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2.4 Die Materialität der Quellen: Archäologie und Architektur, dingliche und bildliche Überlieferung

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Neben den spärlichen schriftlichen Quellen und den Befunden der Sprachwissenschaft sind – durch das gesamte Mittelalter – materielle Denkmäler von besonderer Bedeutung. Ist die Mittelalterarchäologie im Vergleich zur klassischen Archäologie schon im westlichen Europa ein verhältnismäßig junges Fach, gilt dies erst recht für Südosteuropa. Dort diente und dient teilweise bis in die Gegenwart die antike Geschichte als Grundlage und Rechtfertigung moderner Staats- und Nationsbildung. Entsprechend wurde in Griechenland in die Archäologie des antiken Makedonien, in Bulgarien in die Thrakerforschung, in Rumänien in die Dakerarchäologie und in Albanien in die Erschließung der materiellen Kultur, die den Illyrern zugeschrieben wurde, investiert.

In den kommunistischen Diktaturen mobilisierten die Regime erhebliche Mittel für diese Forschungen, die entsprechend hoch ideologisiert waren und die jeweiligen Dogmen von Alteingesessenheit und Siedlungskontinuität absichern sollten. Das Mittelalter stand ganz im Schatten der Konzentration auf die Antike – denn nur diese gewährleistete ein möglichst hohes Alter des jeweiligen Nationskonstrukts. Etwas anders gelagert sind jene Fälle, in denen frühmittelalterliche Zuwanderung ganz (im Falle Ungarns oder Kroatiens) oder teilweise (im Falle Bulgariens) Teil der nationalgeschichtlichen Meistererzählung ist. Hier erhielten entsprechende Funde geradezu nationalen Symbolcharakter wie etwa der sogenannte Reiter von Madara in Bulgarien (Abb 3) (→ Kap. 2.4.4). [<<110]


Abb 3 Reiter von Madara, Bulgarien, lebensgroßes Felsrelief. [Bildnachweis]

Neuere Ergebnisse archäologischer Grabungen stellen viele vermeintliche Gewissheiten der nationalkommunistischen Forschungen infrage. Die Beiträge von Etleva Nallbani und Miklós Takács erläutern, welche neuen Fragen und Interpretationsschemata für die Auswertung archäologischer Befunde verwendet werden und welche neuen Deutungen sich daraus für die frühmittelalterliche Geschichte des Donau-Balkan-Raumes ergeben.

Materielle Überlieferung ist oft auch Trägerin der spärlichen Schriftlichkeit in der Region. Daniel Ziemann für Bulgarien und Tomislav Raukar für Kroatien legen dar, wie sehr die Forschung von den wenigen inschriftlichen Befunden abhängig ist. Unterstützt wird dieser Befund durch die Behandlung von Siegeln als Quelle für die wichtigste Reichsbildung im frühmittelalterlichen Balkan, das Erste Bulgarische Reich. Neben den Inschriften sind Siegel die Hauptquelle etwa für Herrschaftsrepräsentationen des frisch christianisierten Reichs. Dass noch im 13. Jahrhundert ein Patriarch der bulgarischen Kirche im Wesentlichen nur durch einen einzigen sigillographischen Beleg bekannt ist, macht den gewaltigen Unterschied in der Quellenüberlieferung zwischen dem westlichen und südöstlichen Europa deutlich. Wer eine mittelalterliche Geschichte Europas schreibt, die nicht die Mitte oder den Westen des Kontinents zur Norm erhebt, hat sich mit dieser methodischen Konstellation eingehend auseinander zu setzen. [<<111]

Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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