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VI. Das Potenzial des Parlaments

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Der Reichstag genoss nach Bismarcks Entwurf von vornherein eine bemerkenswert starke Position. Als unitarisch-parlamentarisches Gegengewicht zu den einzelstaatlichen Regierungen war er in der Gesetzgebung gleichberechtigter Partner des Bundesrates. In dieser Funktion sollte er verhindern, wie Bismarck in seinen Vorarbeiten immer wieder unterstrichen hatte, dass partikularistische Interessen den Bund untergraben könnten. Dementsprechend konnte kein Gesetz ohne Zustimmung des Reichstages verabschiedet werden. Das machte es praktisch unmöglich, den Bund über längere Zeit gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit zu regieren. Die Exekutive war zur Zusammenarbeit mit dem Reichstag gezwungen. Dadurch hatte das Parlament eine Schlüsselrolle im politischen Prozess inne. Je wichtiger der Bund gegenüber den Einzelstaaten werden würde, desto mehr Einfluss würde diese besondere Stellung dem Reichstag geben. Jede Zentralisierung würde ihn durch den Anstieg des Regelungsbedarfs auf Bundesebene automatisch stärken. Kurz gesagt: Je mehr Bundesgesetze, desto mächtiger der Reichstag.95

Die Nationalliberalen konnten diese ohnehin vielversprechende Position des Reichstages noch einmal ausbauen. Sie erkämpften ihm einige bedeutende Rechte, drangen dabei in die wichtigsten Domänen der monarchischen Exekutive ein und justierten das von Bismarck vorgesehene Wahlrecht neu. Viele dieser Anpassungen waren nur kleine Korrekturen. Manchmal handelte es sich gar nur um scheinbar erbärmliche Überbleibsel von gescheiterten Versuchen, viel größere Änderungen durchzusetzen. In ihrer Gesamtheit und vor dem Hintergrund einer möglichen Zentralisierung des Bundes steigerten sie das Entwicklungspotenzial des Reichstages als parlamentarische Druckkammer der Verfassung aber deutlich. Die Nationalliberalen versprachen sich deshalb von ihnen in Zukunft eine satte Ernte.

Ein wichtiger Bereich, in dem sie dem Parlament ein Mitspracherecht sicherten, war die Außenpolitik. Bismarcks Entwurf überließ die internationale Vertretung des Bundes komplett dem Bundespräsidium. Völkerrechtliche Verträge über Materien, die der Gesetzgebung des Bundes unterlagen, sollten allerdings der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Der Reichstag sollte trotz seiner gleichberechtigten Teilhabe an der Bundesgesetzgebung außen vor bleiben. Diese Bestimmung zielte ganz klar darauf ab, die Außenpolitik vollständig dem Einfluss des Reichstages zu entziehen. Die Nationalliberalen konnten diesen Bann zumindest teilweise aufheben. Das gelang auf Initiative Wilhelm Adolf Lettes, der als Oberregierungsrat auf eine lange Karriere in der preußischen Verwaltung zurückblickte und seit den Tagen der Paulskirche um eine Vermittlung zwischen Liberalen und Konservativen bemüht war, also nicht gerade im Verdacht stand, an den Grundfesten monarchischer Macht rütteln zu wollen. Er beantragte, dass Verträge, die die Gesetzgebungskompetenz des Bundes berührten, zusätzlich zur Einwilligung des Bundesrates „zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages“ benötigen sollten. Die Mehrheit der Abgeordneten stimmten diesem Amendement ohne große Diskussion zu.96

Die Konservativen willigten wahrscheinlich deshalb in den Antrag ein, weil er als ausgesprochen moderat daherkam. Er gab dem Reichstag gegenüber dem Bundespräsidium lediglich das gleiche Mitspracherecht in auswärtigen Angelegenheiten, das auch das preußische Abgeordnetenhaus gegenüber dem König von Preußen genoss. Hätten die Nationalliberalen einen der Vorschläge der Fortschrittspartei oder der Bundesstaatlich-Konstitutionellen Vereinigung unterstützt, wäre ein viel empfindlicherer Eingriff in das monarchische Vorrecht der Außenpolitik möglich gewesen. Aus diesen Fraktionen lagen mehrere Anträge vor, die die gesamte vollziehende Gewalt, also auch die auswärtige, abhängig von der Gegenzeichnung verantwortlicher Minister machen wollten. Um sich von solch drastischen Änderungsversuchen zu distanzieren, betonte Lette denn auch, dass der von ihm vorgeschlagene Zusatz nicht dafür gedacht sei, „die Executive […] geniren zu wollen“. Mit dieser Versicherung gelang es ihm, dem Antrag eine Mehrheit zu verschaffen.97

Aus liberaler Sicht war das ein wichtiger Erfolg. Lettes unscheinbarer Zusatz weitete den Einfluss des Reichstages gerade auf jene Teile der Außenpolitik aus, denen die Liberalen eine wichtige Rolle beim künftigen Auf- und Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen des Bundes zu anderen Ländern zuschrieben. So umfasste die parlamentarische Genehmigungspflicht zum Beispiel internationale Zoll- und Handelsabkommen, aber auch Verträge im rasch expandierenden Kommunikationswesen der Post und Telegrafie. Gerade die Wirtschaftsexperten unter den Liberalen – Lette selbst war Gründungsmitglied des Kongresses der Deutschen Volkswirte – waren deshalb durchaus zufrieden mit dem, was sie im Bereich der Außenpolitik durchsetzen konnten. Lettes Amendement schien dem Reichstag genügend Potenzial zu geben, um künftig in der Außenpolitik ein Wort mitreden und dadurch diese Bastion monarchischer Macht nach und nach für mehr parlamentarische Mitsprache öffnen zu können.

Nicht nur in die auswärtige, auch in die militärische Gewalt brach der Reichstag auf Initiative der Liberalen zumindest ein Stück weit ein. Dies geschah im Zusammenhang mit den komplexen Verhandlungen über das Budgetrecht, die die Abgeordneten für den Großteil der Sitzungszeit in Atem hielten. Rudolf von Bennigsen wies schon zu Beginn der Generaldebatte darauf hin, dass „die hauptsächlichste Schwierigkeit [des Entwurfs], welche von allen Seiten als solche empfunden wird, […] die Frage der verfassungsmäßigen Befugnisse des Reichstages hinsichtlich des Budgetrechts“ sei. Die Befugnis, den Haushalt zu bewilligen, war traditionell das wichtigste Recht, das Volksversammlungen in monarchischen Ordnungen zustand. Erst die Aufsicht über die Staatskasse gab dem Parlament die Möglichkeit, die Exekutivorgane zu einem gewissen Grad zu kontrollieren und die Richtung der Regierungsarbeit aktiv mitzubestimmen. Benedikt Waldeck bezeichnete das Budgetrecht deshalb als „Abc des Constitutionalismus“.98

Der vor Kurzem beigelegte preußische Verfassungskonflikt hatte gerade erst in aller Deutlichkeit gezeigt, wie sehr dieses Alphabet die Kommunikation und damit die Machtverhältnisse zwischen Parlament und Regierung bestimmte. Im Streit über die Heeresreform hatte das Abgeordnetenhaus versucht, die Regierung über die Verweigerung der dafür benötigten finanziellen Ausgaben zu erpressen. Bismarck hatte daraufhin das Budgetrecht ausgehebelt und einfach ohne parlamentarisch genehmigten Haushalt regiert, sich dadurch aber in einen dauerhaften Konflikt mit dem Parlament begeben, der die gesamte politische Entwicklung der letzten Jahre überschattet hatte. Angesichts dieser Erfahrung wollte Bismarcks das schärfste Schwert des Parlamentarismus gehörig abstumpfen. Nur die Ausgaben, nicht aber die Einnahmen des Bundes sollten der Budgetgewalt unterliegen. Eine Bewilligung durch den Reichstag sollte nur alle drei Jahre statt wie sonst üblich jedes Jahr erfolgen. Die Unterhaltung des Militärs und der Marine sollte gar gänzlich vom Normaletat ausgenommen bleiben.99

Sowohl die Links- als auch die Nationalliberalen reagierten auf diese Vorschriften mit Entsetzen. Vor allem waren sie darüber schockiert, wie weit Bismarcks Entwurf hinter die Budgetbestimmungen der preußischen Verfassung zurückging. Das „Steuerbewilligungs-Recht“, empörte sich Waldeck, sei in allen „modernen Staats-Verfassungen dahin ausgedehnt, daß durch das Budget Einnahmen und Ausgaben festgesetzt [würden]“, selbst in Preußen. Es sei genau dieses Merkmal „das […] verfassungsmäßige Staaten scheidet von absoluten“. Sein nationalliberaler Kollege Karl Twesten pflichtete ihm vollkommen bei. Das Budgetrecht sei „eine constitutionelle Frage von höchstem Gewicht“. Erst sie mache einen konstitutionellen Staat zu dem, was er sei, nämlich eine Ordnung, in der sich Monarch und Parlament die Macht teilten. In anderen Worten: Für die Liberalen war das Budgetrecht der Faktor, der über das Wesen der Verfassung bestimmte. Nachdem sie schon auf die Einrichtung einer Bundesregierung hatten verzichten müssen, kämpften sie deshalb bei den Verhandlungen des Bundesfinanzsystems umso verbissener um den Ausbau des Budgetrechtes.100

Dabei hatten die beiden großen liberalen Fraktionen allerdings durchaus verschiedene Absichten. Darin spiegelte sich ihr unterschiedlicher Umgang mit der Erfahrung des preußischen Verfassungskonfliktes wider. Die Linksliberalen stritten vor allem deswegen für das volle Budgetrecht, weil sie ein Druckmittel schaffen wollten, mit dem das Parlament den Trägern der Regierungsarbeit politische Zugeständnisse würde abringen können. Um eine widerspenstige Regierung, die sich gegen die im Parlament vertretene öffentliche Meinung stellte, wieder in die Spur zu bringen, sei es vollkommen legitim, dem Beispiel des preußischen Abgeordnetenhauses zu folgen und einen Haushaltsentwurf ganz oder teilweise abzulehnen. Das „Budgetrecht soll eben diese Gewalt dem gesetzgebenden Körper geben“, machte Waldeck klar, „er soll an der Regierung participieren in der Weise, wie er es hiernach kann und Niemand hat das Recht von Mißbrauch zu reden, wenn Jemand sein Recht geltend macht“. Schließlich habe das Recht zur Bewilligung von Finanzen den gleichen Zweck wie die Verantwortlichkeit von Ministern, nämlich dass „die Regierung […] im Einklang mit dem Volke regieren“ soll. Eben dies sei „das große Princip, nicht das demokratische, das constitutionelle“.101

Im Gegensatz dazu verstanden die Nationalliberalen das Budgetrecht mehr als eine Art Verständigungs- oder Kommunikationsmittel zwischen Regierung und Parlament. Sie bestanden auf seinem Ausbau, weil sie glaubten, dass es sonst unmöglich sein würde, in dem neuen Regierungssystem die Interessen der Regierung mit denen des Parlamentes in Einklang zu bringen, also Kompromisse herzustellen, die einen Haushaltsstreit wie den über die preußische Heeresreform auf Bundesebene verhindern würden. Nur wenn das Budget „in Uebereinstimmung des Reichstages und der Präsidialmacht gemacht werden“ sollte, erklärte Rudolf von Bennigsen, würden „beide Theile […], wenn man so will, ganz auf demselben Boden sich befinden“. Schon der „gesunde Menschenverstand“ und „das Gesetz“ verböten es dagegen, betonte Twesten, das Budgetrecht zur Erpressung der Regierung zu missbrauchen. Es verstehe sich „von selbst“, dass „das constitutionelle Recht und die constitutionelle Moral […] für jede Volksvertretung ihre Grenzen an den bestehenden Gesetzen“ habe. „Keine Volksvertretung“ dürfe daher „dasjenige verweigern, was zur Ausführung eines bestehenden Gesetzes erforderlich“ sei.102

Mit dieser Sichtweise konnte sich auch die rechte Seite des Hauses zumindest teilweise arrangieren. Selbst viele Konservative sahen keinen triftigen Grund, warum dem Reichstag das volle Budgetrecht über den Normaletat verwehrt bleiben sollte. Während sie für das Militär die speziellen Sicherungen der Regierungsvorlage zäh verteidigten, verstanden sie das Recht, in allen anderen Bereichen sowohl Ausgaben als auch Einnahmen zu bewilligen, als ein aus der Ständezeit überliefertes parlamentarisches Privileg, das zum Konstitutionalismus genauso dazugehörte wie die Vorrechte des Monarchen. Der pommersche Großgrundbesitzer Moritz von Blanckenburg erklärte etwa, dass die Konservative Partei „gar nichts dagegen [habe], wenn nach dem Preußischen Muster künftig auch die Einnahme-Positionen in dem Etat erschienen“, solange der Militärhaushalt davon ausgenommen bliebe. Auch gegen eine Verkürzung der Budgetperiode hatten große Teile der Konservativen nichts einzuwenden. Der freikonservative Abgeordnete Eduard von Bethusy-Huc, der immer wieder als Vermittler zwischen Konservativen und Liberalen auftrat, gab dafür zwei Hauptgründe an. Eine dreijährige Laufzeit des Budgets habe „in einem großen Staate […] noch keine Geschichte“. Es mangele daher einfach an historischen Erfahrungswerten. Außerdem spräche gegen eine solche Regelung, dass sie „die Budgetverhandlungen“ des Norddeutschen Bundes „auf einen anderen Zeitraum“ ausdehne, „als denjenigen, welcher für unser engeres Preußisches Vaterland“ gelte.103

Hinsichtlich des Normaletats herrschte also ein gewisser Grundkonsens zwischen vielen liberalen und konservativen Abgeordneten. Das erlaubte den Nationalliberalen, das Budget des Reichstages deutlich auszubauen. Auf Antrag Miquels, einem ausgewiesenen Finanzexperten, der ob seiner engen Kontakte ins konservative Lager schon als künftiger preußischer Finanzminister gehandelt wurde, beschloss eine knappe Mehrheit von zwanzig Stimmen, auch die Einnahmen des Bundes der Budgetgewalt des Reichstages zu unterstellen und den Bewilligungszeitraum auf ein Jahr zu verkürzen. Diese Änderung stellte sicher, dass in Zukunft niemand am Parlament vorbeiregieren könnte. Dadurch stiegen die Chancen des Reichstages beträchtlich, mit der Zeit mehr Einfluss auf die Regierungsarbeit zu bekommen. Die Nationalliberalen glaubten fest daran. Das hatte nicht zuletzt mit ihrem „kooperativen Budgetverständnis“ zu tun. Denn wenn man das Budgetrecht nicht länger wie zu Zeiten des preußischen Verfassungskonfliktes als ein Mittel zur Verteidigung des Konstitutionalismus, sondern als ein Verständigungsinstrument zwischen Parlament und Regierung auffasste, konnte es viel besser zur Verteilung staatlicher Mittel und damit zur Bindung der exekutiven Entscheidungsträger an den Reichstag genutzt werden. Das galt besonders, wenn sich die Erwartung der Nationalliberalen erfüllen würde, dass eine baldige Zentralisierung und damit eine Ausweitung des Bundesetats bevorstand. Je nachdem, wie weit diese Entwicklung gehen würde, könnte der Reichstag dadurch eventuell sogar zum Zentrum des politischen Prozesses werden.104

Dem entgegen standen allerdings die Sonderregelungen für den mit Abstand größten Einzelposten des Haushaltes: das Militär. Über diesen Spezialetat gingen die Meinungen der verschiedenen politischen Lager so weit auseinander, dass es fast zum Scheitern der Verhandlungen kam. Die richtige Abwägung der Mitspracherechte des Parlamentes und der Sicherheitsbedürfnisse des neuen Bundes war äußerst umstritten. Das lag nicht nur an den tiefen Wunden, die der preußische Verfassungskonflikt geschlagen hatte, sondern auch an der angespannten Sicherheitslage. Die verbündeten Staaten hatten gerade erst einen Bürgerkrieg überstanden. Außerdem war in dem Streit über Luxemburg das Säbelrasseln des französischen Kaisers laut zu hören. Sollte ein Anschluss der Südstaaten erfolgen, war ohnehin eine kriegerische Auseinandersetzung mit dem westlichen Nachbarn nicht unwahrscheinlich. Aus diesen Gründen gab Bismarcks Entwurf Sicherheitsbedenken absoluten Vorrang. Die Friedenspräsenzstärke des Heeres sollte auf ein Prozent der Bevölkerung von 1867 festgesetzt werden. Im Falle eines Bevölkerungswachstums sollte dieser Anteil alle zehn Jahre angepasst werden. Diese Dauerbewilligung der Heeresstärke, das sogenannte „Aeternat“, sollte durch einen auf unbestimmte Zeit festgelegten „eisernen Heeresetat“ ergänzt werden. Zur Bestreitung der Militärausgaben sollte jeder Einzelstaat jedes Jahr 225 Taler für jeden Soldaten in seinen Regimentern an den Bundesfeldherrn entrichten.105

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