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V. Monarchische Schutzvorkehrungen

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„Die Bildung einer lebensfähigen Centralgewalt für Deutschland“, erklärte Heinrich von Sybel gleich zu Beginn der Debatte über die Bundesorgane, sei „vielleicht das schwierigste Problem, welches im Laufe dieses Jahrhunderts irgend einem Staatsmanne sich entgegengestellt“ habe. Es ginge nämlich darum, ein organisches Gefüge einzurichten, das „stark genug [sei], um alle Culturaufgaben des modernen Staates wirksam und schöpferisch in die Hand zu nehmen, und doch so weit beschränkt, um den Deutschen Fürsten und Particularstaaten nicht das Gefühl der vollständigen Unterwerfung und Mediatisierung zu geben, und doch so weit abhängig von der parlamentarischen Organisation, um das politische Gewissen der gesamten Nation nicht zu verletzen“. An dieser Aufgabe seien alle vorherigen Versuche gescheitert, allen voran die Frankfurter Reichs- und die Erfurter Unionsverfassung. Deswegen habe „der jetzige Entwurf […] durch diese Erfahrungen belehrt, die viel betretenen Straßen vollständig verlassen“.78

Was Bismarcks Lösung von allen früheren Verfassungen unterschied, war ihre Selbstbeschränkung. Der Entwurf organisierte die Bundesgewalt nicht einem bestimmten System folgend, sondern arrangierte sie einfach um eine Reihe nicht weiter zusammenhängender Vorrichtungen beziehungsweise Strukturmerkmale herum, die dazu dienen sollten, monarchische Souveränität zu schützen und parlamentarischen Einfluss einzugrenzen. Die auffallendste dieser Sicherheitsvorkehrungen war der Verzicht auf eine Bundesregierung. Ein solches Organ wurde in dem Entwurf mit keinem Wort erwähnt. Diese Lücke, deren Bedeutung Bismarck in seinen Putbuser Diktaten und anderen Vorarbeiten zur Verfassung immer wieder hervorgehoben hatte, sollte die Exekutive von der Einflussnahme des Reichstages abschneiden. Wo es keine Regierung gab, konnte das Parlament auch nicht versuchen, irgendwelche Minister verantwortlich zu machen. Offiziell begründete Bismarck den Verzicht auf eine Regierung vor dem konstituierenden Reichstag mit Verweis auf den Fürstenbund. „Die Herstellung eines constitutionellen verantwortlichen Ministeriums“ sei mit dem „Bundesverhältniß“ unvereinbar. Dem Bundesrat, „einem Consortium von 22 Regierungen“, sei „diese Aufgabe nicht zuzumuthen“. Nur eine „einheitliche Spitze mit monarchischem Charakter“ könne ein Ministerium ernennen. So einen Bundesmonarchen sähe der Entwurf aber nicht vor, weil dadurch „21 von 22 Regierungen von der Theilnahme an der Herstellung der Executive“ ausgeschlossen würden. Eine derartige „Mediatisirung“ sei von Preußens „Bundesgenossen weder bewilligt, noch von [Preußen] erstrebt worden“.79

Die Konservativen und Altliberalen übernahmen dieses Argument und verteidigten es verbissen. Selbst einige Nationalliberale pflichteten Bismarck bei. Karl Twesten erklärte am Anfang der Generaldebatte ohne große Umschweife, dass es so, „wie die ganze Form der Verfassung gegeben [sei], […] unmöglich [sei], eine eigentliche constitutionelle verantwortliche Regierung im Sinne einer parlamentarischen Verfassung herzustellen“. Es sei ja überhaupt „keine Regierung definirt, welche mit bestimmten Befugnissen ausgerüstet unmittelbar der ganzen Bevölkerung der deutschen Bundesstaaten als eine eigentliche Regierung gegenüberstände“. Deshalb solle man „auf den Versuch, eine wirkliche verantwortliche Regierung zu construiren, von vorn herein verzichten“. Lieber solle man sich darauf konzentrieren, die Stellung des Reichstages auszubauen und ihm die volle Budgetgewalt zu übertragen.80

Diese Aufforderung, mehr oder minder gleich die Waffen zu strecken, traf bei den meisten Liberalen auf wenig Verständnis. Die überwältigende Mehrheit unter ihnen bestand darauf, die Regierung des zukünftigen Bundes näher zu definieren und zumindest Ansätze einer parlamentarischen Verantwortlichkeit zu schaffen. Schließlich ging es um nicht weniger als das Kräfteverhältnis zwischen monarchischer und parlamentarischer Macht. Am weitesten gingen die Forderungen der Fortschrittspartei. Die Linksliberalen verlangten hartnäckig die Einrichtung einer kollegialen Bundesregierung, in der die einzelnen Minister dem Parlament gegenüber rechtlich verantwortlich sein würden. Dafür sei jede noch so weitgehende Änderung an der Grundkonzeption der Verfassung gerechtfertigt, betonte Benedikt Waldeck, der sich in der Frage der Ministerverantwortlichkeit zum Rädelsführer der Linksliberalen aufschwang. Um echte Bundesministerien einzurichten, „müßte [es] ganz einfach doch in dieser Verfassung so heißen: die Centralgewalt gehört Preußen, d. h. dem Preußischen constitutionellen König mit einem verantwortlichen Ministerium – verantwortlich nach denselben Bedingungen mindestens, welche die Preußische Verfassung mit sich bringt“.81

Mit diesem Vorschlag griff Waldeck eine der größten Hürden an, die Bismarcks Konzeption des Bundes der Einführung einer verantwortlichen Regierung in den Weg setzte: die Zersplitterung der Exekutive. Es gab keinen einheitlichen Träger der vollziehenden Gewalt. Vielmehr „kreuzen sich im Entwurfe […] mehrere Systeme“, wie Waldecks Parteikollege Hermann Schulze-Delitzsch kritisierte. Die auswärtige Gewalt und die Personalgewalt lagen in den Händen des Bundespräsidiums, das dementsprechend die diplomatischen Beziehungen des Bundes führte und alle Bundesbeamten, inklusive des Kanzlers, ernannte. Außerdem fertigte das Bundespräsidium die Bundesgesetze aus, verkündete sie und überwachte ihre Ausführung. Dagegen war die Militärgewalt dem Bundesfeldherrn übertragen, dem das aus den einzelstaatlichen Kontingenten bestehende Heer des Bundes unterstand. „Außerhalb dieser beiden wichtigen Zweige“ gab es noch „ein drittes System“, wie Schulze-Delitzsch erklärte: „die collegialische Executive“ des Bundesrates. Dazu gehörte das Recht, Verordnungen zur Ausführung der Bundesgesetze zu erlassen, Mängel bei deren Ausführung festzustellen und gegebenenfalls zu ahnden und über seine entsprechenden Ausschüsse Eingaben im Post-, Telegrafen-, Konsulats- und Rechnungswesen zu machen. Ferner teilte der Bundesrat mehrere wichtige exekutive Befugnisse mit dem Bundespräsidium. So konnte er etwa den Reichstag unter Zustimmung des Präsidiums auflösen und gegen verfassungsbrüchige Einzelstaaten im Rahmen der sogenannten Bundesexekution Strafmaßnahmen verhängen, die dann das Präsidium auszuführen hatte.82

Bismarcks Entwurf verteilte also die klassischen Exekutivbefugnisse eines Monarchen, die etwa die Frankfurter Reichsverfassung dem Kaiser übertragen hatte, auf drei verschiedene Organe: Bundespräsidium, Bundesfeldherr und Bundesrat. Dabei spielte es keine Rolle, dass zwei dieser drei Einrichtungen von ein und derselben Person, nämlich dem König von Preußen, ausgefüllt wurden. „Die Krone Preußen“, stellte Schulze-Delitzsch klar, war zwar „Inhaberin“ des Bundespräsidiums und des Bundesfeldherrenamtes, „aber aus verschiedenem Mandat“, sie besaß „Beides quasi als verschiedene Würden“. Strukturell handelte es sich folglich um eigenständige Ämter. Dadurch konnte von einer einheitlichen Exekutivgewalt keine Rede sein. Der Hohenzollernkönig war Monarch Preußens, aber nicht des Bundes. Eine länderübergreifende Monarchie gab es nicht.83

Was dagegen vorlag, war ein Konglomerat, das sich jeder staatsrechtlichen Theorie entzog. „Bei dieser zusammengesetzten Gestalt der Dinge“, erklärte der Berliner Jurist und nationalliberale Abgeordnete Rudolf Gneist, „ist es ganz unmöglich, daß Jeder in jedem Abschnitt dieses Entwurfes die Glaubenssätze der constitutionellen Theorie wiederfinden könnte“. Der konservative Hermann Wagener, der in seinem im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Vorentwurf für Bismarck eine Bundesmonarchie vorgeschlagen hatte, unterstrich, dass man „es hier überhaupt mit einer Urkunde nach dem constitutionellen Schablonenwesen gar nicht zu thun“ habe. Genau darauf hatte Bismarck in seiner Auseinandersetzung mit den verschiedenen Vorarbeiten zur Verfassung größten Wert gelegt. Jetzt wurde im Reichstag deutlich, warum. Da es ob der Zersplitterung der Exekutive keine konstitutionelle Monarchie gab, konnte auch deren Prinzip, den Monarchen als Träger der vollziehenden Gewalt dem Parlament gegenüberzustellen und eine Regierung ernennen zu lassen, von den Liberalen nicht einfach auf den Bund übertragen werden. „Unser Entwurf giebt uns keine constitutionelle Monarchie; er hat keinen monarchischen Träger der höchsten Staatsfunction“, betonte Sybel. „Es fehlt […] also hier der ganze Rahmen der Einrichtungen, der ganze Boden der Zustände, aus welchem in constutitionellen Staaten das Institut der Ministerverantwortlichkeit hervorgewachsen ist“. Mit anderen Worten: Da es keinen Monarchen gab, der alle exekutive Gewalt in sich vereinigte, war es unmöglich, verantwortliche Bundesminister eins zu eins nach dem Vorbild der konstitutionellen Monarchie einzurichten. Der Entwurf machte die Exekutive also gerade dadurch zu einem unantastbaren Hort monarchischer Macht, dass er keine Reichs- beziehungsweise Bundesmonarchie schuf.84

Vor allem die Linksliberalen forderten deshalb mit Nachdruck, alle exekutiven Befugnisse auf ein Organ, nämlich das Bundespräsidium, zu übertragen und so praktisch eine konstitutionelle Monarchie einzurichten. Um diesen radikalen Änderungsvorschlag einer Mehrheit der Abgeordneten schmackhaft zu machen, argumentierten sie, dass eine Zusammenlegung der Exekutive nicht nur verantwortliche Bundesminister möglich machen, sondern auch die Vormachtstellung der preußischen Monarchie im Bund stärken würde. „Einigen wir […] das Ganze einheitlich, legen wir die sämmtliche vollziehende Gewalt in die Hände des Bundes-Präsidiums der Krone Preußen“, warb Schulze-Delitzsch um Unterstützung, „dann ist die Möglichkeit verantwortlicher Minister und verantwortlicher Regierung nach allen Seiten hin gesichert, und damit die werthvollste Garantie, die wahrhaftig nicht bloß eine Garantie des Volkes ist, sondern, wie unsere conservativsten Staatslehrer tausendmal uns vorgesagt haben, auch eine Garantie nach Seiten der Krone selbst hin“.85

Alle derartigen Vorstöße scheiterten aber letztlich am Widerstand der Konservativen, die jede Zusammenlegung von Bundesorganen als Schritt hin zum Einheitsstaat ablehnten. Aber auch die meisten Nationalliberalen schreckten vor solch radikalen Änderungen an Bismarcks organischer Konstruktion zurück. Dahinter steckte wieder die ihnen so eigene Mischung aus Angst und Pragmatismus. Statt die Grundstruktur des Entwurfs anzugehen und so eine Ablehnung der Schlussfassung durch die verbündeten Regierungen zu riskieren, schien es ihnen klüger, den vorhandenen Spielraum zu nutzen. Die Exekutive des Bundes war zwar zersplittert. Ihr Schwerpunkt lag aber ganz klar im Präsidium. „Unter welchem Namen es auch constituirt sein mag, wenn auch der bescheidene Name eines Bundes-Präsidenten oder Bundes-Feldherrn gewählt ist, so glaube ich, daß Macht und Wesenheit eines wahrhaft monarchisch-kaiserlichen Hauptes dem Bundes-Präsidium gegeben ist“, erklärte Eduard Lasker. Wegen dieser „Substanz und Macht eines kaiserlichen Oberhauptes“, die dem Bundespräsidium „gegenwärtig“ sei, könne man „den Einwand nicht machen, daß eine Verantwortlichkeit [grundsätzlich] nicht den vertretenden Organen beigelegt werden könne“. Vielmehr müsse man nur an den richtigen Stellschrauben drehen. Das hieße, die verschiedenen Gewalten klarer voneinander zu trennen, die Regierungsbefugnisse innerhalb der Exekutive besser zu verteilen und den Gesetzgebungsprozess entsprechend anzupassen.86

Derartige Justierungen blockierte Bismarcks Entwurf aber durch eine weitere zentrale Schutzvorrichtung gegen die Einführung einer verantwortlichen Regierung: den Bundesrat. Dieser war nach Vorbild des Bundestages des Deutschen Bundes ein Kongress aus den Gesandten der monarchischen Regierungen der Einzelstaaten. Als institutionelle Verkörperung des Fürstenbundes war er das zentrale Organ des Regierungssystems. Seine Kompetenzen erstreckten sich auf alle drei Zweige der Staatsgewalt. Neben seinem Anteil an der Exekutive bildete er zusammen mit dem Reichstag die Legislative. Ohne seine Zustimmung konnte kein Gesetz verabschiedet werden. Überdies spielte er auch eine wichtige Rolle in der Judikative. Der Entwurf sah aus Gründen, die in einem späteren Kapitel näher beleuchtet werden, keinen Verfassungsgerichtshof vor. Stattdessen schuf er eine Reihe alternativer Konfliktlösungsmechanismen, an denen der Bundesrat immer in der ein oder anderen Form beteiligt war. Für Streitigkeiten zwischen verschiedenen Einzelstaaten war er sogar ganz alleine zuständig. Angesichts dieser „Verquickung des Bundes-Rathes“ konnte von Gewaltenteilung keine Rede sein, kritisierte Johannes von Miquel. Nur „wenn es möglich wäre, [dieses] Verhältniß [so] klar zu stellen, daß der Bundesrath und das Parlament nur gesetzgeberische Befugnisse, dagegen das Präsidium, die Krone Preußen, die volle Executive rein und ausschließlich habe, […] würde der Entwurf auf einen viel klareren und bestimmten Boden gesetzt“ und die Einrichtung verantwortlicher Ministerien möglich sein. „Eine consequente Durchführung dieses Systems“ verlange allerdings von „den einzelnen Staaten erhebliche Opfer“. Genau deshalb war sie weder bei den Regierungen noch bei der Mehrheit der Abgeordneten durchzusetzen.87

Der Bundesrat behielt also seine spezielle Position als Nahtstelle zwischen den verschiedenen Zweigen der Staatsgewalt und stand so einem Übergriff des Reichstages auf die Exekutive im Weg. Aber auch innerhalb der Exekutive nahm er eine Rolle ein, die der Einführung von verantwortlichen Ministerien vorbeugte. Von allen Verfassungsorganen hatte er am ehesten die Stellung einer Regierung inne. Immerhin war er es und nicht das Präsidium oder der Kanzler, der in der Gesetzgebung dem Reichstag gegenüberstand. Erschien in der „constitutionellen Monarchie“ der „Monarch“ als „Quelle der Gesetzgebung“ und hatten „seine verantwortlichen Diener, die Minister, […] den entscheidenden Einfluß auf die Richtung der Gesetzgebung“, galt das in Bismarcks Entwurf für den Bundesrat und die dortigen Bevollmächtigten der Einzelstaaten, wie Heinrich von Sybel dargelegte. Die Bundesratsgesandten waren nämlich neben den Mitgliedern des Reichstages die einzigen, die überhaupt Gesetzesentwürfe in den legislativen Prozess einbringen konnten. Dadurch bildeten sie in ihrer Gesamtheit genau so, wie Bismarck es sich in seinen Putbuser Diktaten vorgestellt hatte, eine Art „Regierungsbank“, mit der sich das Parlament auseinandersetzen musste.88

Im Gegensatz zu Ministern handelten die Bundesratsbevollmächtigten aber nicht aus eigener Initiative, sondern auf Instruktion ihrer jeweiligen Heimatregierung. Deshalb waren sie auch nur dieser gegenüber verantwortlich. Der Reichstag konnte sie weder einzeln noch kollektiv belangen. Kurz gesagt: Die Verschränkung der verschiedenen Regierungsebenen des Bundesstaates verhinderte, dass der Reichstag die Bevollmächtigten als verantwortliche Minister behandeln konnte. Das galt wegen seiner Funktion als Vorsitzender des Bundesrates und seiner dadurch bedingten Rolle als Präsidialgesandter Preußens auch für den Kanzler. Allen voran die Linksliberalen um Hermann Schulze-Delitzsch beschwerten sich deshalb bitterlich, dass „eine solche collegialische Executive, in der den Vertretern der einzelnen Deutschen Dynastien ein Wort zusteht, […] absolut die Einsetzung verantwortlicher Regierungs-Organe an der Spitze des Bundes [verhindere]“.89

Wegen dieser strukturellen Blockade kamen im Lager der liberalen Parteien immer wieder Forderungen auf, die genau darauf abzielten, wogegen sich Bismarck seit den ersten Vorarbeiten zum Entwurf gesträubt hatte: die Einführung eines Zweikammersystems, in dem der Bundesrat wie das Staatenhaus der Frankfurter Reichsverfassung ein auf die Gesetzgebung beschränktes Oberhaus sein sollte. Ein dahingehender Antrag Heinrich Albert Zachariäs, der 1848/ 49 die Verfassungsverhandlungen der Paulskirche in mehreren Ausschüssen mitgeprägt hatte, fiel aber durch. Mit den Konservativen war eine solch radikale Änderung der Position des Bundesrates nicht zu machen. „Es ist ja unzweifelhaft“, erklärte Hermann Wagener seine Ablehnung, „daß eine Institution, wie sie der Bundesrath ist, eigentlich in eine constitutionelle Schablone gar nicht hineinpaßt“. Eine Umwandlung in eine zweite Kammer sei aber keine Option, da „mit der Alterirung des Bundesrathes in seiner jetzigen Stellung ein Schritt zum Einheitsstaate“ geschähe, „den man mit keiner anderen Institution wieder auszugleichen vermag“.90

Sinnvoller erschien vielen Konservativen, aber auch einigen Vertretern anderer Parteien zusätzlich zum Bundesrat nach Vorbild der Erfurter Unionsverfassung noch ein Fürstenkollegium, also ein weiteres Organ zur Vertretung monarchischer Interessen, einzurichten. Einige Abgeordnete – besonders aus den gerade von Preußen annektierten Staaten – stellten sich gar ein Oberhaus vor, das neben dem Reichstag als zweite Kammer der Gesetzgebung dienen und nicht nur aus den gekrönten Häuptern, sondern auch aus den ehemals regierenden Häusern bestehen sollte, die im Laufe des Jahrhunderts ihre Souveränität verloren hatten. Bismarck lehnte alle derartigen Gedankenspiele aber wie schon auf der Konferenz der einzelstaatlichen Regierungen kategorisch ab. Zwar gab er zu, dass ein solches Ober- oder Fürstenhaus „im Princip ja nur jedem Conservativen willkommen sein“ könne, weil es als „Hemmschuh […] an der Staatsmaschine […] ein zu rasches Fortgleiten zu hindern“ imstande sein und „eine stärkere Betheiligung Derjenigen, die etwas zu verlieren haben“, sicherstellen würde. „Nichtsdestoweniger“ würde aber die ohnehin „schon complicirte Maschinerie der Verfassung […] durch die Einschiebung eines [weiteren] Gliedes noch schwerfälliger“ werden. Man könne sich überhaupt kein „Deutsches Oberhaus“ vorstellen, „das man einschieben könnte zwischen den Bundesrath, der […] vollkommen unentbehrlich“ sei als Ausdruck der „Souverainetät der Einzelstaaten“, und dem Reichstag. Ein „Mittelglied, welches dem Reichstage in seiner Bedeutung auf der socialen Stufenleiter einigermaßen überlegen wäre […] und dem Bundesrathe und dessen Vollmachtgebern hinreichend nachstände“, sei schlicht nicht konstruierbar.91

Es blieb so letztlich bei der eigenwilligen organischen Grundstruktur, die Bismarcks Entwurf von Anfang an vorgeschlagen hatte. Auch die Nationalliberalen fanden sich damit ab. Das lag nicht zuletzt daran, dass es keinen klaren, mehrheitsfähigen Gegenentwurf gab. Es herrschte ein buntes Durcheinander von verschiedenen Ideen, wie Einzelstaaten und Bund, Hegemonialmacht, Mittel- und Kleinstaaten, Nord, Süd und Zollverein, und vor allem Monarchie und Parlamentarismus unter einen Hut zu bringen seien. Angesichts dessen stimmten viele Nationalliberale Bismarck zu, dass selbst bei Verwirklichung auch nur eines Teils dieser Vorschläge ein viel zu komplexes, kaum funktionsfähiges Wirrwarr aus Organen und Kompetenzen entstehen würde. „Wenn wir eine solche complicirte Organisation machen würden, – also nicht bloß Bundes-Rath, sondern auch Reichs Ministerium, nicht bloß Reichstag, sondern auch Oberhaus, – wenn wir dann noch im Auge haben, daß möglicherweise Vertreter aus den Südstaaten herankommen, um wenigstens an einem Theile unserer Geschäfte, nämlich dem handelspolitischen und militärischen Theil, mitzuarbeiten, wenn wir also neben dem engern Reichs-Rath möglicherweise auch einen weitern Reichs-Rath bekämen, befürchte ich“, stellte Carl Braun besorgt fest, „wir würden dadurch eine [sehr] föderalistisch-complicirte Maschinerie schaffen“.92

Diese Sorge drückte ein Verlangen nach geordneten Verhältnissen aus. Dazu gehörte für die Nationalliberalen ganz wesentlich eine verantwortliche Regierung. Sie gelangten im Laufe der Verhandlungen jedoch zu der Überzeugung, dass der Weg zu diesem Ziel nur über einen Zwischenstopp führte. Für die Einrichtung parlamentarisch verantwortlicher Bundesminister musste zunächst einmal eine Bundes- beziehungsweise Reichsmonarchie her. Eine solche war unter den gegebenen Umständen nicht durchsetzbar, konnte aber vielleicht in Zukunft durch einen allmählichen Wandel der Verfassungsordnung in der politischen Praxis entstehen. Deswegen konzentrierten sich die Nationalliberalen darauf, für eine solche Entwicklung möglichst gute Voraussetzungen innerhalb der Grenzen des Entwurfs zu schaffen. Carl Braun formulierte diese Strategie bei der Vorstellung eines Änderungsantrages, der dem Reichstag ein Recht zur Anhörung der „Vertreter der einzelnen Bundes-Verwaltungszweige“ geben wollte: „Wenn […] die Frage an mich herantritt, wie […] denn […] die Ministerverantwortlichkeit in dem vorliegenden Entwurf [zu] realisiren [sei], so antworte ich darauf einfach: ‚Wir können nicht mit dem Ende anfangen, sondern wir müssen mit dem Anfange anfangen‘, d. h. wir müssen die Keime der Verantwortlichkeit, die möglicherweise in diesen Entwurf gelegt werden können und deren Entwickelung wir dem guten Geiste unserer Nation überlassen müssen, bemessen nach Maßgabe der augenblicklichen Situation.“93

Die Linksliberalen verurteilten diese Einstellung scharf. Sie hielten es für ein äußerst gefährliches Spiel, auf die künftige Entwicklung der Beziehungen zwischen den von Bismarck vorgeschlagenen Bundesorganen zu setzen statt auf die Schaffung von starken Institutionen. Er sei überzeugt, betonte etwa Benedikt Waldeck, dass eine Verfassung ohne verantwortliche Minister „wahrlich nicht das Mittel ist, daß die gesetzgebenden Körper, welche aus ihr hervorgehen, sich künftig Rechte, die man ihnen von Hause aus genommen hat, […] wieder erobern könnten“. Wenn man die organische Struktur nicht ändern könne, sei es daher besser, die Verhandlungen platzen zu lassen. Das gelte ganz besonders, da die Vorenthaltung solcher Institutionen wie der Ministerverantwortlichkeit auf Bundesebene nur dazu bestimmt sei, die entsprechenden Einrichtungen in Preußen und den anderen Einzelstaaten zu untergraben.94

Die Nationalliberalen ließen sich von dieser Kritik nicht verunsichern. Sie sahen genau das, was die Linksliberalen an Bismarcks organischem Gerüst des Bundes beanstandeten, als Vorteil: seine Offenheit. Käme es wirklich zu der Zentralisierung, mit der sie wegen der von ihnen ausgehandelten Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten fest rechneten, würden die Kräfteverhältnisse zwischen den unitarischen und bündischen Verfassungsorganen unweigerlich in Bewegung geraten. Dabei, so spekulierten sie, könnte sich Bismarcks Bündel an Schutzvorkehrungen auflösen, der Reichstag seinen Einfluss über die Exekutive ausdehnen und eine Bundesregierung aus verantwortlichen Ministern entstehen. Die „Keime“, aus der sie diese Entwicklung sprießen lassen wollten, streuten sie in den Verhandlungen über die Stellung des Reichstages und das Amt des Bundeskanzlers. Wie sah diese Saat, von der sie sich so viel versprachen, also aus?

Bismarcks ewiger Bund

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