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2.4.4 Ein Steppenvolk erobert den östlichen Balkan: Bildkultur und Schriftlichkeit in proto-bulgarischen Inschriften
Daniel Ziemann, Budapest

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Bei den als „proto-bulgarische Inschriften“ bezeichneten epigraphischen Zeugnissen handelt es sich um überwiegend in griechischen Buchstaben eingemeißelte oder eingravierte, meist fragmentarisch erhaltene Inschriften unterschiedlichen Inhalts aus der von der Forschung als „heidnische Periode“ des Ersten Bulgarischen Reichs bezeichneten Zeit des 7. bis 9. Jahrhunderts. Neben in Stein gemeisselten werden auch einige in Siegel, Ringe oder Becher eingravierte Inschriften hinzugezählt. Der überwiegende Teil der bisher entdeckten Inschriften ist nicht nur in griechischen Buchstaben, sondern auch in griechischer Sprache verfasst. Jedoch werden bisweilen auch Inschriften in altbulgarischer/altkirchenslawischer Sprache und kyrillischen Buchstaben aus späterer Zeit in die Inschriftensammlungen aufgenommen. Einige wenige Inschriften verwenden zwar griechische Buchstaben, sind aber in „proto-bulgarischer“ Sprache verfasst, also einer nicht mehr vollständig zu rekonstruierenden Sprache, die von der Mehrheit der Forschung den Turksprachen zugeordnet wird. Es handelt sich dabei um die Sprache der wohl aus dem asiatischen Raum eingewanderten Gruppen, die ab Ende des 7. Jahrhunderts die politisch-militärische Führungsschicht des Ersten Bulgarischen Reichs bildeten und im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung des Ersten Bulgarischen Reichs weder der slawischen noch einer romanisierten oder gräzisierten Sprachgemeinschaft zuzuordnen sind.

Die meisten Inschriften stammen aus der Zeit zwischen dem Ende des 8. und der Mitte des 9. Jahrhunderts, jedoch sind auch Inschriften aus späterer Zeit bekannt. Die zahlreichen altbulgarischen/altkirchenslawischen Inschriften aus dem 10./11. Jahrhundert in kyrillischen oder glagolitischen Buchstaben stehen, auch wenn sie in einen christlichen Kontext eingebettet sind, in der Tradition der proto-bulgarischen Inschriften; die von der Forschung jeweils gezogenen Grenzen sind daher fließend.

Im Hinblick auf Vorbilder und Traditionsstränge wird von Teilen der Forschung im Zusammenhang mit Überlegungen zur Herkunft der „Proto-Bulgaren“ auf die alttürkischen Inschriften Zentralasiens [<<125] verwiesen, jedoch sind für Bulgarien als ehemals zum Römischen Reich gehörendes Gebiet auch die zahlreich vorhandenen antiken lateinischen und griechischen Inschriften in Betracht zu ziehen (→ Kap. 2.2.2).

Die meisten bisher gefundenen Inschriften stammen aus dem heutigen Nordostbulgarien, also dem Herrschaftszentrum des Ersten Bulgarischen Reichs, hier vor allem aus der als Herrscherresidenz des Ersten Bulgarischen Reichs bezeichneten Stadt Pliska (s. dazu unten) und ihrer Umgebung in der Nähe der heutigen Stadt Šumen. Das Verbreitungsspektrum ist jedoch weit größer; so wurden Inschriften auch in Südbulgarien, im griechischen Philippi bei Kavala oder in der Umgebung von Thessaloniki gefunden. Teile der Forschung tendieren dazu, weitere Inschriften aus anderen Gegenden oder auch die häufig zu findenden Runenzeichen in die Überlegungen einzubeziehen.

Forschungsgeschichte

Obwohl die erste proto-bulgarische Inschrift aus den Ruinen der großen Basilika von Philippi schon Anfang des 18. Jahrhunderts abgeschrieben wurde, sind die bedeutendsten Entdeckungen und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema erst in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu datieren. Nach vereinzelten Veröffentlichungen von Inschriften aus Šumen und Veliko Tărnovo 1831 und 1859 wurden Stück für Stück weitere Exemplare der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, so beispielsweise durch den österreichisch-ungarischen Gelehrten Felix Kanitz (1829–1904), der zudem die berühmten Inschriften am Reiter von Madara (Abb 3) entdeckte.

Es waren jedoch vor allem die Gelehrten des späten 19. und beginnenden 20 Jahrhunderts, wie Konstantin Jireček (1854–1918), Karel (1859–1944) und Hermengild Škorpil (1858–1923), Fjodor Uspenskij (1845–1928) sowie Vasil Zlatarski (1866–1935), die neu entdeckte Inschriften in die wissenschaftliche Diskussion anhand von kritischen Editionen einführten und für Fragen der bulgarischen Geschichte nutzbar machten. Ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts stand die vertiefende Erforschung der bereits bekannten Inschriften im Vordergrund, aus der sich bisweilen eine rege Diskussion entwickelte.

Die eingehendste wissenschaftliche Bearbeitung und Edition der proto-bulgarischen Inschriften besorgte Veselin Beševliev (1900–1992) in deutscher Sprache im Jahr 1963. Die Gesamtedition wurde unter Ergänzung neu entdeckter Inschriften im Rahmen der 1992 erschienenen [<<126] zweiten Auflage der bulgarischen Ausgabe von 1979 aktualisiert und stellt damit den Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema dar.

Inschriften als Quellen für die bulgarische Geschichte

Die proto-bulgarischen Inschriften besitzen einen außerordentlichen Wert für die Geschichte des Ersten Bulgarischen Reichs, das sich ab 680/681 am Unterlauf der Donau etablierte. Durch sie verfügt die Forschung über einzigartige Zeugnisse, die den Ereignisverlauf aus Sicht der Bulgaren, also meist der ihrer Herrscher, bieten. Ansonsten stellen die von außen über das frühmittelalterliche Bulgarien berichtenden byzantinischen oder in geringerem Maße dem lateinischen Westen oder der islamischen Welt entstammenden Quellen die einzige Überlieferungsgrundlage dar. Die Inschriften gehören nicht nur zu den wichtigsten Quellen für die bulgarische Geschichte, sie stellen aufgrund des linguistischen Materials in Form von Namen und Titeln eine entscheidende Grundlage für Beobachtungen zur Sprache der „Proto-Bulgaren“ dar. Zugleich erlauben sie einen Blick auf deren Sozialstrukturen, Machtverhältnisse, Kult und Religion. So werden in verschiedenen Inschriften Titel wie Boilas, Bagainos, Kana, Tarkanos sowie unterschiedliche Zusammensetzungen von Titeln genannt, die sich Ämtern bzw. Positionen zuordnen lassen. In einer Inschrift werden beispielsweise Boilen, Bagainen und Bulgaren unterschieden, worin vermutlich soziale Schichten innerhalb des bulgarischen Reichs zu erkennen sind.

Veselin Beševliev teilte die Inschriften in seiner Edition in die Themenbereiche „Res gestae“ (d. h. „Ereignisse“), „Siegessäulen“, „Friedensverträge“, „Militärinschriften“, „Bauinschriften“, „Grabinschriften“ sowie „Unbestimmte Fragmente“ und schließlich „Varia und Dubia“ ein. Damit sind die zentralen inhaltlichen Aspekte erfasst. In den meisten komplett lesbaren Inschriften verkündet ein bulgarischer Herrscher ein Ereignis oder eine Maßnahme, sei es einen militärischen Sieg, den Bau eines Palastes oder den Abschluss eines Vertrages. Allerdings sind zahlreiche Inschriften nur als Fragmente erhalten und bieten oft nicht mehr als bloße Namen oder Wortfetzen.

Die meisten Diskussionen wurden um mehrere, teilweise schwer zu entziffernde Inschriften am Reiterrelief von Madara in der Nähe von Šumen geführt, an deren Zustandekommen vielleicht mehrere bulgarische Chane beteiligt waren. Folgt man der Lesung Veselin [<<127] Beševlievs, so würden wir dort mit einer Chan Tervel († ca. 717/721) zugeschriebenen Inschrift auch die früheste der heute bekannten proto-bulgarischen Inschriften erkennen können, doch bleiben bei der vorgeschlagenen Lesung gewisse Zweifel.

Ein interessantes Beispiel stellt eine Bauinschrift Chan Omurtags († ca.830) dar, die im Jahre 1905 auf einer nahe der Ortschaft „Khan Krum“ gefundenen Marmorsäule entdeckt wurde und von der Errichtung eines Palastes am Fluß Tiča in Nordostbulgarien berichtet. Den Palast glaubt man durch archäologische Grabungen in der Nähe des Fundortes identifiziert zu haben. In dieser Inschrift wird auch zum ersten Mal der Name Pliska erwähnt, und zwar zusammen mit dem griechischen Wort „kampos“, das meist im Sinne von „Feld“ gebraucht wird. Jenes Pliska wird dort als momentaner Aufenthaltsort des Chans bezeichnet. Dieser Fund begründete die Identifikation Pliskas als Hauptstadt des Ersten Bulgarischen Reichs. Eine weitere Bauinschrift des gleichen Chans erwähnt den Bau eines Hauses an der Donau, welches aufgrund jüngerer Forschungen vielleicht in Silistra gefunden wurde. Aus anderen Inschriften lassen sich hingegen beispielsweise in den übrigen Quellen nicht erwähnte Kriegszüge oder Details von Friedensverträgen erschließen.

Die proto-bulgarischen Inschriften stellen somit ein äußerst wichtiges Zeugnis für die Geschichte des Ersten Bulgarischen Reichs dar, die das Bild jener Zeit entscheidend bereichern können. Viele Fragen bleiben jedoch Gegenstand der Diskussion und Interpretation. Vor allem von den fortdauernden archäologischen Forschungen in Pliska und an anderen Orten lassen sich in Zukunft weitere Inschriftenfunde erhoffen.

Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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