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1.2 Nationale Geschichtsbilder
ОглавлениеWährend sich aber gleichzeitig das Problem des Fehlens eines gesamtstaatlich-nationalen Geschichtsbildes für das habsburgische Zentrum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch politisch weiter verschärfte – einerseits durch den endgültigen Verlust einer politischen „groß-deutschen“ Option unter habsburgischer Führung spätestens mit Ende des deutschen Bundes (1866) und andererseits durch den „Ausgleich“ mit Ungarn (1867) – entwickelten sich in demselben Zeitraum die nationalen Narrative der einzelnen Länder der Monarchie unter den Schlagworten des „nationalen Erwachens“ bzw. der „nationalen Wiedergeburt“. Hier wiederum gingen methodische Spezialisierung und disziplinäre Verfestigung Hand in Hand mit der Entwicklung identitätsstiftender nationaler Geschichtsbilder, die ihrerseits in neu gegründeten nationalen Institutionen in den jeweils eigenen Sprachen und ebenfalls mit einem zunehmend verfeinerten methodischen Handwerkszeug effektiv wurden.
Die Verflechtungen der wissenschaftlich-institutionellen und politischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg und teilweise auch darüber hinaus machen deutlich, wie eng methodische und inhaltliche Fortschritte in der Forschung und ihre politische Instrumentalisierung verflochten sein konnten – aber dies nicht notwendigerweise sein mussten. Eines der charakteristischen Momente, die diesen Zeitraum kennzeichnen, ist die Spannung zwischen vielfältigen historischen Meistererzählungen (v. a. weit in die Vergangenheit zurück reichenden Gründungsnarrativen) und der [<<37] zunehmend national orientierten Konkurrenz beim Versuch ihrer möglichst umfassenden Fundierung in der Überlieferung in einem Raum intensiver akademisch-methodischer Kommunikation.
Angesichts des weitgehenden Fehlens schriftlicher Quellen für die jeweiligen Frühgeschichten der entstehenden Nationen kam der Entwicklung kritischer Methoden in philologischer, sprachwissenschaftlicher und linguistischer Forschung sowie der Archäologie eine herausragende Bedeutung zu. Wie auch für die Geschichtswissenschaft reichen die Anfänge einer intensivierten und zunehmend systematischen Beschäftigung mit diesen Gegenständen ins 18. Jahrhundert zurück.
Historisch-philologische Methodik in Prag
So beruht die monumentale Bibliotheca Slavica des böhmischen Theologen, Philologen und Slawisten Josef Dobrovský (1753–1829), der eine herausragende Rolle bei der Entwicklung der modernen tschechischen Schriftsprache spielte, auf Material der Wiener Hofbibliothek und des Prager Clementinums. Dieses Jesuitenkolleg ging nach Aufhebung des Ordens (1773) in die habsburgische Verwaltung über; 1781 ließ Maria Theresia dort die Nationalbibliothek errichten. Auf Dobrovskýs Werk und der in Wechselwirkung mit ihm verfeinerten historisch-philologischen Methode bauten im 19. Jahrhundert die wichtigsten Begründer eines sprachlich fundierten tschechischen Nationalbewusstseins auf, v. a. der Sprachwissenschaftler Josef Jungmann (1773–1847) mit seinem grundlegenden fünfbändigen tschechisch-deutschen Wörterbuch.
Panslawismus
Am politisch einflussreichsten wurde der Historiker František Palacký (1798–1876), dessen Dějiny národu českého v Čechách a v Moravě (Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren) im Revolutionsjahr 1848 erschien. Gemeinsam mit dem slowakischen Slawisten Pavel Jozef Šafárik (1795–1861) gilt er als Begründer des in den nationalen Auseinandersetzungen bedeutenden Konzepts des Panslawismus, das von einem gemeinsamen Ursprung und einer gemeinsamen Geschichte der slawischen Völker ausging. Šafárik, dessen internationales Profil in seinen Mitgliedschaften in der Königlich-Preußischen, der Bayerischen und seit ihrer Gründung 1847 der Wiener Akademie der Wissenschaften deutlich wird, arbeitete wiederum eng mit dem Slowaken Ján Kollár (1793–1852) zusammen, der als erster Professor für slawische Archäologie die Universität Wien zu einem wichtigen Zentrum für diesen Gegenstand machte. [<<38]
Archäologie in Ungarn
Archäologische Funde und ihre unterschiedliche Interpretation in Hinblick auf die historische Kontinuität der einzelnen konkurrierenden Nationen der Habsburgermonarchie führten ebenfalls zu steigender systematischer Sammlung und methodischer Spezialisierung der Analyse der Überlieferung. Slawisch- und rumänisch-sprachige Minderheiten standen mit ihren Auslegungen besonders nach dem Österreichisch-Ungarischen „Ausgleich“ von 1867 dem Gründungsmythos der ungarischen Mehrheit gegenüber.
Für diese war die ungarische Landnahme ein Schlüsselereignis, das 1896 anlässlich seines „Millenniums“ als Ereignis von herausragender nationaler Bedeutung gefeiert wurde. Archäologische Argumentationen wurden dabei politisch in Dienst genommen, während gleichzeitig der Archäologe József Hampel (1849–1913), Mitglied der ungarischen Akademie der Wissenschaften, die erste umfassende fachwissenschaftliche Studie der sogenannten „Landnahmezeit“ vorlegte. Bereits zuvor hatte sich der Linguist Pál Hunfalvy (1810–1891) in seiner Magyarország ethnographiája (Ethnographie von Ungarn, 1876/77) basierend auf neuesten philologischen und sprachwissenschaftlichen Methoden gegen biologistische Modelle nationaler Zugehörigkeit gewandt. Wenige Jahre später verfasste er den 5. Band des in Wien und Teschen herausgegebenen Werks Die Völker Österreich-Ungarns zu Ungarn, kurz darauf folgte eine Publikation zu den Rumänen. Trotz methodologischen Austauschs wurde in diesen Fragen weder kurz- noch mittelfristig ein inhaltlicher Konsens zwischen fachlichen und politischen Vertretern konkurrierender Narrative über die Vergangenheit gefunden.
Methodenlehre
Am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (IÖG), das sich gleichzeitig zu einem der zentralen Orte der Methodenlehre entwickelt hatte, fanden sie kaum Resonanz, wie man sich dort generell wenig für die nicht deutschsprachigen Länder der Habsburgermonarchie interessierte. Der Schwerpunkt lag klar auf der Erforschung und Edition mittelalterlicher Quellen. Hier bestanden vielfältige Kooperationen mit den Monumenta Germaniae Historica (MGH) in Berlin. Auch der inhaltliche Fokus lag auf der deutschen Geschichte, v. a. der mittelalterlichen Könige bzw. Kaiser sowie Italien und der Papstgeschichte, besonders in Verbindung mit dem 1881 gegründeten Österreichischen Institut in Rom. Eine Ausnahme bildete das Interesse an [<<39] der tschechischen Geschichtsschreibung zur böhmischen Geschichte, wie sie von Jaroslav Goll (1846–1929) in Prag vertreten wurde, einem der wichtigsten Vertreter der tschechischen Historiographie.
Mitteleuropäische Absolventen, europäische Karrierewege
Die Ausbildung in den handwerklichen Grundlagen zur Erforschung der Überlieferung zu deren jeweils „eigenen“ Geschichte erfolgte allerdings häufig in Wien als wichtigem Standort. Für das 1907 eingerichtete Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität sowie das IÖG liegen einschlägige Darstellungen über die Absolventen in diesem Zeitraum vor. So besuchten bis zum Ersten Weltkrieg jeweils sechs Polen und Slowenen, 15 Ungarn und Deutsche aus Ungarn sowie 22 Tschechen und 13 Deutsche aus Böhmen und Mähren die Ausbildung am IÖG. Die Methodenrezeption in Südosteuropa erfolgte weniger über die historisch-hilfswissenschaftliche Ausbildung als über andere Institutionen (→ Kap. 1.3).
Exemplarisch ist etwa der europäische Karriereweg von Stanisław Krzyzanowski (1865–1917), der seine in Wien begonnenen paläographischen Studien später in Rom erweiterte und sich als erster Pole in Krakau in den historischen Hilfswissenschaften habilitierte und dort ab 1898 als Professor für dieses Fach und Geschichte des Mittelalters tätig war. Er und seine Schüler schrieben die wesentlichen ersten Werke zur polnischen Paläographie, Urkundenlehre und den historischen Hilfswissenschaften. Ein Beispiel für das Ende dieser formativen Periode der Wissenschaftsentwicklung ist der Slowene Milko Kos (1892–1972), der ab 1911 zuerst in Wien und dort auch am IÖG, nach dem Krieg an der Pariser École des Chartes studierte, sich 1924 in Belgrad für historische Hilfswissenschaften habilitierte und dann zunächst als Extraordinarius in Zagreb und ab 1926 als Professor für mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften an der Universität Ljubljana tätig war, wobei er für beide Fächer eine maßgebliche Gründerrolle in Slowenien spielte und u. a. eine Geschichte der Slowenen im Mittelalter verfasste.
Gute Beispiele für die enge Verflechtung verschiedener wissenschaftlicher Tätigkeitsfelder bieten die ungarischen Teilnehmer an der Ausbildung am IÖG. Von ihnen wirkte etwa László Fejérpataky (1857–1923) sowohl als Professor an der Universität Budapest (ab 1895) als auch als Direktor der Bibliothek des Nationalmuseums. Auch der Spezialist für Heraldik und Sphragistik Gyula Schönherr (1864–1908) [<<40] war nach Studien in Wien am Nationalmuseum in Budapest tätig und habilitierte sich 1902 an der dortigen Universität. Árpád Károlyi (1853–1940) wiederum war nach seiner Wiener Ausbildung am dortigen Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) beschäftigt, bevor er sich 1880 in Budapest habilitierte, jedoch einen Ruf auf einen dortigen Lehrstuhl ablehnte und von 1909–1913 als Direktor des HHStA tätig war.
Prag – Berlin – Wien
Die meisten Absolventen der Wiener historischen Ausbildung waren Tschechen bzw. Deutsche aus Böhmen und Mähren. Jene unter ihnen, die sich in den historischen Hilfswissenschaften spezialisierten, studierten zu einem großen Teil in Wien, von den Deutschsprachigen vermutlich alle.
Die Prager Carolo-Ferdinandea war 1882 in die k. k. böhmische Karl-Ferdinands-Universität und die k. k. deutsche Karl-Ferdinands-Universität geteilt worden. Zwischen letzterer und den deutschsprachigen Universitäten in Wien und Berlin gab es in den letzten Jahrzehnten der Monarchie enge wissenschaftliche Beziehungen sowie einen intensiven Austausch von Gelehrten. An der tschechischen Karlsuniversität spielte der Archivar und seit 1887 Ordinarius für Hilfswissenschaften Josef Emler (1836–1899) eine zentrale Rolle, besonders für die Editionstechnik. Seine Schüler absolvierten ihrerseits häufig die Wiener Ausbildung, unter anderem die Gründer der Schule für Urkundenforschung in Brünn.
Parallel zur Intensivierung der nationalen Geschichtsnarrative und der Ausprägung nationalsprachlicher Fachwissenschaften in den einzelnen Kronländern kam es in den deutsch-österreichischen Wissenschaften im Zentrum der Habsburgermonarchie, denen Anknüpfungspunkte an eine „alte“ politische Nation fehlten, zu einer – je unterschiedlich artikulierten – Entwicklung eines deutschen Nationalbewusstseins, das sich seinerseits in einer deutschsprachigen Wissenschaftskultur äußerte. Diese lässt sich etwa an den engen Beziehungen zwischen den Universitäten in Berlin, Wien und Prag gut nachvollziehen.
In einer Phase weiterer Verwissenschaftlichung um die Jahrhundertwende wurden die Forschungsgegenstände abermals kleinteiliger und die Methoden vielfältiger und spezialisierter. Dementsprechend verlagerten sich die Auseinandersetzungen noch stärker auf Methoden-Diskussionen. Trotz einer auch hier bestehenden Wechselwirkung [<<41] zwischen Nationalisierungspolitiken und wissenschaftlicher Entwicklung dominierten methodische Debatten um fachwissenschaftliche Spezialisierung vs. disziplinäre Öffnung die akademischen Beziehungsgeflechte, die über die politischen Brüche des Ersten Weltkriegs und seiner Konsequenzen bis in die Zwischenkriegszeit aufrecht blieben.