Читать книгу Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter - Oliver Jens Schmitt - Страница 21
2.3.2 Integration durch Schriftlichkeit
ОглавлениеChristianisierung der Slawen
Die Christianisierung der slawischen Zuwanderer, allen voran des mährischen Reichs im pannonischen Becken und der aus Proto-Bulgaren, Slawen und altbalkanischer Bevölkerung hervorgegangenen Bulgaren, gehört zu den Vorgängen mit den weitestreichenden Konsequenzen in der frühmittelalterlichen Geschichte Europas überhaupt. Erstmals trat mit den Bulgaren eines der militärisch mächtigen Steppenvölker zum Glauben der alten römisch geprägten Welt über und gliederte sich damit in das alte mittelmeerische Machtsystem ein. Obwohl die Bulgaren heute der orthodoxen Welt zugehören, ist ihr Übertritt zum Christentum, ähnlich wie derjenige der Serben, keinesfalls von Anfang an eine eindeutige Bewegung hin zum Christentum byzantinischer Prägung gewesen. Vielmehr schwankten Bulgaren und Serben bis in das 13. Jahrhundert hinein zwischen den beiden kirchlichen Zentren Rom und Konstantinopel, und ihre klare Orientierung nach Osten erfolgte erst im Spätmittelalter.
Die Christianisierung der Bulgaren ist nur vor dem Hintergrund der seit längerem schwelenden Konflikte zwischen dem Papsttum und dem Patriarchat von Konstantinopel zu verstehen. Sie hatten im Jahr 732 einen Höhepunkt erreicht, als der byzantinische Kaiser die Kirchenprovinz Illyricum, also weite Teile des heutigen Balkans (die Diözesen Macedonia und Dacia), der Gerichtsbarkeit des Papstes entzog und dem von ihm kontrollierten Patriarchen von Konstantinopel [<<98] unterstellte. Rom erkannte diesen Schritt nicht an. Als die bulgarische Elite zum Christentum übertrat, tat sie diesen Schritt teilweise auf einem Territorium, dessen Jurisdiktion zwischen Rom und Konstantinopel kirchenrechtlich umstritten und dessen politische Ausrichtung zwischen Byzanz und dem ostfränkischen Reich kontrovers war.
Konstantin/Kyrill und Method in Mähren
Die Missionierung der Bulgaren stellte also auch ein Ringen um Einfluss auf dem Balkan dar, wo sich Ost- und Westreich, Ost- und Westkirche, letztere zudem aufgeteilt in die konkurrierenden Zentren Rom, Aquileia, Salzburg und Passau, gegenüberstanden. Die Entfremdung der Kirchen Roms und Konstantinopels wurde verschärft durch den Streit um die kirchenrechtliche, kulturelle und politische Zugehörigkeit des bulgarischen Reichs zu einer der beiden kulturellen Sphären in Europa, ja sie erreichte in der Polemik zwischen dem Papsttum und dem machtbewussten Konstantinopolitaner Patriarchen Phótios (858–867, 877–886) einen neuen Höhepunkt.
Der Übertritt der bulgarischen Führungsschicht zum Christentum ist mit mehreren Motiven zu erklären: Die Zugehörigkeit zur christlichen Religion bedeutete auch die Verstetigung der bulgarischen Reichsbildung im überregionalen, christlich geprägten Kontext. Sie bedeutete die endgültige Anerkennung des bulgarischen Reichs durch die beiden Kaisertümer und durch die auch politisch einflussreichen Kirchen. Sie machte die Bulgarenherrscher zu vollwertigen Vertragspartnern, deren Eide Gültigkeit besaßen. In der Folge sah sich Bulgarien aber massivem politischen Druck ausgesetzt. Es war durch ein Bündnis seiner Nachbarn im Süden und Norden, Byzanz und dem mährischen Reich, an zwei Fronten gefährdet. Das bulgarische Gegenbündnis mit dem ostfränkischen Reich unter Kaiser Ludwig dem Deutschen (862), bei dem der bulgarische Chan Boris (852–889) versprach, sich taufen zu lassen, bedeutete nur eine teilweise Entlastung. Die Taufe der bulgarischen Elite fiel außerdem in eine Zeit, als das Reich von einer Hungersnot geschwächt war und Byzanz militärisch drohte (864/65).
Die Missionierung der Bulgaren bildet einen Teil einer allgemeinen politischen und kulturellen Expansion des seit der Mitte des 9. Jahrhunderts erstarkten Byzantinischen Reichs auf dem Balkan. Getragen wurde sie von einer kleinen, hochgebildeten Gruppe von Geistlichen aus Thessalonike, allen voran den Brüdern Konstantin (später Kyrill) und Methodios, die schon früh in ihrer zu einem guten Teil von Slawen [<<99] bewohnten griechischen Heimat die slawische Sprache erlernt hatten. Nach einer Ausbildung an den besten Bildungsstätten Konstantinopels stieg besonders Konstantin zu einem führenden Theologen der byzantinischen Kirche auf, die er u. a. im Bagdader Kalifat bei Streitgesprächen mit muslimischen Geistlichen vertrat, aber auch bei der Missionierung des Steppenvolkes der Chazaren (in der heutigen Ukraine). Als 862 der Herrscher des mährischen Reichs, Rastislav († 870), von Byzanz Missionare erbat, fiel die Wahl des Kaisers Michael III. auf den erfahrenen und auch sprachlich qualifizierten Konstantin. Rastislav hatte ähnliche Motive wie nach ihm der Bulgarenchan Boris: Er war bedrängt vom ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen, dem Verbündeten der Bulgaren, und wollte sein eigenes überlebenswichtiges Gegenbündnis mit Byzanz durch einen Übertritt zum Christentum byzantinischer Prägung absichern.
Eine eigene Kirchensprache
Konstantin und Method missionierten also die Slawen im mährischen Reich – und nicht etwa die weiter südlich lebenden Balkanslawen. Ein geradezu revolutionärer Schritt wurde durch die Missionare vollzogen, als sie für die neuen Gläubigen eine eigene Kirchensprache, das sog. Altkirchenslawisch, und ein eigenes Alphabet, die Glagolica, entwickelten. Frühe archäologische Belege in Form von Scherben mit glagolitischen Buchstaben wurden erst kürzlich im mährischen Zentralort Zalavár/Mosaburg gefunden. Die Ursprünge der glagolitischen Schrift sind umstritten. Bezüge zu semitischen und koptischen (christlich-ägyptischen) Vorbildern wurden ebenso hergestellt wie zu christlich-kaukasischen (georgischen, armenischen) Schriftsystemen. Konstantin und Method brachten Übersetzungen liturgischer und biblischer Schriften in ihr Missionsgebiet mit und legten damit die Grundlage einer slawischen Schriftkultur. Diese sollte ein Gegengewicht zur lateinischsprachigen Kirche des fränkischen Reichs bilden, zu den römischen Einflüssen und v. a. jenen der bayerischen Kirche in Mähren. Dies rief den heftigen Widerstand sowohl der Kirche im ostfränkischen Reich wie in Rom hervor. Einen Einblick in die Interessenslage aus deren Blickwinkel gibt z. B. die Salzburger Überlieferung (→ Kap. 2.3.1).
Konstantin verteidigte in Italien die Berechtigung einer weiteren Kirchensprache neben den klassischen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein. Der Papst lud die beiden Brüder nach Rom ein, wo sie [<<100] ehrenvoll empfangen wurden. Konstantin starb dort bereits 869. Method handelte nach dem Tode Konstantins im Dienst Roms, das ihn noch in demselben Jahr als Erzbischof von Sirmium (heute Sremska Mitrovica, nahe Belgrad) einsetzte. Damit sollte die alte kirchliche Metropole des nördlichen Balkans wiederbelebt und als Gegengewicht zum byzantinisch kontrollierten Erzbistum von Saloniki ausgebaut werden. Bei seiner Rückkehr ins mährische Reich fand er allerdings seinen Förderer Rastislav abgesetzt. Dafür war der Einfluss von dessen Gegnern im ostfränkischen Reich und besonders der bayerischen Bischöfe gestiegen. Method wurde zeitweise in einem oberdeutschen Kloster interniert. Zwar kam er wieder frei und konnte seine Tätigkeit bis zu seinem Tode 885 fortsetzen, doch wurde seine slawische Kirche danach von der lateinischsprachigen Kirche des ostfränkischen Reichs beseitigt, die Christen im pannonischen Raum der römischen Kirche angegliedert.
Die Christianisierung der Bulgaren
Das byzantinische Ausgreifen weit nach Ostmitteleuropa hinein war damit gescheitert. Viel erfolgreicher handelten Byzanz und das Patriarchat von Konstantinopel hingegen mit den zunächst für das mährische Reich entwickelten Missionsinstrumenten ‒ der neuen Liturgiesprache und dem neuen Alphabet – südlich der Donau. Denn dort gelang wesentlich unter politischem und militärischem Druck wohl 865 der Übertritt der Bulgaren zum Christentum byzantinischer Prägung. Die Christianisierung war ein politischer Akt, das zentrale Element die Taufe des bulgarischen Chans Boris († 907), der den Namen Michail annahm und damit die geistige Patenschaft des byzantinischen Kaisers Michael III. anerkannte. Vom Herrscher ausgehend, sollte die gesamte Führungsschicht, die Bojaren, den neuen Glauben annehmen. Dieser schnelle Bruch mit deren älteren religiösen Traditionen, der zudem mit der politischen Annäherung an den alten Gegner in Konstantinopel verbunden war, verlief nicht ohne erhebliche Verwerfungen. Von 100 Bojaren sollen sich 52 dem Chan und dessen neuen Glauben entgegengestellt haben; mit der Hilfe der 48 konvertierten Adeligen rang Boris-Michail den Aufstand nieder und ließ seine Gegner beseitigen. Damit hatte er zumindest für einige Jahre der „heidnischen“ Bojarenopposition das Genick gebrochen. Wesentliche Nachrichten über diese Vorgänge verdanken wir wieder erzählenden lateinischen Quellen aus dem Karolingerreich, in erster [<<101] Linie der Fortsetzung der Annales Bertiniani, die Hinkmar, dem Erzbischof von Reims († 882), zugeschrieben werden.
Annales Bertiniani, ed. Georg Waitz, MGH Scriptores I (Hannover 1883), S. 85, Übersetzung Oliver Schmitt.
Der König der Bulgaren, der durch Gottes Eingebung sowie durch Zeichen und Unglücksfälle im Volke seines Königreichs im Jahr zuvor erwogen hatte, Christ zu werden, nahm die heilige Taufe an. Da dies die Mächtigen übel aufnahmen, brachten sie das Volk gegen ihn auf, mit dem Ziel, ihn zu töten. Alle aus den zehn Grafschaften (comitatus) versammelten sich bei seinem Palast. Jener aber rief Christi Namen an und ging mit nur 48 Männern, die wegen ihrer glühenden christlichen Frömmigkeit bei ihm geblieben waren, gegen diese Menge vor; und kaum hatte er die Tore der Stadt verlassen, da erschienen ihm und jenen, die mit ihm waren, sieben Geistliche, und jeder von diesen hielt eine brennende Kerze in der Hand, und so schritten sie dem König und jenen, die mit ihm waren, voran. Jenen aber, die sich gegen ihn erhoben hatten, schien es, als ob eine große brennende Stadt auf sie herabstürzte, und die Pferde der Anhänger des Königs, so schien es den Gegnern, schritten aufrecht einher und traten sie mit den Vorderhufen; so große Furcht ergriff sie, dass sie weder zur Flucht noch zur Abwehr in der Lage waren, sondern sich zu Boden warfen und nicht mehr bewegen konnten. Der König aber tötete von den Mächtigen, die das Volk so gegen ihn aufgebracht hatten, zweiundfünfzig an der Zahl; das übrige Volk aber ließ er unbehelligt abziehen.
Ergänzt wird dieser Bericht durch die 106 Antworten von Papst Nikolaus I. auf Fragen des Bulgarenherrschers, Responsa Nicolai I. Papae ad consulta Bulgarorum (866). Diese Responsa gaben Auskunft zu kirchenrechtlichen Fragen, zu Fragen des Alltags und des Brauchtums, die Boris-Michail stellte, um eine zuverlässige Einhaltung des christlichen Ritus sicherzustellten, denn dieser wurde eng mit dem Herrscherheil und damit dem Wohlergehen der Gefolgschaft und des Herrschaftsgebiets in Verbindung gebracht.
Zwischen Byzanz und Rom
Kurz nach der Bekehrung zeigte sich aber ein Phänomen, das später auch bei den Serben hohe Bedeutung gewinnen sollte. Um den starken byzantinischen Einfluss auszugleichen und enttäuscht von dem mangelnden Entgegenkommen der byzantinischen Seite in wichtigen kirchenrechtlichen Fragen, wandte sich Chan Boris-Michail an die [<<102] römische Kirche und forderte insbesondere eine autonome bulgarische Kirchenorganisation, also kirchliche Unabhängigkeit von Konstantinopel (866). Der Papst ergriff die Möglichkeit und schickte seinerseits zwei Bischöfe – Formosus von Porto und Paulus von Populonia – nach Bulgarien. Diese verdrängten zwei Missionarsgruppen, die sie dort vorfanden, nämlich die griechischen Mitarbeiter des Patriarchats von Konstantinopel zum einen, dann aber auch die aus dem fränkischen Reich von Bischof Hermanrich von Passau geschickten Missionare. Rom wollte die Aufgabe der Bulgarenmission ganz an sich ziehen, den Bulgaren aber ebenfalls keine kirchliche Autonomie zugestehen. Als Boris-Michail einen der beiden italienischen Bischöfe zum Erzbischof erheben lassen wollte – also zum Oberhaupt einer eigenen bulgarischen Kirchenorganisation –, lehnte der Papst dieses Ansinnen ab.
Die Argumente des Patriarchen Phótios
Als also recht bald Spannungen zwischen dem Chan und dem Papst auftraten, begann Patriarch Phótios, die römische Kirche heftig anzugreifen. Er verglich die römischen Missionare im von Byzanz beanspruchten Bulgarien mit dem legendären „Eber im Weinberg Gottes“ und listete erstmals die Streitpunkte mit Rom und Paulus von Populonia auf, die bis heute von Bedeutung sind:
• die lateinische Fastenordnung;
• den Priesterzölibat, den die byzantinische Kirche nicht kannte;
• die bischöfliche Firmung;
• und das Filioque (d. h. die Frage, ob der Heilige Geist nur vom Vater durch den Sohn ausgehe, wie in der Orthodoxie üblich, oder a patre filioque, d. h. „vom Vater und dem Sohne“ wie im römischen Glaubensbekenntnis festgehalten).
Patriarch Phótios ging so weit, Papst Nikolaus I. zu exkommunizieren (867). Die drohende Krise schien durch den Tod des Papstes und den Sturz des Patriarchen beigelegt zu sein, der sich wegen seiner allzu raschen kirchlichen Karriere angreifbar gemacht hatte, wenngleich der neue Papst Hadrian II. († 872) nun seinerseits nachträglich auf den Angriff des Phótios reagierte. Gleichzeitig verlor Rom aber das Ringen um die kirchliche Hegemonie in Bulgarien, da sich Rom und der Chan nicht auf einen Kandidaten für den Thron des Erzbischofs einigen konnten. Bulgarien schwenkte daher wieder auf die byzantinische Seite und akzeptierte 870 einen griechischen Erzbischof für die Reichshauptstadt [<<103] Pliska. Die zum Teil aus dem Patriarchat von Aquileia stammenden lateinischen Missionare mussten Bulgarien verlassen. Das Reich öffnete sich griechischsprachigen byzantinischen Geistlichen. Freilich blieb dies angesichts der jahrhundertealten Tradition der Feindschaft zwischen Bulgaren und Byzantinern nicht ohne Folgen. Als Boris-Michail 889 die Herrschaft an seinen Sohn Vladimir-Rasate übergab und sich in ein Kloster zurückzog, brach sich die „heidnische“ Reaktion Bahn, die wesentlich von Vladimir getragen wurde. Boris-Michail musste seine Klostereinsamkeit verlassen, um seinen Sohn zu stürzen und seinen zweiten Sohn Simeon († 927) an dessen Stelle zu setzen.
Die kulturelle und religiöse Ausrichtung der Bulgaren nach Konstantinopel, der überwältigende Einfluss der griechisch-byzantinischen Kultur sollte eine Konstante der bulgarischen Geschichte bis in die Neuzeit hinein werden. Es sollte beinahe vier Jahrhunderte dauern, bis ein bulgarischer Herrscher sich wieder an Rom wandte, um sich von Konstantinopel zu lösen: Zar Kalojan handelte so kurz vor der Eroberung Konstantinopels durch die Teilnehmer des 4. Kreuzzuges (1204). Freilich übernahm Bulgarien von Byzanz nur den Glauben, nicht aber die griechische Kirchensprache.
Die Mission im inneren Balkan
Die Schaffung einer eigenen slawischen Kirchensprache ist für den gesamten slawischen orthodoxen Balkan von herausragender Bedeutung gewesen. Sie belegt auch die nun weitgehend abgeschlossene „Slawisierung“ der sogenannten Proto-Bulgaren (→ Kap. 2.1), die in der zahlenmäßig stärkeren Gruppe der Slawen aufgegangen waren. Die Integration der altbalkanisch-thrakischen Bevölkerung, der Slawen und der Proto-Bulgaren zu einem slawischsprachigen Volk, das seinen vermutlich turksprachlichen Namen beibehielt, wurde durch die Christianisierung entscheidend gefördert. Die Slawisierung der Bulgaren erhielt zudem einen neuen Schub, als das Reich den slawisch besiedelten makedonischen Raum eroberte, wo sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts um die makedonischen Seen mit Ochrid ein zweites Zentrum der mittelalterlichen bulgarischen Kultur ausbildete, das neben dem alten östlichen Machtschwerpunkt um die Orte Pliska und der neuen Hauptstadt Preslav (unter Zar Simeon I., † 927) lag und in dem eine neue kirchenslawische Schreibschule entstand.
Die Lange Klemensvita
In Ochrid wirkten die Heiligen Klemens († 916) und Naum († 910), Angelarius und Gorazd († 900) als Missionare des inneren Balkans. [<<104] Zentrale Quelle ist ein Heiligenleben, die Vita des heiligen Klemens. Diese ist nicht etwa auf Kirchenslawisch erhalten; vielmehr handelt es sich um einen griechischen Text, der dem Erzbischof Theophýlaktos von Ochrid († 1107) zugeschrieben wird, einem für seinen Briefwechsel berühmten hochgelehrten Kirchenfürsten, der in einer Zeit wirkte, als das bulgarische Reich seit fast einem Jahrhundert (seit 1018) von Byzanz unterworfen war. Byzanz bemühte sich aber um die Respektierung der kulturellen und vor allem kirchlichen Traditionen des bulgarisch missionierten Balkans. So erklärt sich auch, weshalb ein griechischsprachiger Erzbischof die Vita eines Slawenmissionars verfasste.
Die Quellen der sog. Langen Klemensvita (eine Kurze Vita entstammt der Feder von Demétrios Chomatenós, ebenfalls Erzbischof von Ochrid, 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) sind umstritten: Theophýlaktos wird mündliche Überlieferung, wohl aber auch schriftliche Vorlagen aus der Ochrider Tradition verwendet haben. Die ältesten erhaltenen Handschriften sind rund vier Jahrhunderte nach Theophýlaktos’ Tod entstanden. Die erste Edition gab 1847 der bedeutende Wiener Slawist Franz von Miklosich heraus.
Im Gegensatz zu den Bulgaren ist die Christianisierung im herrschaftlich weniger strukturierten Serbien im 9. Jahrhundert nur schemenhaft fassbar. Man darf davon ausgehen, dass Serbien wie Bulgarien sowohl von römischen wie byzantinischen Missionaren dem Christentum über einen längeren Zeitraum erschlossen wurden, wobei einem Taufakt, wie er von Michaels III. Nachfolger Basíleios I. gegen Ende des 9. Jahrhunderts vorgenommen wurde, primär symbolische Bedeutung zukam. Die byzantinische Missionsstrategie erfasste 988/89 auch das von skandinavischen Warägern (Kiewer Rus’) begründete ostslawische Reich von Kiew.
Die Bedeutung der sakralen Sprache
Mit dem Altkirchenslawischen trat eine vierte heilige Sprache und Schrift neben das Griechische, Lateinische und Hebräische. Sprache und Schrift sind im geistlichen Verständnis nicht nur Träger von Information. Sie haben als Form und Zeichen heiligen Charakter, und dies ganz besonders in der Liturgie und der Heiligen Schrift. Nur wenn man sich diese sakrale Dimension vor Augen hält, begreift man den umwälzenden Charakter dieser Neuerung. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa kam es in Griechenland wegen einer Bibelübersetzung ins Neugriechische zu schweren Unruhen. Gegen [<<105] die Schaffung einer neuen Liturgiesprache war es auch in Byzanz zu Widerstand gekommen. Und die Vertreter der jungen sakralen Sprache fühlten sich genötigt, ihren Standpunkt zu verteidigen.
Chrabar, Über die Buchstaben
In diesen Zusammenhang gehört die kirchenslawische Schrift O pismeneh /„Über die Buchstaben“ des Mönchs Chrabar, die wohl im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts entstanden ist. Über den Verfasser ist wenig bekannt. Sein sprechender Name (etwa: „der Tapfere, Mutige“) ließ Vermutungen aufkommen, es handle sich um ein Pseudonym, hinter dem man u. a. Konstantin/Kyrill selbst vermutete. Entstanden ist die Schrift wohl im Umfeld einer bulgarischen Reichssynode unter dem jungen Herrscher Simeon I. , der eben die „heidnische“ Reaktion niedergeworfen hatte (893).
Der Verfasser war jedenfalls hoch gebildet und verfügte über gute Kenntnisse der Kirchenväter-Texte – dass im Paradies syrisch gesprochen worden sei, geht etwa auf Theodoret von Kyrrhos († 460) zurück. Die älteste erhaltene Handschrift von Chrabars Text entstand erst knapp viereinhalb Jahrhunderte nach Abfassung der Schrift im Jahre 1348. Sie wurde von dem bulgarischen Zaren Ivan Alexandăr († 1371) in Auftrag gegeben. Dies deutet auf den hohen symbolischen Wert des Bekenntnisses zur kirchenslawischen Tradition in einer Zeit hin, als der byzantinische Einfluss auf die bulgarische höfische Kultur besonders stark wirkte. „Über die Buchstaben“ ist in rund 80 Handschriften überliefert und wurde in der Frühen Neuzeit in der slawischen Welt im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen der orthodoxen und der unierten Kirche auch durch den Buchdruck verbreitet (Vilnius 1575–1580, Moskau 1637), was beides auf die Beliebtheit der Schrift über Jahrhunderte hinweg hinweist.
Eine Verteidigung des Kirchenslawischen
Die kurze Schrift teilt sich in eine knappe Geschichte des griechischen Alphabets; die Erzählung von der Schaffung des neuen slawischen Alphabets; sowie eine Verteidigung des Kirchenslawischen gegenüber den Verfechtern der Dreisprachenlehre, wonach nur das Griechische, Lateinische und Hebräische als heilige Sprachen anzusehen seien.
I. Früher als die Slawen noch Heiden waren und keine Bücher hatten, lasen und wahrsagten sie mit Hilfe von Strichen und Schnitzen.
II. Als sie aber Christen wurden, versuchten sie die slawische Sprache mit römischen und griechischen Buchstaben niederzuschreiben, ohne einer [<<106] Ordnung zu folgen. Aber wie kann man mit griechischen Buchstaben „Bogъ“ (Gott) oder „životъ“ (Leben) oder „selo“ (Dorf) oder „crьkovь“ (Kirche) oder „čaanie“ (Hoffnung) oder „širota“ (Breite) oder „jadь“ (Gift) oder „ọdru“ (woher) oder „junostь“ (Jugend) oder „jazykъ“ (Sprache) und andere diesen ähnliche Wörter gut schreiben? Und so ging es viele Jahre.
III. Dann aber ließ Gott, der Menschenfreundliche, der alles lenkt und das menschliche Geschlecht nicht unwissend lässt, sondern alle zur Erkenntnis und Erlösung führt, seine Gnade über dem slawischen Volk walten, und schickte ihm den Heiligen Konstantin, den Philosophen, der (als Mönch) Kyrill genannt wurde, einen gerechten und wahrhaftigen Mann. Und er schuf 38 Buchstaben, einige nach griechischem Vorbild, die anderen aber der slawischen Sprache entsprechend.
Übersetzung hier: Marina Sharlaj/Holger Kuße, Der Mönch Chrabar, „Über die Buchstaben“: https://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/fakultaet_sprach_literatur_und_kulturwissenschaften/slavistik/einblicke/slav_schriften/chrabr_uebersetzung-2.pdf, S. 2, Zugriff: 26. 05. 2016
Chrabar verortet also die Schaffung des Alphabets auf der Zeitachse und stellt der bücherlosen heidnischen Zeit die neue Epoche des Christentums gegenüber. Frühere Schriftsysteme sind ihm zwar bekannt, doch seien sie aus unterschiedlichen Gründen abzulehnen. Die vorchristlichen „Striche und Schnitze“ sind heidnisch, das griechische und lateinische Alphabet können die slawischen Wörter „Gott, Leben, Dorf, Kirche“ – dies sind nicht zufällig die ersten vier Begriffe, die er nennt – nicht wiedergeben. Dies stellt Chrabar als kulturelles Defizit dar; dass damit auch ein heilsgeschichtlicher Mangel verbunden war, zeigt er in Abschnitt III. Denn die Schaffung des neuen kyrillischen Alphabets wird der göttlichen Gnade zugeschrieben. Dies dient der Erhöhung der neuen Schrift, aber auch deren Rechtfertigung gegenüber Traditionalisten. Er folgt damit einer Deutung, die schon in der Vita des Konstantin/Kyrill entfaltet wird:
[…] bald offenbarte ihm Gott, der die Gebete seiner Diener erhört, die Schrift. Und dann setzte er die Buchstaben aneinander und begann den Wortlaut des Evangeliums aufzuschreiben.
Übersetzung hier: Joseph Bujnoch, Zwischen Rom und Byzanz. Leben und Wirken der Slavenapostel Kyrillos und Methodios nach den Pannonischen Legenden und der Klemensvita (Graz u. a. 1958), S. 67. [<<107]
Die Verfechter der neuen Liturgiesprache mussten sich auch vor jenen rechtfertigen, die nur das Lateinische, Griechische und Hebräische für heilige Sprachen hielten:
VI. Wieder andere sagen: Wozu brauchen wir slawische Bücher? Diese haben ja weder Gott noch die Engel geschaffen, und es gab sie nicht von jeher wie die hebräischen, römischen und griechischen, die seit alters her bestehen und gottgefällig sind. Noch andere glauben, dass Gott selbst uns die Buchstaben geschaffen hat. Doch sie, die Verfluchten, wissen selbst nicht was sie da sagen, (wenn sie vorbringen,) dass Gott befohlen habe, dass die Bücher nur in drei Sprachen geschrieben werden sollen, wie es im Evangelium steht: „Und so wurde die Aufschrift auf Hebräisch, Römisch und Griechisch geschrieben“, von Slawisch war aber keine Rede, deswegen seien die slawischen Bücher nicht von Gott.
Was sagen wir oder was entgegnen wir solchen Narren? Wir wollen aus der Heiligen Schrift antworten, so wie wir es gelernt haben, dass alles der Reihe nach von Gott kommt, nicht jedoch alles auf einmal. Gott schuf weder zuerst die hebräische noch die römische noch die griechische, sondern die syrische Sprache, die Adam gesprochen hat, und die dann von Adam bis zur Sintflut, und von der Sintflut bis zu der Zeit gesprochen wurde, als Gott die Sprachen verwirrte beim Turmbau zu Babel, wie es in der Heiligen Schrift geschrieben steht. Als die Sprachen getrennt wurden, wurden, so wie die Sprachen getrennt wurden, auch die Sitten und Gebräuche, Vorschriften und Gesetze wie auch das Wissen unter den Völkern aufgeteilt: die Ägypter erhielten den Ackerbau und die Perser, Chaldäer und Assyrier die Astrologie, die Magie, die Medizin, Zauberei und alles Wissen, das menschlich ist. Die Hebräer aber erhielten die Heiligen Schriften, in denen geschrieben steht, wie Gott Himmel und Erde schuf und alles auf Erden und den Menschen und alles der Ordnung nach, so wie es (in der Schrift) geschrieben steht. Die Griechen bekamen die Grammatik, die Rhetorik und die Philosophie.
Übersetzung hier: Marina Sharlaj/Holger Kuße, Der Mönch Chrabar, „Über die Buchstaben“ (s. o.).
Chrabar steht wiederum in der Tradition der Konstantins-Vita, die von der „Dreisprachenhäresie“ spricht, also den Vorwurf der Ketzerei gegen die Traditionalisten erhebt. Der Verfasser der Konstantins-Vita bemüht zum einen die eigensprachlichen Traditionen der armenischen, [<<108] koptischen, georgischen und anderer orientalischer Kirchen, zum anderen stützt er sich auf eine lange Reihe von Zitaten aus dem Alten Testament (Psalmen) und Neuen Testament (Evangelien, Paulus’ Briefe an die Korinther), welche die Vielfalt und Gleichrangigkeit der Sprachen besonders für die Mission hervorheben, etwa
Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium jeglichem Geschöpf […] Denen aber, die glauben, werden diese Zeichen folgen: in meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Sprachen werden sie sprechen. (Mk 16,15–17)
Das Kirchenslawische setzte sich als neue Liturgiesprache durch. Dass Chrabars Text so oft abgeschrieben wurde, zeigt aber, dass das Bedürfnis nach Rechtfertigung nicht so rasch erlosch.
Von Bulgarien aus wurde die altbalkanische und schon unter Rom christianisierte romanisierte Gruppe der Rumänen kirchlich und kulturell überschichtet: Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein wirkte das Altkirchenslawische als Liturgie-, Verwaltungs- und Literatursprache der romanischsprachigen orthodoxen Rumänen. Bleibende Spuren hinterließ die byzantinische Kulturpolitik auch in Regionen, die sich der Westkirche zuwandten. Im Norden Dalmatiens (Kvarner-Bucht) hatte sich um 1000 eine zweisprachige (lateinische und kirchenslawische) katholische Kirchenkultur entwickelt. Nur hier hielt sich dauerhaft die Verbindung von glagolitischer Schrift und (katholischer) Messe in kirchenslawischer Sprache.
Diese glagolitische Schriftkultur in Teilen Dalmatiens entwickelte sich im Spätmittelalter zu einem regionalen Sonderphänomen, das im kroatischen Nationsdenken der Neuzeit mit besonderem Stolz hervorgehoben wurde. Tatsächlich wurde die komplizierte glagolitische Schrift ab dem 10. Jahrhundert von der kyrillischen Schrift abgelöst, die sich im Wesentlichen an der griechischen Unziale ausrichtet und Sonderzeichen nur für Laute aufweist, die im Griechischen nicht bestehen. Das kyrillische Alphabet prägt die Schriftkultur von Bulgaren, Makedoniern, Serben und Ostslawen bis heute. Einzig die Rumänen wechselten um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum lateinischen Alphabet, um damit – den zeitspezifischen nationalen Abgrenzungsbestrebungen entsprechend – ihren Charakter als romanisches Volk und eine politische Abkehr vom byzantinischen Osten zum lateinischen Westen sichtbar zu machen. Einen Sonderfall in [<<109] der europäischen Geschichte stellt die kroatische Kultur mit ihrer Dreischriftlichkeit dar: Im Mittelalter wurden die glagolitische, die kyrillische und die lateinische Schrift – diese als zeitlich letzte – nebeneinander für slawische Texte des katholischen Kulturmilieus verwendet und am Ende des 15. Jahrhunderts auch in das neue Medium des Buchdrucks überführt. Ausschließlich die lateinische Schrift kam für lateinische und italienische Texte im venezianischen Dialekt zum Einsatz.