellte, zu einer „Concentrierung der materiellen Interessen in den Händen der Bundes-Gewalt“. In dieser unitarischen Ausrichtung ähnelte der föderale Kompetenzkatalog dem der Frankfurter Reichsverfassung. Beide übertrugen dem Bund gerade die Befugnisse, die für die Entstehung eines gemeinsamen Marktes und einer neuen, industriellen Wirtschaftsordnung wichtig waren: die Kontrolle über den Fluss von Gütern, Dienstleistungen und Personen, die Regulierung der neuen Verkehrs- und Kommunikationstechnologien und die Festsetzung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, wie die Ordnung des Maß- und Gewichtssystems, die Formulierung der Währungs- und Geldpolitik, die Regulierung des Bankwesens, den Schutz geistigen Eigentums und die Aufsicht über Patente. Das ermutigte viele Liberale, darauf zu setzen, dass es nach der Staatsgründung zu einer Zentralisierung kommen würde.64

Die Chancen darauf standen umso besser, weil es die Verfassung äußerst leicht machte, die Verteilung der staatlichen Kompetenzen weiter zugunsten des Bundes zu verschieben. Anders als in den meisten anderen föderalen Verfassungen, inklusive des Entwurfs der Paulskirche, war das sogenannte Enumerationsprinzip keine ausdrückliche Rechtsnorm. Zwar wurde allgemein angenommen, dass „der gemeinsamen Centralgewalt […] nicht mehr Rechte zukommen, als ihr, sei es durch den Bundes-Vertrag, sei es durch die Verfassung des Bundesstaates übertragen“ wurden und dass alle anderen Kompetenzen bei den Einzelstaaten verblieben. Einen Antrag des Hannoveraner Rechtsprofessors und Wortführers der Bundesstaatlich-Konstitutionellen Vereinigung Heinrich Albert Zachariä, diesen Grundsatz festzuschreiben, lehnte die Mehrheit des Reichstages aber mit dem Vorwurf der Vertretung partikularistischer Interessen ab. Dadurch gab es keine Garantie der föderalen Kompetenzverteilung, die die Verfassung festlegte. Den Bundesorganen waren keine Grenzen gesetzt, weitere Zuständigkeiten von den Einzelstaaten abzuziehen oder ganz neue für den Bund zu schaffen. Dafür nötige Verfassungsänderungen waren kein großes Hindernis, weil sie einfach auf dem Wege der normalen Gesetzgebung erfolgen konnten. Theoretisch hatte der Bund also die Möglichkeit, alle staatlichen Kompetenzen restlos an sich zu ziehen und die Einzelstaaten als leere Hülle zurückzulassen.65

In Verbindung mit dieser strukturellen Offenheit der Verfassung gab die föderale Kompetenzverteilung, die auf Druck der Liberalen zustande kam, dem neuen Bund unzweifelhaft einen gewissen Hang zur Zentralisierung. Es war allerdings reine Spekulation, zu glauben, dass eine Ausdehnung der Bundesgewalt über kurz oder lang automatisch zur Entstehung eines „Einheitssvolksstaates“ führen würde. Die anti-parlamentarischen Strukturen um den Bundesrat, die Bismarck in seinen Putbuser Diktaten erdacht hatte und die im Reichstag in aller Ausführlichkeit diskutiert wurden, wie wir weiter unten sehen werden, ließen einen direkten Zusammenhang zwischen Zentralisierung und Liberalisierung des Regierungssystems gar nicht zu. Im Gegenteil, der unitarisch geprägte Kompetenzkatalog stärkte paradoxerweise auch die wichtigste Bastion einzelstaatlicher und damit monarchischer Souveränität: Preußen. Schuld daran war die hegemoniale Konstruktion der Verfassung. Die enge Verquickung zwischen preußischen und nationalen Institutionen – allen voran zwischen König und Bundespräsidium, Außenminister und Bundeskanzler, Staatsministerium und Bundesrat – machte es unausweichlich, dass jeder Kompetenzgewinn des Bundes auch den Einfluss der preußischen Regierung über die anderen Einzelstaaten und den Bund insgesamt ausdehnen würde. In anderen Worten: Unitarisch gedachte Vorkehrungen konnten leicht eine hegemoniale Wirkung haben. Eine Zentralisierung würde daher wahrscheinlich nicht nur den Reichstag, sondern auch die preußische Monarchie und ihre Statthalter im Bund stärken. Ob das Regierungssystem dadurch parlamentarischer oder monarchischer werden oder sich gar in eine ganz andere Richtung entwickeln würde, war nicht abzusehen.

Fortschrittsparteiler wie Franz Duncker warnten deshalb ihre nationalliberalen Kollegen eindringlich davor, sich nicht allein „auf die Entwicklung der Zukunft, die treibende Kraft der Dinge und endlich auf die Geschicklichkeit, auf die Fähigkeit und Energie des leitenden Staatsmannes“ zu verlassen. Um liberale Interessen zu verwirklichen und nachhaltig zu schützen, dürfe man nicht auf die Zukunft oder gar Bismarck vertrauen, da beide vollkommen unberechenbar seien. Vielmehr müsse man ganz konkrete Änderungen am Entwurf vornehmen, wie zum Beispiel die Einführung verantwortlicher Bundesminister und einer Grundrechtsgarantie. Es „ist […] unsere Pflicht“, mahnte Duncker, „unsere Hoffnungen nicht zu setzen auf Männer, noch weniger unseren Nachfolgern den größten Theil der Arbeit zu überlassen, sondern unsere Hoffnung zu setzen auf die Kraft der Institutionen, und darum diese Verfassung des Norddeutschen Bundes so einzurichten, daß die Institutionen in demselben so stark sind, um die treibende Macht selbst einzelner hervorragender Männer, wenn sie nicht mehr an der Spitze stehen sollten, zu ersetzen“.66

Bei diesem Appell hatte Duncker nicht zuletzt zwei Bereiche im Blick, in denen die Rollen zwischen Bund und Einzelstaaten ausgesprochen partikularistisch verteilt waren: das Verwaltungs- und das Finanzwesen. Der Bund sollte nach Bismarcks Entwurf zwar eine Fülle von Aufgaben übernehmen, aber weder einen Behördenapparat haben, um diese zu verwalten, noch direkte Steuern erheben können, um sie zu finanzieren. Wie in der Frankfurter Reichsverfassung sollte das Recht, Gesetze auszuführen, bei den Einzelstaaten bleiben. Selbst in den Feldern, die in seinen Zuständigkeitsbereich fielen, sollte der Bund nur Gesetze erlassen und deren Ausführung überwachen können. Als reguläre Einkommensquelle sollten ihm nur die Einnahmen aus Zöllen, dem Post- und Telegrafenwesen, und gemeinschaftlichen Verbrauchssteuern auf Salz, Tabak, Branntwein, Bier, Zucker, und Sirup zur Verfügung stehen. Diese schmale Einkommensbasis konnte unmöglich reichen, um die Kosten des Bundes zu decken, erst recht, nachdem die Liberalen seine Aufgabenfelder noch einmal erweitert hatten. Der Entwurf traf deshalb von vornherein Vorkehrungen für den Fall eines Defizits. Der Haushalt sollte durch sogenannte Matrikularbeiträge ausgeglichen werden, die die Einzelstaaten jährlich nach Größe ihrer jeweiligen Einwohnerzahl entrichten mussten. Dieses Umlagesystem machte den Bund nach einem geflügelten Wort, das Bismarck einige Jahre später prägte, zum „Kostgänger bei den Einzelstaaten“.67

Hinter dieser partikularistischen Rollenverteilung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen des Bundesstaates stand eine ganz bestimmte Absicht. Es ging auch hier darum, das Prinzip, das Bismarck in den Putbuser Diktaten als Leitfaden für die Gestaltung der Verfassung ausgegeben hatte, zu erfüllen, nämlich dem Reichstag keine Angriffsfläche zu bieten. Wenn der Bund keine eigene Verwaltung und keine eigenen Einnahmen aus direkten Steuern hatte, konnte der Reichstag diese Schalthebel auch nicht nutzen, um seinen Einfluss auszudehnen. Weder konnte er versuchen, die Leitungsebene von nationalen Behörden über seine Mitarbeit in der Gesetzgebung zu kontrollieren, noch konnte er sich über sein Haushaltsrecht in die Besteuerung von Grund und Eigentum einmischen und so die Exekutive unter Druck setzen. Da durch die Übernahme des allgemeinen Wahlrechtes progressive Mehrheiten nicht ausgeschlossen waren, schien es essenziell, dem Reichstag auf diese Weise vorsorglich jedweden Zugriff auf diese sensiblen Bereiche zu verstellen. Besonders die Linksliberalen deckten diese Motive in der Debatte über das Finanzwesen schonungslos auf. Wenn „sämmtliche Einnahmen, welche nothwendig sind, die Ausgaben des Bundes zu decken, aus […] indirekten Steuern aufkommen“, erklärte zum Beispiel der Berliner Rechtsanwalt Moritz Wiggers, „dann würde es geschehen, daß das Budgetrecht überall ein vollständig illusorisches würde“.68

Auch die National- und Altliberalen beschwerten sich bitterlich über den Rückgriff auf eine staatenbündische Finanzordnung, da dieser die wahre Einheit der Nation verhindere und den neuen Bund genauso schwach mache wie seinen verhassten Vorgänger. Durch die „Bundesmatrikularumlage“, beschwerte sich zum Beispiel Carl Braun, würden „die Bundesgelder aufgebracht [wie] zur Zeit des Verfalls des Deutschen Reichs und zu den Zeiten des alten, im Jahre 1866 glücklich beseitigten Bundes“. In diesem Umlagesystem, so der Altliberale Rechtsprofessor Eduard Baumstark, der schon Mitglied des Erfurter Unionsparlamentes gewesen war und seit 1859 die Universität Greifswald im Preußischen Herrenhaus vertrat, liege letztlich die Gefahr „einer Lähmung der Centralgewalt für den Norddeutschen Bund“.69

Aus diesen gemeinsamen Bedenken gegen das Finanz- und Verwaltungssystem des Entwurfs zogen die liberalen Fraktionen unterschiedliche Konsequenzen. Während die Fortschrittspartei forderte, sofort direkte Steuern sowie eigenständige Bundesministerien einzuführen und sich dadurch von Bismarck eine schroffe Abfuhr nach der anderen einfuhr, gingen die gemäßigten Liberalen sehr viel behutsamer vor. Dadurch erreichten sie letztlich mehr. Es gelang ihnen, für einige vermeintlich kleine Änderungsanträge die Zustimmung der Konservativen zu gewinnen und so feine Risse in die Schutzmauern zu schlagen, die Bismarck um das föderale Verwaltungs- und Finanzwesen errichtet hatte. Zum einen konnten sie durch eine unten näher beschriebene Präzisierung der Rolle des Kanzlers den Grundstein für die Entstehung eigener Ministerialbehörden des Bundes legen. Zum anderen boxten sie zwei wichtige Änderungen der Finanzbestimmungen durch, die zumindest die Möglichkeit schufen, direkte Bundessteuern in Zukunft einzuführen. Erstens beantragten sie, die in Bismarcks Entwurf vorgesehene Begrenzung der Bundesgesetzgebung auf „die für Bundeszwecke zu verwendenden indirecten Steuern“ durch Streichung des Adjektivs aufzuheben. Das entsprechende Amendement wurde in einer Kampfabstimmung entgegen der ausdrücklichen Warnung der Regierungsvertreter mit 125 zu 122 Stimmen angenommen. Damit war die „Lebensfrage“ der Bundesgewalt, zu der Baumstark die „directe Besteuerung“ erklärt hatte, zwar nicht sofort geklärt, aber doch wenigstens so weit offengelassen, dass die Liberalen sie in Zukunft, wenn die Kräfteverhältnisse für sie vielleicht günstiger sein würden, für sich entscheiden könnten. Zweitens gelang es den Nationalliberalen, auf Antrag Miquels einen Artikel in die Verfassung einzuschleusen, nach dem Matrikularbeiträge nur zur Deckung des Defizits benutzt werden durften, „so lange Bundessteuern nicht eingeführt sind“. Dadurch wurde das Matrikularsystem zu einem Provisorium herabgestuft, das irgendwann direkten Steuern würde weichen müssen. Auch wenn dafür kein konkreter Zeitpunkt festgelegt wurde, war das Tor zu einem unitarischen Finanzsystem damit aufgestoßen. Es stand umso weiter offen, weil es den gemäßigten Liberalen auch gelang, das Budgetrecht des Reichstages deutlich auszubauen. Dazu später mehr.70

Im Finanz- und Verwaltungswesen hatte die eigentümliche Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Einzelstaaten viel mit dem Kampf gegen beziehungsweise um mehr parlamentarischen Einfluss zu tun. In anderen Feldern lag die ambivalente Abgrenzung von Bundes- und Landesgewalt hauptsächlich an der monarchischen Umgebung, in der die Verfassung operieren musste. Der Entwurf versuchte, durch teils widersprüchliche, teils bewusst unspezifisch gehaltene Regelungen die Souveränität der gekrönten Häupter der Einzelstaaten zu schonen und so den Anschein eines Fürstenbundes zu wahren. Diese Rücksicht übte er vor allem auf den Gebieten, die klassischerweise zu den Vorrechten von Monarchen gehörten: dem Militärwesen und der Außenpolitik. So sollten trotz der Einrichtung eines „einheitlichen Heeres“ unter dem Oberbefehl des Bundesfeldherrn die Kontingente der Einzelstaaten fortbestehen. Auf diese Weise konnten die Fürsten ihre Militärhoheit zumindest formell behalten. Für ihre Zustimmung zur Verfassung war das essenziell, wie uns der Blick auf die Konferenz der einzelstaatlichen Regierungen im vorhergehenden Kapitel gezeigt hat. Außer einem Austausch von Beschwerden über die Unstimmigkeit der Militärorganisation und den damit vermeintlich verbundenen Sicherheitsrisiken passierte im Reichstag denn auch nicht viel. Große Änderungen wurden – ganz anders als im unten näher erläuterten Streit um das Militärbudget – nicht vorgenommen. Der auf der Regierungskonferenz der Einzelstaaten so umkämpfte Artikel zum Fahneneid auf den Bundesfeldherrn wurde gar ohne Wortmeldung mit großer Mehrheit angenommen. Letztlich fanden sich sowohl die meisten konservativen als auch liberalen Abgeordneten mehr oder weniger widerwillig mit den paradoxen Vorschriften ab, bestand doch wegen der militärischen Übermacht Preußens und der Militärkonventionen, die Bismarck mit den meisten einzelstaatlichen Regierungen in den letzten Monaten schon geschlossen hatte, ohnehin in der Praxis längst eine einheitliche norddeutsch-preußische Armee.71

Hinsichtlich der Regelung der Außenpolitik taten sich einige Parlamentarier deutlich schwerer, das zu schlucken, was Bismarck ihnen vorsetzte. Sein Entwurf bestimmte, dass das Bundespräsidium „den Bund völkerrechtlich zu vertreten“ und „Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen berechtigt ist“. Dieser Artikel war so weit gefasst, dass er die auswärtige Gewalt dem Bundespräsidium übertrug, gleichzeitig aber den einzelstaatlichen Souveränen weiterhin erlaubte, Gesandte untereinander und mit ausländischen Höfen auszutauschen, solange sie damit nicht die diplomatischen Aktivitäten des Bundes untergruben. Vielen Befürwortern eines Einheitsstaates stießen diese Bestimmungen bitter auf. Albert von Carlowitz, der schon lange zu den lautesten Befürwortern einer konstitutionellen Reichsmonarchie gehörte, beantragte, das Präsidium ausdrücklich zum alleinigen Träger des Gesandtschaftsrechtes zu erklären, den Fürsten dieses Privileg also zu nehmen. Die „Concentrirung des Gesandtenrechts in der Hand der mächtigsten Regierung“, begründete er seinen Vorstoß, gehöre zu den unverzichtbaren „Attributen“, die den Bundesstaat „vom bloßen Staatenbunde unterscheiden“. Nichts sei „mehr geeignet […], die innere feste Gliederung unseres Bundesstaates […] dem Ausland gegenüber zum Ausdruck zu bringen“. Außerdem handele es sich um eine notwendige Vorsichtsmaßnahme. Denn ausländische Gesandte an den deutschen Höfen zu erlauben, würde „Intriguen das Spiel eröffnen“ und die Sicherheit des Bundes gefährden.72

Die Mehrheit des Reichstages hielt solche Bedenken für unbegründet und ließ den Antrag durchfallen. Eine Mischung aus historischer Erfahrung und Pragmatismus sprach nach Ansicht der Konservativen, aber auch der meisten National- und Altliberalen dafür, das Gesandtschaftsrecht der Fürsten trotz aller strukturellen Widersprüche zu erhalten. Der fraktionslose Abgeordnete Christian Bernhard von Watzdorf, der als Ministerpräsident Sachsen-Weimar-Eisenachs die Empfindlichkeiten der Fürsten aus nächster Nähe kannte, betonte, wie wichtig es gerade in Bezug auf kleine, aber symbolträchtige Privilegien wie das Gesandtschaftsrecht sei, Rücksicht auf die Souveränität der Fürsten zu nehmen. Die Errichtung der Erfurter Union sei nicht zuletzt deshalb gescheitert, weil die damaligen Verfassungsverhandlungen eben diesen Respekt nicht ausreichend gezeigt hätten: „Es wirkte damals eine ziemliche Reihe von Kleinigkeiten auch mit, und die Bestimmung in der Unions-Verfassung, daß die einzelnen Regierungen keine ständigen Gesandten empfangen und abschicken dürften, war ein Moment, was an einzelnen Stellen sehr tief verletzte und das Eingehen in die Bestrebungen wesentlich mit schädigte.“ Watzdorf mahnte die Versammlung demnach, dass die Fürsten nur an Bord des Schiffes bleiben würden, das Richtung Einheit segelte, wenn man ihnen durch den Erhalt solch althergebrachter Vorrechte wie des Gesandtschaftsrechts den Schein ihrer Souveränität ließe, dem Fürstenbund also nicht seine ganze Glaubwürdigkeit nehme.73

Die meisten National- und Altliberalen hatten kein Problem damit. Sie sahen in dem fürstlichen Gesandtschaftsrecht sowieso nur ein Ehrenrecht, das keine praktische Relevanz hatte. Johannes von Miquel unterstrich unter lauten Bravo-Rufen seiner Kollegen, dass es sich bei diesem Privileg nur um ein Relikt aus der Vergangenheit handele, das nach Gründung des Nationalstaates auch „ohne ausdrückliche Verfassungsvorschrift […] in Wegfall kommen“ werde. Schließlich werde kein Landtag mehr Diplomaten unterhalten wollen, wenn die Außenpolitik eigentlich vom Bund gemacht werde: „Wir zweifeln daran, ob irgend eine einzelne deutsche Volksvertretung geneigt sein wird, Geld hinwegzuwerfen aus der Tasche des Volkes für unnütze Berichterstatter von Hof-Neuigkeiten.“ Jeder „practische Politiker“ könne deshalb die sonderbaren Bestimmungen zur Verteilung der auswärtigen Kompetenzen ruhigen Gewissens annehmen.74

Die Beibehaltung solcher Eigentümlichkeiten wie des fürstlichen Gesandtschaftsrechtes trug dazu bei, dass die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Einzelstaaten nicht nur politisch, sondern auch strukturell ein Kompromiss war. Der föderale Kompetenzkatalog, den die Verhandlungen produzierten, umfasste sowohl unitarische als auch partikularistische Merkmale und setzte diese in ein ganz bestimmtes Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite gab es nur äußerst wenige Bereiche, die ausschließlich dem Bund vorbehalten waren. In den meisten Feldern überlappten sich die Zuständigkeiten der verschiedenen Regierungsebenen. Auf der anderen Seite übernahm aber schon Bismarcks Entwurf das Prinzip der Paulskirchenverfassung, „daß die Bundesgesetze den Landesgesetzen vorgehen“. Diese feine, zuweilen widersprüchliche Austarierung von Bundes- und Landeskompetenzen erhielt die Einzelstaaten fürs Erste als individuelle Einheiten monarchischer Souveränität, machte den Bund aber gleichzeitig zu einem handlungs- und ausbaufähigen Reich. Nur auf Basis dieses Kompromisses war ein Zustandekommen der Verfassung überhaupt möglich. Wäre eine der beiden Seiten zu kurz gekommen, hätten wohl entweder die einzelstaatlichen Regierungen beziehungsweise Fürsten die Verfassung nach Abschluss der Reichstagsverhandlungen abgelehnt oder die gemäßigten Liberalen ihre Zustimmung verweigert und so eine Mehrheitsbildung im Parlament verhindert.75

Dieser Kompromisscharakter des föderalen Kompetenzkataloges barg aber auch eine Gefahr in sich. So ambivalent, wie viele Zuständigkeiten verteilt waren, blieb es offen, ob der Bund und die über zwanzig Einzelstaaten ihre jeweiligen Befugnisse dauerhaft harmonisch ausüben würden. Ein Koordinationsverlust zwischen den verschiedenen Regierungsebenen war nicht ausgeschlossen. Das lag nicht zuletzt daran, dass man sich in den Verhandlungen auf kein Homogenitätsgebot einigen konnte. Anders als in den zeitgenössischen föderalen Verfassungen der USA und der Schweiz gab es keine Vorschrift, die die Einzelstaaten dazu verpflichtete, gewisse Verfassungs- und / oder Wahlgrundsätze einzuhalten. Ein dahingehender Antrag der beiden Wiggers-Brüder und ihres nationalliberalen Kollegen Otto Wachenhusen fiel durch. Die drei Mecklenburger Abgeordneten hatten einen Zusatzartikel vorgeschlagen, nach dem „in jedem Bundesstaate […] die Gesetzgebung und die Feststellung des Budgets unter Mitwirkung einer aus Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung geübt“ werden sollte. Als Motiv für dieses Amendement gaben sie „die Unvereinbarkeit der Mecklenburgischen ständischen Verfassung mit der Verfassung des Norddeutschen Bundes“ an. „Von unten gewissermaaßen das ständische Gottes-Gnadenthum und von oben das allgemeine Wahlrecht“, das könne einfach nicht funktionieren, führte Moritz Wiggers dazu aus. Deshalb wollten er und seine beiden Mitinitiatoren die Gunst der Stunde nutzen und ihr Heimatland über eine Vorschrift in der Bundesverfassung dazu zwingen, die feudalen Strukturen der Ritterschaft durch eine moderne Verfassung zu ersetzen.76

Um genau solche Interventionen in die einzelstaatlichen Monarchien zu verhindern, lehnten die Konservativen den Antrag ab. Der Mecklenburger Landrat Henning von Bassewitz, der als fraktionsloser Abgeordneter im Reichstag saß und zwei Jahre später zum Ministerpräsidenten der Strelitzer Regierung aufstieg, erklärte warum. Ein Homogenitätsgebot verletze „die Selbständigkeit der einzelnen Staaten“, verachte „ihre Individualität“, und kenne, „wenn einmal Schritte in dieser Beziehung geschehen sind, keine Grenze mehr, um noch die einzelnen Staaten aufrechtzuerhalten“. Eben aus diesen Gründen enthielt Bismarcks Entwurf von vornherein nichts, was auch nur irgendwie als Mindestanforderung an die Landesverfassungen ausgelegt werden konnte. Jedes Homogenitätsgebot hätte als Beschränkung des Gestaltungswillens der Einzelstaaten der Idee vom Fürstenbund diametral widersprochen. Dazu kam noch, dass eine solche Vorschrift aus Sicht der Verteidiger der monarchischen Souveränität jedenfalls für den Moment absolut unnötig schien. Eine gewisse Grundkoordination der verschiedenen Regierungsebenen war durch die Homogenität der monarchischen Eliten zwar nicht rechtlich, aber doch praktisch garantiert. Sinnbildlich dafür stand die Personalunion zwischen preußischem König und Bundespräsidium. Von daher bestand für das konservative Lager überhaupt kein Anlass, eine Vorschrift zu schaffen, die dem Reichstag unter Umständen in Zukunft als mächtiges Druckmittel zur Umwälzung des Bundes hätte dienen können.77

Allerdings überließ man durch den Verzicht auf jegliche Synchronisation der verschiedenen Regierungsebenen die Beziehungen zwischen Bund und Einzelstaaten ganz der Dynamik der künftigen Entwicklung. Anders gesagt: Die Verfassungsverhandlungen gaben dem Bundesstaat keine klare Richtung vor. Sie stellten es ganz dem politischen Prozess und damit dem Streit zwischen monarchischen und parlamentarischen Kräften anheim, das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesgewalt auszuformen und weiterzuentwickeln. Die Konservativen erklärten sich damit einverstanden, weil es gleichzeitig eine Reihe ausgeklügelter Vorkehrungen zum Schutz monarchischer Souveränität gab. Auch die Nationalliberalen konnten mit dieser Lösung der Beziehungen zwischen Bund und Ländern letztlich ganz gut leben. Angesichts der unitarischen Tendenzen des föderalen Kompetenzkataloges akzeptierten sie die Gestaltung der ausgehandelten Bestimmungen als pragmatischen Kompromiss und vertrauten darauf, dass in Zukunft eine Zentralisierung einsetzen und die Kräfteverhältnisse zugunsten des Parlaments verschieben würde. Sie wussten aber, dass diese Rechnung nur aufgehen konnte, wenn sie es schafften, den Entwurf in anderen Bereichen so anzupassen, dass die Konstruktion der Bundesorgane dem nicht im Weg stehen würde.

Bismarcks ewiger Bund

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