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Das Fehlen von Grundrechten wurde im Reichstag vor allem von zwei Seiten kritisiert. Die auf alle Fraktionen verteilten katholischen Abgeordneten fürchteten in dem neuen, protestantisch dominierten Bund um die Ausübung ihrer Religion. Sie forderten deshalb ein ganz spezifisches Grundrecht: die „Freiheit des religiösen Bekenntnisses“. Alle dahingehenden Anträge – allen voran der des westfälischen Regierungsrates Hermann von Mallinckrodt, der die katholische Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus anführte und drei Jahre später die Zentrumspartei mitbegründete – scheiterten jedoch, egal, aus welcher parteipolitischen Richtung sie kamen. Die meisten Parlamentarier sahen einfach keinen Grund dafür, der Religionsfreiheit einen Vorzug gegenüber anderen Grundrechten einzuräumen. Auch das Argument, dass durch die Gewähr dieses Rechtes den überwiegend katholisch geprägten Südstaaten der Eintritt in den Bund erleichtert werde, lehnten sie ab. Die Erfahrung zeige, wie der nationalliberale Abgeordnete Adolph Weber unter lauten Zustimmungsrufen zusammenfasste, dass die Toleranz des preußischen Staates die Religionsfreiheit ausreichend garantiere: „Die Ultramontanen werden sich sagen müssen, daß, wenn Preußen und Norddeutschland auch ein wesentlich protestantischer Staat ist, wenn das Princip protestantischer Geistes-Freiheit auch der Grundpfeiler dieses Staates ist, daß doch die Preußische Regierung stets mit dem gleichen Recht und mit dem gleichen Wohlwollen ihre katholischen Unterthanen, wie ihre protestantischen behandelt hat, und daß also die Katholiken Süd-Deutschlands nichts für ihre Religion und für ihre Rechte zu befürchten haben, wenn sie in den Norddeutschen Bund eintreten.“53

Die Linksliberalen verlangten kein einzelnes, spezielles Grundrecht, sondern einen umfangreichen Grundrechtskatalog wie in der Reichsverfassung von 1849. Teilweise gingen ihre Forderungen sogar über die dort garantierten klassischen Individualrechte hinaus. Hermann Schulze-Delitzsch, Mitbegründer der Fortschrittspartei und einer der Väter des deutschen Genossenschaftswesens, schlug die Einsetzung einer Kommission vor, die den Grundrechtskatalog der Paulskirche zeitgemäß überarbeiten sollte. Die Garantie von Grundrechten, begründete er seinen Antrag, sei ganz einfach eine Gegenleistung für die erhöhten Anforderungen, die an die Bürger in einem modernen Bund gestellt würden, schon allein in puncto Steuerlast. Angesichts der „geschichtlichen Entwickelung unserer Zeit“, namentlich der Industrialisierung, gehe es dabei auch um soziale Grundrechte. Neben den „politischen Fragen“ müsse eine Grundrechtskommission auch die „socialen Fragen“ im Blick haben, um so zu einer echten „Feststellung menschlicher Lebensberechtigung“ zu kommen. Nur mit einer solchen Liste an Grundrechten könne man sicherstellen, dass „in jeder Hütte des Landes die Constitution […] sich [befinde]“, die Bevölkerung sich also mit der Verfassung identifiziere.54

Es gab allerdings nicht viele solcher Stimmen. Verhältnismäßig wenige Abgeordnete forderten einen ganzen Grundrechtskatalog. Das lag nicht zuletzt daran, dass es anders als 1848 nicht um die „Existenz von Grundrechten“ ging, wie Klaus Erich Pollmann betont hat, sondern nur um deren „zusätzliche Verankerung in der Bundesverfassung“. Mit Ausnahme der beiden Mecklenburger Herzogtümer hatten alle deutschen Staaten 1848 oder in den Jahren danach Grundrechte in ihre Verfassungen aufgenommen. Der preußische Grundrechtskatalog war sogar besonders detailliert. Er stand ganz zu Anfang der revidierten Verfassung von 1850 und umfasste nicht weniger als vierzig Artikel. Außerhalb der Fortschrittsfraktion sahen die meisten Liberalen deswegen nicht ein, die Gründung eines Nationalstaates dadurch zu gefährden, dass sie sich auf die Forderung einer langen Liste von Grundrechten versteiften, die die einzelstaatlichen Verfassungen ohnehin gewährleisteten.55

Diese pragmatische Haltung rührte vor allem von der traumatischen Erfahrung her, die die Liberalen 1848/ 49 gemacht hatten. Damals war die Verfassung nicht zuletzt deshalb gescheitert, weil eine monatelange Grundrechtsdebatte die Frankfurter Nationalversammlung davon abhielt, die vorübergehende Schwäche der monarchischen Einzelstaatsregierungen zu nutzen, die exekutive und militärische Gewalt an sich zu reißen, und durch die Ausrufung eines Nationalstaates Tatsachen zu schaffen. „Diese Grundrechtsdebatte“, erinnerte Carl Braun die anderen Abgeordneten, „dauerte ein Jahr. Sie war ein ‚Schrecken ohne Ende‘ und endigte mit einem ‚Ende mit Schrecken‘“. In diesem Sinne betonte sein Kollege August Grumbrecht mit dem Nachdruck eines Zeitzeugen, dass Verhandlungen über einen Grundrechtskatalog die Sache nicht wert seien. Sie würden vermutlich lange dauern, die Kooperationsbereitschaft der monarchischen Regierungen verringern und das gegenwärtige Momentum, „die Strömung zur Einheit, das Drängen zu der Gründung des Staates“ verstreichen lassen. „Ich bin Mitglied der Frankfurter National-Versammlung gewesen“, appellierte er an die Versammlung, „und ich weiß, daß das Verfassungswerk in Frankfurt wesentlich mit gescheitert ist durch die Berathungen über die Grundrechte“.56

Grumbrecht, Braun und einige andere Nationalliberale gaben die Idee von Grundrechten aber nicht gänzlich auf. Während sie einen umfangreichen Katalog ablehnten, setzten sie sich für eine Mindestgarantie ein. Ursache dafür waren die Zustände in Mecklenburg. Da es dort keine moderne Verfassung, sondern nur aus der Zeit gefallene feudale Strukturen gab, standen die Bürger auch nicht unter dem Schutz von Grundrechten. Vor allem der Mecklenburger Fortschrittsparteiler Moritz Wiggers, der die Folgen des Grundrechtemangels in den 1850er-Jahren in einem Hochverratsprozess mit anschließender Gefängnishaft am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, prangerte die dortigen Verhältnisse im Reichstag leidenschaftlich an. Um dieses lokale Grundrechtsvakuum zu füllen, kam aus der nationalliberalen Fraktion, zu der auch Wiggers’ ebenfalls einst inhaftierter Bruder Julius gehörte, ein Kompromissvorschlag. Carl Braun beantragte mit Unterstützung von knapp vierzig Kollegen, dem Bund das Recht zu geben, ein Minimum an Grundrechtsschutz zu definieren, das kein Einzelstaat „in Bezug auf Preß-, Vereins- und Versammlungsrecht, so wie in Bezug auf die sonstigen persönlichen und staatsbürgerlichen Rechte seinen Angehörigen vorenthalten darf “. Eine knappe Mehrheit von 130 zu 128 Stimmen votierte aber dagegen.57

Die Initiatoren des Antrages konnten sich damit trösten, dass der Entwurf zumindest einige Verwaltungsgebiete in die Kompetenz des Bundes legte, die die Möglichkeit boten, in Zukunft auf dem Weg der Bundesgesetzgebung einen Grundrechtsschutz in den entsprechenden Feldern aufzubauen. Dazu gehörten die Freizügigkeit, die Heimats- und Niederlassungsverhältnisse, sowie das Gewerberecht. Darüber hinaus gab es ein gemeinsames Indigenat oder Bundesbürgerrecht, wonach die Angehörigen jedes Einzelstaates in allen Teilen des Bundes als Inländer gelten und die gleichen Rechte genießen sollten. Carl Braun, der als Vorsitzender des Kongresses der deutschen Volkswirte für Freihandel und Liberalisierung des Wirtschaftslebens eintrat, sprach den meisten liberalen Abgeordneten aus der Seele, als er unterstrich, dass diese Bestimmungen immerhin der „Verwirklichung der wirtschaftlichen Menschrechte“ entsprächen. Die wirtschaftliche „Zugfreiheit“, die durch sie gewährleistet werde, sei zwar noch ausbaufähig. Aber eine Grundlage sei in dem Entwurf gelegt. Deswegen sei es besser, lieber diese „speciellen Grundrechte“ rasch anzunehmen und auf ihre zukünftige Weiterentwicklung zu vertrauen, als sich auf lange Grabenkämpfe über einen Grundrechtskatalog einzulassen: „Sichern wir den äußern Verfassungs-Bau, dann können wir, nach Feststellung eines, fortwährender Fortbildung fähigen und unterworfenen Verfassungswerkes getrost sagen: ‚Sind wir unter sicherm Dach / Einmal nur geborgen, / Läßt für wohnliches Gemach / Sich’s schon weiter sorgen.‘“58

In diesem Vertrauen auf die Zukunft halfen die Nationalliberalen einer Verfassung bar jeder Grundrechte ins Leben. Sie sahen die Verhandlung von Bismarcks Entwurf nur als den ersten Schritt einer umfangreichen Verfassungsentwicklung, von der sie erwarteten, dass sie sich über Jahrzehnte hinziehen und ihnen allmählich die Chance zur Durchsetzung ihrer Ziele geben würde. Aus ihrer Sicht war das Zustandebringen der neuen Verfassung also nicht das Ende, sondern nur ein Zwischenstopp im Kampf um die Grundrechte und andere liberale Ideale.

Bismarcks ewiger Bund

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