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1.4 Ausblick: nach 1945 – nach 1989
ОглавлениеDie europäische Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat durch die Teilung des Kontinents in zwei machtpolitische und ideologische Blöcke, die sich ihrerseits – wie zuvor nationalstaatliche Ideologien, kulminierend im Nationalsozialismus – maßgeblich auf die Wahrnehmung von Geschichte und die Konstruktion von Geschichtsbildern ausgewirkt hat, ebenso nachhaltig die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Bilder einschließlich der methodischen Erschließung und Aufbereitung historischer Überlieferung beeinflusst. Anders als im 19. und 20. Jahrhundert bis zur Zwischenkriegszeit, als wissenschaftliche Kommunikation trotz politischer Brüche zwar eingeschränkt, aber dennoch auch grenzüberschreitend weiter stattfand, hat der Totalitarismus des 20. Jahrhundert zu vielfach bis heute wirksamen Unterbrechungen des fachlichen wie methodischen Austausches geführt.
Fallbeispiele in Langzeitperspektive
Die grundlegende Wende von 1989 kann daher nicht hoch genug eingeschätzt werden. Seither hat die politische Öffnung eine Vielzahl [<<47] von Initiativen zur Wiederaufnahme, Intensivierung und Stabilisierung des wissenschaftlichen Dialogs ermöglicht. Jedoch auch hier macht gerade die südosteuropäische Blickachse deutlich, wie heterogen und regional spezifisch die Auswirkungen der politischen Wende auf gesellschaftliche und damit auch wissenschaftliche Perspektiven waren: Der gewaltsame Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und die weitgehend friedliche, aber von schweren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen geprägte Übergangsepoche in Bulgarien und Rumänien hatten in den einzelnen Ländern ganz unterschiedliche Konsequenzen.
In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, aber auch in Bulgarien und Rumänien differenzierte sich die Forschung in den letzten drei Jahrzehnten in ein weitgehend selbstreferentielles, nach außen hin abgeschlossenes nationalkonservatives Lager einerseits und Gruppen von Historikerinnen und Historikern, die nach der Isolation im Kommunismus bewusst die Integration in eine gesamteuropäische Historikergemeinschaft anstreben, andererseits. Die Mittelalterforschung spiegelt so im Kleinen Gesellschaften mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten wider.
Es ist daher kaum verwunderlich, dass eine gesellschaftlich und politisch kritische und inhaltlich differenzierte Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit (nach 1945) sowie der jüngeren Vergangenheit bis einschließlich der letzten drei Jahrzehnte seit Ende der kommunistischen Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa geographisch, institutionell und disziplinär äußerst unterschiedlich stark entwickelt ist. Dies wiederum hat seinerseits Auswirkungen auf den aktuellen Stand der jeweiligen Auseinandersetzung mit Gegenständen und Themen der Mittelalterforschung und der Einschätzung und Interpretation der Überlieferung.
Ein Fallbespiel für diese zudem vielfach gebrochenen Forschungsgeschichten bietet in diesem Buch der Überblick von Miklós Takács in Kap. 2.4.2 zur Mittelalterarchäologie der Provinz Woiwodina seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu den Veränderungen nach 1989; ein weiteres die in Kap. 4.6.4 diskutierte Erschließung und Interpretation mailändischer Gesandtenbriefe durch die historische Südosteuropaforschung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart hinsichtlich der Konstruktion des als Nationalhelden gefeierten albanischen Fürsten Georg Kastriota Skanderbeg (1405–1468). [<<48]
An dieser Stelle müssen einige Beispiele als Ausblick auf zukünftige Forschungsaufgaben genügen: Zeitlich konsequent fand in unserem Betrachtungsraum eine umfassende Aufarbeitung der Verflechtung von Wissenschaft und Politik in den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zuerst und systematisch in der Bundesrepublik Deutschland statt. Diese Aufarbeitung erfasste auch die Mittelalterforschung und mit ihr die historischen Hilfswissenschaften und ihre Vertreter und wenigen Vertreterinnen. In Österreich, wo politisch lange die These seiner Rolle als „Opfer“ nationalsozialistischer Machtpolitik prägend blieb, setzte der Prozess einer systematischen und gleichzeitig differenzierten Analyse der Involvierung wissenschaftlicher Akteure in das politische Geschehen erst deutlich später und zögerlich ein. Federführend war auch hier die zeithistorische Forschung.
Für die österreichische Mediävistik und ihre spezifische Ausprägung am Institut für österreichische Geschichtsforschung ist dieser Prozess nach wie vor nicht abgeschlossen: Das von Karel Hruza herausgegebene mehrbändige Handbuch Österreichische Historiker (1900–1945) (Bde. 1 und 2, Wien 2008 und 2012) zeigt, in welchen unterschiedlichen Formen gerade auch scheinbar unpolitische, methodisch-„positivistische“ historische Hilfswissenschaften und Quellenforschungen ihren wesentlichen Anteil an der Schaffung und Verfestigung von Geschichtsbildern haben können.
Die Aufarbeitung der komplexen Geschichte der deutsch-böhmischen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert und ihrer Beziehungen zur tschechischen Historiographie vor dem Hintergrund der mehrfach gebrochenen Geschichte der böhmischen Länder und der Slowakei im Kontext der politischen Entwicklung des östlichen Mitteleuropa macht sich das 1956 gegründete Collegium Carolinum in München zur Aufgabe. Als wissenschaftliche Gesellschaft, die unterschiedliche Fachdisziplinen und ihre Vertreterinnen und Vertreter aus einer Vielzahl europäischer Länder zusammenbringt, widmet sie sich besonders der vergleichenden Forschung. So wurden etwa in mehreren besonders seit 2000 durchgeführten Tagungen für die Zeit nach 1945 eine Reihe der hier angesprochenen Fragen systematisch diskutiert und publiziert. Eine vergleichbare Plattform für den internationalen Austausch hat sich mit dem Collegium Hungaricum in Wien etabliert. [<<49]
In der Südosteuropäischen Geschichte setzte eine Münchner Tagung im Jahre 2002 wichtige Akzente, die freilich kaum der umfangmäßig bescheidenen deutschsprachigen mediävistischen Forschung zum Balkanraum galten. Gegenwärtig setzt sich auch die deutsche Südosteuropa-Gesellschaft kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinander. In Südosteuropa selbst ist es in der Mittelalterforschung am ehesten die bulgarische Osmanistik, die ihre Rolle bei der Rechtfertigung der nationalistischen Repression gegen die türkische Minderheit in der Spätphase (Mitte der 1980er Jahre) der kommunistischen Diktatur Todor Živkovs hinterfragt.
Deutlich geringer ist eine öffentliche Debatte in der serbischen Mediävistik, die teilweise immer noch nationalistische Positionen vertritt, etwa die selbstverständliche Eingliederung ganz Bosniens und der Herzegowina in eine mittelalterliche serbische Geschichte. Stark von Nationalismus gekennzeichnet ist auch die personell kleine albanische Mittelalterforschung. In Griechenland besteht die Tendenz, Byzanz als griechischen Staat, und nicht als Vielvölkerreich wahrzunehmen. Historiographiekritische Ansätze in Südosteuropa sind überwiegend auf die Neuzeitforschung bezogen und behandeln das Mittelalter eher am Rande. Den kritischsten Umgang mit dem Mittelalter pflegen im regionalen Vergleich rumänische Historiker.
Hingegen hat sich in Ungarn das Collegium Budapest in den vergangenen beiden Jahrzehnten in einer Reihe von Workshops und daraus resultierenden internationalen Publikationen die systematische vergleichende Erforschung der Bedeutung mittelalterlicher Geschichte und der Methoden zu ihrer Erforschung für die Konstruktion vergangener wie gegenwärtiger nationaler Mythen zur Aufgabe gemacht. Die Untersuchung verschiedener historischer und kultureller Visionen der Vergangenheit dient als Ausgangspunkt für eine histoire croisée (Bénedicte Zimmermann, Michael Werner), eine Geschichte der Verflechtungen unterschiedlicher Gründungsnarrative. Ähnlich wie bei anderen aktuellen europäischen Forschungsprojekten, z. B. in Wien, Bergen, den Niederlanden bzw. jenen der European Science Foundation wird dabei die Untersuchung der einzelnen Fächer der humanities von den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts bis zu den Meistererzählungen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart in ihren Interaktionen in Politik und Wissenschaft fokussiert. [<<50]
Dabei werden die tiefgreifenden Auswirkungen der Mittelalterforschung und ihrer überlieferungsgeschichtlichen Grundlagen gerade dort deutlich, wo ihre populären Aneignungen nachhaltig erfolgreich waren. Andererseits wurden bereits im 18. und 19. Jahrhundert eine Reihe spezifisch nationaler Mythen durch Vertreter einer Länder und Fächer übergreifenden intellectual community aufgedeckt, deren gemeinsames Methodenverständnis in jahrzehntelangen Prozessen des Verhandelns von Gegenständen und der Praxis der Forschung zu historischer Überlieferung etabliert wurde.
Patrick J. Geary, Gábor Klaniczay, (Hg.), Manufacturing The Middle Ages. Entangled History of Medievalism in Nineteenth-Century Europe (Leiden, Boston 2013). [<<51]