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I. Die Verfassungsversammlung

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Gewählt wurde der Reichstag am 12. Februar 1867 in allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen von allen Männern, die Staatsbürger eines norddeutschen Einzelstaates und über 25 Jahre alt waren. Die Anwendung dieses Verfahrens war eine riskante „Experimental-Politik“, wie der nationalliberale Abgeordnete Friedrich Meyer im Reichstag feststellte. Bismarck hatte die norddeutschen Regierungen als Teil des Augustbündnisses darauf verpflichtet, die Wahlen auf Grundlage des Wahlgesetzes abzuhalten, das die Frankfurter Paulskirchenversammlung 1849 formuliert hatte. Diese Entscheidung war äußerst umstritten. Nicht nur die Mehrheit der preußischen Minister, auch die meisten Volksvertreter hatten arge Bedenken. Die Landtage, denen die Regierungen das gleichlautende Wahlgesetz zur Billigung vorlegten, nahmen es teilweise erst nach langen Diskussionen an. Besonders die Liberalen im preußischen Abgeordnetenhaus sträubten sich. Sie befürchteten, dass das allgemeine Wahlrecht zu vielfältigen Wahlbeeinflussungen führen und letztlich zum Nachteil des Bürgertums ausfallen würde. Es sei davon auszugehen, schrieb der Politiker und Schriftsteller Anton Niendorf Anfang Januar 1867 in der liberalen Vossischen Zeitung, „daß jeder Käthner und Tagelöhner zur Wahl excitiert“ und damit gerade der Teil des Volkes die Wahl entscheiden werde, „der niemals eine Idee von politischen Dingen gehabt hat“.28

Die Liberalen hätten es also deutlich lieber gesehen, wenn der konstituierende Reichstag nach einem an die Besitzverhältnisse der Wähler geknüpften Wahlrecht gewählt worden wäre. Immerhin waren sie in den letzten anderthalb Jahrzehnten unter dem preußischen Dreiklassenwahlrecht, das die Wähler in verschiedene Steuergruppen einteilte und ihre Stimmen entsprechend unterschiedlich gewichtete, äußerst erfolgreich gewesen. In der sogenannten Konfliktzeit, in der sie Bismarck im Streit um die Finanzierung der Heeresreform die Stirn geboten hatten, waren sie sowohl 1862 als auch 1863 mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit aus den Wahlen hervorgegangen. Erst bei der Landtagswahl, die am Tag der Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866 stattfand, mussten sie empfindliche Verluste einstecken.

Auch wegen dieser Schwächung der Liberalen konnte Bismarck das allgemeine Wahlrecht gegen alle Widerstände durchsetzen. Offiziell begründete er diese Entscheidung im Reichstag nach dessen Zusammentritt damit, dass das Wahlrecht der Paulskirche ein unumgängliches „Erbtheil der Entwicklung der Deutschen Einheitsbestrebungen“ sei. „Wir haben einfach genommen, was vorlag“, erklärte er, „und weitere Hintergedanken nicht dabei gehabt.“ Das stimmte natürlich nicht. Besonders angesichts der Erfolge Louis Napoleons in Frankeich, der sich 1848 bei der Präsidentschaftswahl durchgesetzt und danach mithilfe von mehreren Plebisziten das Kaisertum wieder eingeführt hatte, war Bismarck davon überzeugt, dass das allgemeine Wahlrecht eine konservative Wirkung haben würde. „In einem monarchischen Land mit monarchischen Traditionen und loyaler Gesinnung“, schrieb er im April 1866 einen Tag vor Annahme der Verfassung an den preußischen Gesandten in St. Petersburg, werde „das allgemeine Stimmrecht, indem es die Einflüsse der Bourgeoisie-Klassen beseitige, auch zu monarchischen Wahlen führen“. Ähnlich hatte er sich einen Monat vorher gegenüber dem Prinzen Reuß geäußert: „Direkte Wahlen und allgemeines Stimmrecht halte ich für größere Bürgschaften einer konservativen Haltung als irgendein künstliches auf Erzielung gemachter Majoritäten berechnetes Wahlgesetz. Nach unseren Beobachtungen sind die Massen ehrlicher [an] der staatlichen Ordnung interessiert als die Führer derjenigen Klassen, welche man durch die Einführung irgendeines Zensus in der aktiven Wahlberechtigung privilegieren kann.“29

Trotzdem stellte das allgemeine Wahlrecht aus Sicht der preußischen Regierung ein Risiko dar. Um dieses so weit wie möglich zu verringern, unternahmen Bismarck und seine Ministerkollegen große Anstrengungen. Zwar manipulierten sie die Wahl nicht direkt und riefen auch keine offiziellen Regierungskandidaten aus. Aber sie nahmen massiven Einfluss auf die Aufstellung der Kandidaten in den einzelnen Wahlkreisen. Auf Geheiß von oben machten lokale Amtsträger und Behörden deutlich, wer den Segen der Regierung hatte und wer nicht. Dabei ging es darum, wie Bismarck in einem Brief an den preußischen Innenminister schrieb, die Bewerber zu unterstützen, „deren Sinn für Realpolitik sie in der deutschen Frage der Regierung nähert“. In der Regel waren das Kandidaten der beiden konservativen Parteien. Gelegentlich setzte sich die Regierung aber auch für einen Bewerber aus dem Kreis der Altliberalen ein, die nach der 1848er-Revolution gemäßigte Positionen vertreten und mit den monarchischen Kräften kooperiert hatten. Das geschah vor allem in den Wahlkreisen, in denen die Wahl eines Konservativen von vornherein als unwahrscheinlich galt.30

Ziel solcher Einmischungen war die Herstellung eines Parlamentes, das kooperativer als das widerspenstige preußische Abgeordnetenhaus sein und den Verfassungsentwurf ohne große Umstände annehmen würde. Bei diesem Versuch kam Bismarck der plebiszitäre Charakter der Wahlen entgegen. Jeder, der seine Stimme abgab, machte mit seiner Wahlentscheidung automatisch klar, ob er für oder gegen die Gründung eines von Preußen dominierten Bundes war. Wie Niendorf in seinem oben erwähnten Zeitungsartikel schrieb, war die Bildung eines Reichstages jetzt, wo Preußen sich gegen Österreich auf dem Schlachtfeld durchgesetzt hatte, in Wahrheit ein Plebiszit über einen kleindeutschen Nationalstaat: „Die Wahl ist übergegangen in die affirmative Frageform: ob ja, oder nein?“31

Die Teilnahme an diesem Plebiszit war rege. In Preußen lag die Wahlbeteiligung bei 64 Prozent. Auch in den anderen Staaten, für die Zahlen vorliegen, gingen ausgesprochen viele Wahlberechtigte zur Urne. In Sachsen-Meiningen waren es 66 Prozent, in Mecklenburg-Strelitz 68 Prozent, in Schwarzburg-Rudolstadt 70 Prozent, und in Bremen gar 79 Prozent. Damit war die Wahlbeteiligung in vielen Einzelstaaten höher als bei den Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung, wo sie teilweise nur 40 Prozent erreicht hatte. Die Wahlen gaben dem konstituierenden Reichstag deshalb eine bemerkenswert starke Legitimationsbasis. Dementsprechend selbstbewusst konnte das Parlament in die Verhandlungen mit den verbündeten Regierungen gehen.

Allerdings war die Wahlbeteiligung dort besonders hoch, wo die Bevölkerung national gespalten war. In Posen, Schlesien und Ostpreußen, wo Deutsche und Polen aufeinandertrafen, lag sie in einigen Wahlkreisen bei 85 Prozent. Ähnlich hoch war sie in Nordschleswig, wo nach wie vor viele Dänen lebten. In diesen Grenzregionen gaben die Wahlen den nationalen Minderheiten die Chance, gegen die Zwangsintegration in den neuen Nationalstaat zu protestieren. Dadurch kam es in den jeweiligen Wahlkreisen zu einer Polarisierung zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen, die besonders viele Wähler zur Urne trieb. Letztlich schafften es dreizehn polnische und zwei dänische Vertreter in den Reichstag. Dort boykottierten sie die Beratungen zu Bismarcks Verfassungsentwurf weitgehend, weil sie die Schaffung eines deutschen Nationalstaates ganz grundsätzlich ablehnten. Die polnische Fraktion legte zu Beginn der Hauptverhandlungen offiziell Protest ein „gegen die Competenz des Reichstages, […] die ehemals Polnischen Landestheile Preußens in den Norddeutschen Bund einzuverleiben“. Zur Begründung konfrontierte Kasimir Kantak, ein leidenschaftlicher Verfechter der polnischen Unabhängigkeit aus Posen, der in den 1840er-Jahren mehrmals wegen konspirativer Tätigkeiten in Haft saß und seit 1862 dem preußischen Abgeordnetenhaus angehörte, die anderen Abgeordneten mit einer Grundsatzfrage: „Mit welchem Recht […] wollen Sie in einem Augenblicke, wo Sie eine Neubildung Ihres Staates auf der Grundlage der Nationalität und Selbstbestimmung aufrichten wollen, uns gegenüber dieselben Principien, die Sie für sich in Anspruch nehmen, verleugnen, und uns wider unseren Willen einem uns fremden Staatswesen einverleiben?“32

Abgesehen von den Vertretern der nationalen Minderheiten brachten die Wahlen ein sozial ausgesprochen homogenes Parlament zustande. Der konstituierende Reichstag war eine Versammlung des Großbürgertums und der Adligen. Es gab nur zwei Arbeitervertreter. Dem gegenüber standen ein Prinz, zwei Herzöge, vier Fürsten, 27 Grafen, 21 Barone, und 75 andere Adlige. In den konservativen Fraktionen lag der Adelsanteil bei über 80 Prozent, bei den Altliberalen immerhin noch bei gut 60 Prozent. Außerdem gehörten dem Parlament auch auffallend viele Persönlichkeiten aus Regierung und Militär an. Auf den Abgeordnetenbänken saßen insgesamt vier amtierende und sechs ehemalige Minister sowie sechs Generäle beziehungsweise Obristen. Die bekanntesten waren Bismarck, der preußische Kriegsminister Albrecht von Roon, der Chef des Generalstabes Helmuth von Moltke, und der General Eduard Vogel von Falckenstein. Mit der Autorität dieser Führungspersönlichkeiten konnten selbst jene bürgerlichen Abgeordneten nicht konkurrieren, die zu den reichsten Männern Deutschlands zählten, wie zum Beispiel der Bankier Mayer Carl von Rothschild, die Reeder Hermann Heinrich Meier und Robert Miles Sloman oder der Eisenhüttenbesitzer und Industrieunternehmer Georg Buderus. Das galt insbesondere für alle Fragen der Staatsführung und militärischen Sicherheit.33

Was die Kräfteverhältnisse unter den Parteien anging, sorgte die Wahl für einen Erdrutsch in der politischen Landschaft. Das Ergebnis der regierungsnahen Parteien übertraf alle Erwartungen. Von den 297 Sitzen im Reichstag gewannen die Konservativen 59, die Freikonservativen 39 und die Altliberalen 27. Dazu kamen acht Konservative, die sich aus verschiedenen Gründen keiner Fraktion anschlossen. Darunter war auch Bismarck, der sein Mandat in Magdeburg gewonnen hatte. Seine Spekulation, dass das allgemeine Wahlrecht die monarchischen Kräfte stärken würde, war also aufgegangen. Franz Eichmann, 1848 für kurze Zeit preußischer Innenminister und seit 1850 Oberpräsident der an der Ostseeküste gelegenen Provinz Preußen, erläuterte die Gründe für diesen Erfolg: „Mit Recht darf man […] die Wahlen für den Ausdruck der Volksstimmung halten, für eine dankbare Anerkennung der großen Taten des Königs und seiner Regierung […]. Es liegt zu Tage: das Wahlergebnis ist Folge […] der im Volke herrschenden Stimmung und allgemeinen Geistes-Strömung.“ Mit anderen Worten: Die nationale Euphorie, die der spektakuläre Sieg Preußens gegen Österreich entfacht hatte, entschied das Plebiszit zu Bismarcks Gunsten. Gleichzeitig erzeugte sie eine riesige Erwartungshaltung an den Reichstag, den neuen Nationalstaat schnell auf den Weg zu bringen.34

Für die Fortschrittspartei endeten die Wahlen in einem Desaster. Die Linksliberalen, die das parlamentarische Geschehen in den Jahren des preußischen Verfassungskonfliktes dominiert hatten, gewannen gerade einmal 19 Sitze. Das waren 60 weniger als die Nationalliberalen, die zur stärksten Fraktion wurden. In einigen Regionen, in denen die Linksliberalen im Vorjahr bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus noch alle Mandate gewonnen hatten, wie zum Beispiel in Ostpreußen, errangen sie nun kein einziges. Die liberale Berliner National-Zeitung machte eine „täuschende Substitution“ für diese Wahlschlappe verantwortlich. Der wahlbestimmende Gegensatz hätte diesmal nicht mehr „konservativ oder liberal“, sondern „national oder nicht“ geheißen. Wofür die Fortschrittspartei während des preußischen Verfassungskonfliktes noch Unterstützung erhalten hatte, wurde sie jetzt also abgestraft: ihren entschiedenen Kampf gegen Bismarck und seine Deutschlandpolitik. Dadurch ging die politische Kraft, die sich so stark wie keine andere für Parlaments- und Bürgerrechte einsetzte, deutlich geschwächt in die Verhandlungen.35

Trotz der verheerenden Niederlage der Linksliberalen und des großen Erfolges der Konservativen erzeugten die Wahlen keine Situation, die für Bismarck einfach zu handhaben gewesen wäre. Ob der großen Umwälzungen, die sich gerade vollzogen, waren alle Parteien mehr oder weniger in Unruhe. Für die einen war Bismarcks Kurs zu reaktionär, für die anderen zu radikal. Nicht nur die Liberalen, auch die Konservativen hatten sich gerade erst über die Frage gespalten, wie man sich zu seiner Politik positionieren sollte. Die Freikonservativen, eine Partei aus überwiegend agrarkonservativen und bürokratischen Führungseliten, die Bismarcks Einigungspolitik vollauf unterstützten, hatten sich erst vor einigen Monaten gegründet. In der alten Konservativen Partei, von der sie sich losgesagt hatten, standen sich ein gemäßigter und ein ultrakonservativer Flügel gegenüber. Die Anhänger des Letztgenannten sahen Bismarcks Deutschlandpolitik spätestens seit den preußischen Annexionen des Vorjahres und der damit verbundenen Absetzung der gekrönten Häupter von Hannover, Kurhessen und Nassau als eine Gefahr für die Legitimität der Monarchie.

Bei der Aufstellung der Wahlkreiskandidaten wurden solche Kritiker auf Geheiß Bismarcks übergangen. Die konservative Fraktion im Reichstag bestand daher fast ausschließlich aus Abgeordneten, die Bismarck auch trotz einzelner Bedenken gegen seinen Entwurf grundsätzlich unterstützten. Von außen kam dafür umso heftigeres Störfeuer der Ultrakonservativen. Ihr Wortführer, Ernst Ludwig von Gerlach, der die Konservative Partei einst mitbegründet und sich in den letzten Jahren vom Ziehvater zum Gegner Bismarcks gewandelt hatte, verurteilte „die geistlos-mechanische Verfassungsmacherei im Bundes-Reichstage“ scharf. „Das Verfassungsbacken, das jetzt in Berlin vor sich geht, macht einen recht widrigen Eindruck“, schrieb er während der Verhandlungen an seinen Bruder. „Wir sind zurückgefallen in die misere von ’48 und ’49, – nur daß damals das Preuß. Königthum, wenn gleich wankend, doch noch festen Fuß hatte außer[halb] der Bäckerei, während es jetzt Hauptbäcker ist.“36

Die turbulenten inneren Verhältnisse der Parteien führten in Verbindung mit den vielfältigen regionalen Unterschieden zwischen den Gewählten dazu, dass es auch nach Zusammentritt des Reichstages lange keine festen Fraktionen gab. Erst nach und nach organisierten sich die Abgeordneten in größeren Gruppen. Bis zur Konstituierung aller Fraktionen verging nicht weniger als die Hälfte der Zeit, die der Reichstag überhaupt tagte. Diese schleppende Fraktionsbildung hatte großen Einfluss auf die Verhandlungen. Es gab lange keine gemeinsamen Positionen, koordinierten Redebeiträge oder abgesprochenen Anträge, von Abstimmungsvorgaben oder gar interfraktionellen Absprachen ganz zu schweigen. Auch wenn sie zur selben Partei gehörten, waren die Abgeordneten also überwiegend auf sich alleine gestellt und produzierten oft ein polyphones Stimmenwirrwarr. Carl Braun, der immerhin zum Vorstand der Nationalliberalen Partei gehörte, betonte noch in der zehnten Sitzung, er könne „nicht sprechen im Namen einer politischen Partei“: „Wenn ich mein Votum über den Entwurf in einigen allgemeinen Grundzügen abgebe, so thue ich das nur in meinem Namen, denn meiner Meinung nach haben sich die politischen Verhältnisse und die Parteien unter uns noch nicht so geklärt, gefestigt und vertieft, daß irgend eine Partei als solche eine definitive und bindende Erklärung abgeben könnte, welche, wenn sie jetzt schon abgegeben würde, vielleicht auch ein Hinderniß bilden würde für die demnächstige Verständigung in dieser für uns Alle so hoch wichtigen Sache.“37

Der mangelnde Zusammenhalt und die fehlende Programmatik der einzelnen Fraktionen machten jede einzelne Abstimmung in den Verhandlungen unberechenbar. So etwas wie Fraktionsdisziplin gab es nur in Ansätzen. Um den Entwurf durchzubringen, musste Bismarck deshalb auf ganz verschiedene Meinungen innerhalb der einzelnen Lager eingehen und jeden Abgeordneten einzeln überzeugen. Oft lief er „wie ein Löwe herum zu diesem und jenem Abgeordneten, um ihn zu gewinnen“, berichtete der sächsische Rechtsprofessor Karl von Gerber, der zu den Altliberalen gehörte. Dabei war Bismarck alles andere als zimperlich. Gerade die Konservativen setzte er immer wieder gezielt unter Druck, wie einer der Hannoveraner Abgeordneten, die ihm wegen der Annexion ihres Heimatlandes in herzlicher Feindschaft verbunden waren, überspitzt schilderte: Die Konservativen „sind die reinen Marionetten, die sitzen und stehen, je nachdem der Draht gezogen wird; stimmt mal einer aus Dignität oder Überzeugung oder aus Versehen, auch nur in gleichgültigen Fragen, gegen die [Regierungs]Vorlage, so erfolgt sofort eine Vorladung zu Bismarck, und zwar in der Versammlung, und dann eine entschiedene, an dem betretenden Wesen des Geladenen nicht zu verkennende Rüge“.38

Diese Rigorosität Bismarcks kam nicht von ungefähr. Auch nach der Fraktionsbildung herrschten keine klaren Mehrheitsverhältnisse. Die Parteien des Regierungslagers hatten bei den Wahlen keine absolute Mehrheit gewonnen. Selbst mit der Unterstützung der fraktionslosen Abgeordneten kamen die Konservativen, Freikonservativen und Altliberalen nur auf 48 Prozent der Sitze. Das war zu wenig, um den Entwurf durch das Parlament zu bringen. Von den Abgeordneten der Bundesstaatlich-Konstitutionellen Vereinigung konnte Bismarck keine Unterstützung für seine preußisch-hegemoniale Lösung erwarten. Sie stammten hauptsächlich aus den von Preußen annektierten Provinzen und waren ausgesprochen partikularistisch eingestellt. In der preußischen Hegemonie sahen sie eine Gefahr, gegen die sie die Unabhängigkeit der Einzelstaaten so weit wie möglich verteidigen wollten. Noch unwahrscheinlicher war aus Bismarcks Sicht ein Entgegenkommen der Fortschrittspartei. Dazu waren die Wunden, die der preußische Verfassungskonflikt geschlagen hatte, noch zu frisch. Die Vertreter der nationalen Minderheiten und die beiden Abgeordneten der frühsozialistischen Sächsischen Volkspartei betrieben ohnehin Fundamentalopposition. Auch auf die sogenannte Freie Vereinigung konnte Bismarck nicht bauen. Die vierzehn liberalen und katholischen Abgeordneten, die sich zu dieser Fraktion zusammengeschlossen hatten, waren weniger durch gemeinsame politische Vorstellungen als durch ihre Ablehnung Bismarcks und seiner Deutschlandpolitik verbunden.

Der Verfassungsentwurf hatte also nur eine Chance auf eine parlamentarische Mehrheit, wenn sich die Nationalliberalen dem Regierungslager anschließen würden. Ihnen fiel damit eine Schlüsselrolle zu, die ihre Ansichten zur Gestaltung des neuen Bundes besonders wichtig machte. Für Bismarck war das keine einfache Situation. Das Schicksal seines Entwurfs hing jetzt von einer Gruppe Quertreibern ab, die sich gerade erst in einem Akt politischer Rebellion von ihrer Stammpartei losgesagt hatten und dazu noch vor Selbstbewusstsein nur so strotzten, hatten sie mit 79 Mandaten doch mit Abstand die meisten Sitze aller Parteien gewonnen. Sicher konnte er sich ihrer Gefolgschaft nicht sein. Zwar hatte sich die Nationalliberale Partei erst vor wenigen Monaten mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet, seine Einigungspolitik zu unterstützen, weswegen sie selbst vielen konservativen Abgeordneten, wie zum Beispiel Bismarcks Jugendfreund Moritz von Blanckenburg, als die „eigentlich ministerielle Partei“ galt. Die allermeisten Mitglieder der Fraktion knüpften ihre Zustimmung zum Entwurf aber an eine ganze Reihe von Abänderungen, die an die Schmerzgrenze der Konservativen heran-, teilweise sogar darüber hinausreichten.39

Das wurde gleich zu Beginn der Generaldebatte deutlich. Karl Twesten, Mitbegründer der nationalliberalen Fraktion im preußischen Landtag, eröffnete am 9. März die Rednerliste für die prinzipiellen Befürworter des Entwurfs. Diese Gelegenheit nutzte er, um gleich ein paar rote Linien zu ziehen. Er „habe sehr erhebliche Bedenken gegen die Annahme des Verfassungs-Entwurfs“ und sehe sich daher genötigt, gegen ihn zu stimmen, „wenn keine Aenderungen wesentlicher Art […] beschlossen würden“. Dabei gehe es vor allem um das Entwicklungspotenzial des Regierungssystems. Der Reichstag dürfe keinen Bestimmungen zustimmen, „welche geeignet wären, auch dem künftigen Ausbau den Weg zu verlegen [und] den Gang der künftigen Entwickelung in Richtungen hineinzudrängen, welche Jeder nach seinem Standpunkte für unheilvolle und verderbliche erachten müßte“. Es sei daher nötig, Bundes- und Landeskompetenzen klarer voneinander abzugrenzen, dem Reichstag ein ausdrückliches Recht zur jährlichen Bewilligung von allen Steuern und Ausgaben zu geben, Militär- und Marineangelegenheiten der normalen Bundesgesetzgebung zu unterstellen und auch das Militärbudget von der Zustimmung des Reichstages abhängig zu machen.

Mit diesen Mindestanforderungen an die Verfassung fordere er nur jene Rechte für den Reichstag, betonte er, die der preußische Landtag schon habe. Kämen die Regierungen dem Parlament in diesen Punkten entgegen, könne darauf verzichtet werden, die Stellung der Bundesregierung, „ein schweres und wesentliches Bedenken gegen die ganze Form dieser Bundesverfassung“, näher zu definieren. Würden diese Forderungen aber nicht erfüllt, werde entweder der Reichstag oder der preußische Landtag den Entwurf scheitern lassen, weil man dann überhaupt keine Bundesverfassung brauche. Ein „bloßes Zoll-Parlament“ und ein paar Militärkonventionen würden für diesen Fall genügen. Dieser „Ausweg“ wäre freilich ein „ernstes Unglück“. Ein „Zusammenwirken der Regierung mit den Liberalen “ wäre dagegen „von dem höchsten Werth“ sowohl für die „liberale Entwickelung unseres Vaterlandes“ als auch für die „Staatsmacht und […] Befestigung Preußens in Deutschland“. „Eine Nachgiebigkeit der Regierung in [den genannten] Punkten“ werde „eine Einigung über das Verfassungswerk mit dem gegenwärtigen Reichstage und der Preußischen Volksvertretung in sichere Aussicht“ stellen, „die Stimmung im Norden Deutschlands gewinnen und den Süden […] herüberziehen“.40

Nur unterbrochen durch einen weiteren Redner unterstrich Johannes von Miquel, Führer des rechten Flügels der Nationalliberalen, dass seine Partei zu Kompromissen bereit sei, dafür aber ein Entgegenkommen erwarte. „Wir, meine Freunde und ich, wir sind entschlossen, jedes Opfer, selbst der Freiheit, für den Augenblick zu bringen, welches wahrhaft nöthig und wirklich nothwendig ist für die Gründung des Bundestages [sic! gemeint: Bundesstaates].“ Die Regierung müsse aber Vertrauen zum Parlament haben und ihm das Recht einräumen, direkte Reichssteuern zu erheben und alle Ausgaben, auch die für das Militär, zu bewilligen. Denn „ein Parlament ohne Rechte, hervorgegangen aus allgemeinen Volkswahlen, […] wird unmäßig sein in seinen Forderungen und revolutionair in seinen Bestrebungen. Ein Parlament, dem man wahrhaft Rechte gewährt, das wird sich der Verantwortlichkeit in der Benutzung seiner Rechte bewußt sein, und […] wird conservativ und maßvoll auftreten.“ Dass diese Rechte aufgrund der gegenwärtigen Übergangsphase nicht sofort umgesetzt werden könnten, verstehe man. Wenn die Regierungen sie aber „für die Dauer und principiell“ verwehre, könne es „nicht zur Begründung eines […] Staates der Deutschen Nation und des Deutschen Volkes, sondern höchstens zu einer zeitweiligen Aufhelfung eines kurzlebigen Militärstaates“ kommen. Daher würden er und seine Parteifreunde in diesem Fall, „wenn auch trauernd im Herzen, sagen: Nein!“ Es sei aber kaum vorstellbar, umgarnte er Bismarck, dass Männer, die „mit großer Weisheit und mit großer Energie den Boden geschaffen […] haben für die nationale Entwickelung“, jetzt „diesen Boden wieder preisgeben“ und einen solchen Fehler begehen wollten.41

Bismarck nahm den Ball, den Twesten und Miquel ihm zuspielten, sogleich auf. In der nächsten Sitzung ging er direkt auf ihre Ausführungen ein und buhlte unverhohlen um die Gunst der Nationalliberalen. Er betonte, dass er „für keinen Vorschlag, der wirklich mit der Erleichterung des Zustandekommens und der Verbesserung des Werkes ernstlich gemeint ist, unempfänglich“ sei. Vielmehr unterstütze er „den Grad von Freiheits-Entwicklung, der mit der Sicherheit des Ganzen nur irgend verträglich“ sei. Letztlich ginge es bei den bestehenden Streitpunkten nur „um die Grenze: wie viel, was ist mit dieser Sicherheit auf die Dauer verträglich?“ Hinsichtlich des Militärbudgets sprach er sich für ein „unantastbares Uebergangsstadium“ aus, ließ damit also die Möglichkeit einer späteren parlamentarischen Kontrolle als Kompromisslösung offen. Die Erweiterung der Bundeskompetenzen hielt er für wahrscheinlich, schließlich sei es „schwer zu glauben“, „daß […] gemeinsame Organe der Gesetzgebung, wenn […] einmal geschaffen, sich der Aufgabe entziehen könnten, auch die meisten der übrigen Titel der materiellen Wohlfahrt, so wie mancher formalen Gesetzgebung […] allmählig sich anzueignen“. Dazu zähle zum Beispiel das Prozesswesen, das Zivilrecht, die Freizügigkeit und die Möglichkeit zur Ausgabe von Bundesanleihen. Gegen all diese Punkte bestünde bei den verbündeten Regierungen kein „principieller Widerstand“. Das meiste betrachte er aber „als Sache der Zukunft und als Sache der Gesetzgebung“. Eine genaue Regelung stehe erst nach Sicherung der Einheit an. „Constituieren wir uns so rasch als möglich, dann haben wir die Fähigkeit, diese Frage[n] zu erledigen“. Auch Süddeutschland werde sich dann vom Bund angezogen fühlen. Jetzt gehe es erst einmal darum, die Verfassung schnellstmöglich anzunehmen und auf die zukünftige Zusammenarbeit in einem deutschen Nationalstaat zu vertrauen: „Setzen wir Deutschland […] in den Sattel! Reiten wird es schon können.“ Würde der Entwurf aber abgelehnt, werde er zurücktreten und „denjenigen, die das Chaos herbeigeführt haben, auch überlassen, den Weg aus dem Labyrinthe wieder herauszufinden“. Bismarck versuchte also, die Nationalliberalen durch eine Mischung aus Versprechungen und Drohungen ins Boot zu holen. Ob diese Strategie den Entwurf durch das Parlament bringen würde, war zu Beginn der Hauptverhandlungen vollkommen offen.42

Bismarcks ewiger Bund

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