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1 1.1 „Moderne“ Wissenschaften und Nationen
ОглавлениеVom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, als sich in ganz Europa Rahmenbedingungen und Formen dessen ausprägten, was heute unter „moderner Wissenschaft“ verstanden wird, gehörten einige Gebiete unseres Betrachtungsraumes politisch zunächst noch zum Herrschaftsgebiet des Osmanischen Reichs, der überwiegende Teil aber zu dem der Habsburgermonarchie. Ihr Zentrum Wien hatte daher in vielfacher Hinsicht Einfluss auf die wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Entwicklung der sich im 19. Jahrhundert formierenden „Nationen“, trotz und teilweise gerade wegen ihrer zunehmenden politischen Abgrenzung von diesem Zentrum.
Generell ist Europa im 19. Jahrhundert von zwei für unseren Gegenstand maßgeblichen und komplex verflochtenen Aspekten der politischen und wissenschaftlichen Entwicklung charakterisiert: Eine der vielen Antworten auf die napoleonischen Kriege und die konservative Restaurationspolitik der europäischen Großmächte bestand in zunehmenden nationalstaatlichen Bestrebungen. Diese entwickelten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa in Konkurrenz und Opposition zur imperialen Politik der heterogen zusammengesetzten Habsburgischen, Russischen und Osmanischen Reiche besondere Brisanz. Formen der politischen und sozialen Nationsentwicklung und die ihnen zugrunde liegenden Prozesse nationaler Identifikation benötigten ihrerseits Erzählungen, die eine „eigene“ – möglichst weit in die Vergangenheit zurück reichende – Geschichte propagierten.
Wissenschaft als Legitimationsinstanz
Solche nationalen „Meistererzählungen“ bedurften einer möglichst robusten Fundierung durch historische Belege. Quellenbasierte Geschichtsdeutungen hatten größere Autorität, wodurch wissenschaftliche Forschung in den entstehenden Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts eine herausragende Funktion als Legitimationsinstanz erhielt: Philologien, Sprach- und Geschichtswissenschaften, historische [<<33] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe Geographie und Archäologie und später auch „neue“ Fächer wie die Ethnologie erarbeiteten Materialgrundlagen und Methoden, mit denen die kategorialen Grundlagen dessen geschaffen wurden, was man als Basis einer „Nation“ verstand: eine gemeinsame Sprache und Herkunft, Geschichte und Kultur.
Die zunehmende Bedeutung nationaler Geschichtskulturen und deren Konkurrenz untereinander führten somit zu einer Aufwertung von Wissenschaft, deren Arbeits-, Organisations- und Vermittlungsformen. Dies resultierte in einem gewaltigen Schub der Institutionalisierung und Professionalisierung wissenschaftlicher Forschung.
Neue Sammlungen und Institutionen
Die Sammlung, Sichtung, Ordnung und Auswertung vor allem schriftlicher, aber auch materieller Überlieferung war bis dahin am Ort der Entstehung der Quellen selbst – in Klöstern, an Adelssitzen, in Städten und später in höfischen Sammlungen und Institutionen (in Wien etwa das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, die Hofbibliothek oder das Münz- und Antikenkabinett) erfolgt. Dort hatte sie jeweils einen besonders seit dem 18. Jahrhundert intensivierten Prozess der Verwissenschaftlichung im Sinn einer zunehmend geregelten methodischen Herangehensweise an die Gegenstände durchlaufen.
Im 19. Jahrhundert verschob sich der institutionelle Schwerpunkt durch die Aufhebung vieler geistlicher Institutionen einerseits und die Einrichtung neuer Akademien und universitärer Lehrstühle, Bibliotheken und Museen andererseits in Richtung zentraler Institutionen, wo unterschiedliche Überlieferungsformen (Handschriften, archäologische Funde, Toponyme, etc.) mit neu entwickelten Methoden erfasst, bearbeitet und analysiert wurden.
Landes- und Nationalmuseen
So wurden nach der Gründung des ungarischen Nationalmuseums 1802 ähnliche Institutionen in Berlin (1815), Lemberg (1817, heute in Breslau/Wrocław), Prag (1818), Agram/Zagreb (1821) und Laibach/Ljubljana (1821 Landesmuseum für Krain, 1921 slowenisches Nationalmuseum) gegründet, sowie das steiermärkische Landesmuseum Joanneum in Graz (1811) und das Ferdinandeum in Innsbruck (1823). Die methodische Ausdifferenzierung führte zur Abgrenzung wissenschaftlicher Disziplinen gegeneinander, wenn auch die jeweils individuellen Formen der wissenschaftlichen Zusammenarbeit überregional bzw. international, die neuen Fachrichtungen übergreifend und durch persönliche Kontakte geprägt waren. [<<34]
Vereine und Gesellschaften
Ähnliche Tendenzen der organisierten Beschäftigung mit der Vergangenheit zeigten sich in der Gründung verschiedener Vereine und Gesellschaften auf regionaler und Landesebene. Ihre Träger waren ebenfalls oft Vertreter sozialer – adeliger und bürgerlich-gelehrter – Eliten, die sich ihrerseits zu Trägern des jeweiligen Landes- bzw. Nationalbewusstseins entwickelten. Staatlich-institutionelle und „private“ Initiativen waren zunächst eng miteinander verflochten, so wie die europäische Gelehrtenkultur durch ein dichtes Netz an personellen, intellektuellen und institutionellen Bezügen gekennzeichnet war.
Quellenerschließung und Editionen
Überall aber erforderte die umfassende Sammlung unterschiedlichster Überlieferung neue Organisationsformen der Quellenerschließung, allen voran in großen Editionsunternehmen. Die Tätigkeiten im Rahmen der bereits in den 1770er Jahren gegründeten, und damit ältesten gelehrten Vereinigung, der Königlich-Böhmischen Gesellschaft, sind dafür ebenso ein Beispiel wie das bis heute federführende Editionsunternehmen für mittelalterliche Schriftquellen, die Monumenta Germaniae Historica (MGH), das in der 1819 durch den Reichsfreiherrn Karl von Stein begründeten Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde seinen Anfang nahm. An der 1825 von Graf Széchenyi in Pressburg am damaligen Parlamentssitz gegründeten und geförderten Ungarischen Akademie der Wissenschaften (so genannt ab 1845) wurden ebenfalls früh Editionsprojekte durchgeführt. Die Praxis der systematischen Quellenerhebung, -kritik und -interpretation ging Hand in Hand mit der Etablierung von zunehmend spezialisierten begrifflichen Instrumentarien.
Neue Ausbildungsstätten
In diesem gesamteuropäischen Rahmen gewann die Universität Wien als wissenschaftliches Zentrum vergleichsweise spät jenes Profil, das sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts charakterisierte. Im Unterschied etwa zu den deutschen Ländern wurde hier zu Beginn des Jahrhunderts noch keine systematische Forschung oder Methodendiskussion betrieben. Der Lehrbetrieb war den obrigkeitsstaatlichen Prinzipien des Vormärz unterworfen. Erst das Revolutionsjahr 1848 führte zu grundlegenden Reformen durch die Zentralverwaltung und zu einer offeneren Haltung gegenüber der universitären Lehre und Forschung. Der staatliche Bedarf nach einer modernisierten Wissenschaftsverwaltung äußerte sich bereits zuvor im Beginn der [<<35] Universitätsreform (1847) und – in demselben Jahr – der Gründung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, als deren erste Einrichtung die Historische Kommission mit ihrer Arbeit begann und bald maßgebliche Editionsreihen wie die Fontes rerum Austriacarum etablierte. Seit 1848 konnten österreichische Gelehrte und Institutionen auch formell Mitglied der MGH sein. 1854 wurde schließlich nach dem Vorbild der Pariser École des Chartes (1821) das Institut für österreichische Geschichtsforschung (IÖG) gegründet.
Nationalgeschichte der Habsburgermonarchie?
All diese Initiativen sind nicht nur Antwort auf bildungs- und verwaltungspolitische Defizite, sondern sie reagierten auch auf die grundlegenden Schwierigkeiten der Habsburgermonarchie und ihres Zentrums, ein integratives nationalstaatliches Geschichtsbild zu etablieren. Um eine forschungsbasierte „Nationalgeschichte“ im Sinn einer habsburgischen Gesamtstaatsgeschichte ging es einem der bekanntesten Vertreter der Reformpolitik, dem aus Prag stammenden Juristen, Bildungsbeamten und ab 1861 Unterrichtsstaatssekretär Josef Alexander Helfert. 1853 veröffentlichte er in Prag seine Schrift Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, die programmatisch für die habsburgische Wissenschaftspolitik war. Der mit der Gründung des IÖG verbundene politische Auftrag bestand daher in Helferts Sinn in einer wissenschaftlichen Ausbildung und Forschung, die das Verständnis einer habsburgischen Gesamtstaatsgeschichte begründen, aufbauen und vermitteln sollten.
Hilfswissenschaftliche Mediävistik in Wien
Betrafen also zunächst die Aufgaben des IÖG sowohl Geschichtsforschung als auch Geschichtsdarstellung, so verschob sich der Schwerpunkt von Beginn der praktischen Arbeit an auf die Forschungsaspekte, und hier wiederum fokussiert auf mediävistisch-hilfswissenschaftliche Studien. Maßgeblich prägte diese Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der aus Sachsen berufene Institutsleiter Theodor von Sickel (1869–1891), unter dem das IÖG sein primär an der Urkundenforschung (Diplomatik) des Mittelalters orientiertes Profil entwickelte. Das Sickel’sche paläographisch-diplomatische Ideal der „peinlich exakten Methode“ wurde nicht zuletzt vor dem Hintergrund zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Modelle neben der Urkundenforschung auch auf andere Gegenstände mittelalterlicher Überlieferung und ihre Erforschung angewandt (z. B. Numismatik, Heraldik, Sphragistik). [<<36]
Die zunehmende methodische Spezialisierung und die Konzentration auf die hilfswissenschaftlichen Aspekte der Geschichtsforschung an Quellen zur Geschichte des Mittelalters begründeten letztlich den Erfolg dieser Institution und ihren nachhaltigen Einfluss zunächst auf die österreichische Forschungslandschaft und bald auch in Mittel- und Südosteuropa. Diese spezifische Forschungspraxis und das – mit wenigen Ausnahmen – Fehlen von Bemühungen um umfassendere Geschichtsdarstellungen gingen Hand in Hand mit einer tendenziell unpolitischen Haltung eines großen Teils der Institutsangehörigen.