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2 2.1 Überblick über die politischen Veränderungen 500–900
ОглавлениеDas antike Erbe
Nimmt man die Jahre 500 und 900 als Ausgangspunkte für einen Vergleich der Herrschaftsbildungen im Donau-Balkanraum, werden tiefgreifende politische und sprachlich-ethnische Veränderungen deutlich. Um 500 hielt das Römische Imperium, seit 395 in einen West- und einen Ostteil gegliedert, noch die Donaugrenze. Damit lagen weite Teile unseres Betrachtungsraumes innerhalb des Imperiums. Gerade der Balkanraum diente seit dem 3. Jahrhundert als Rekrutierungsgebiet der römischen Heere. Bedeutende Kaiser der ausgehenden Antike von Diokletian über Konstantin den Großen bis zu Justinian I. stammten aus den römischen Balkanprovinzen. Während die Küstenlandschaften – ebenso wie jene an der mittleren Donau – von einem dichten Städtenetz überzogen waren, gestaltete sich die Urbanisierung im Inneren der Balkanhalbinsel bescheidener. Dennoch bestand auch dort die griechisch-römische Reichskultur, die imperiale Verwaltung. Zudem bildete sich in der Spätantike eng an die Orte der staatlichen Verwaltung gebunden ein System von Bischofssitzen heraus. Die Bevölkerung setzte sich aus Griechen und anderen altbalkanischen Sprachgruppen (Illyrern, Thrakern, Dakern u. a.) zusammen, deren Sprachen aber kaum verschriftlicht wurden, da das Griechische im Süden, das Lateinische im Zentrum und Norden des römischen Donau-Balkanraumes als Schriftsprache verwendet wurden. Wichtige Teile der altbalkanischen Bevölkerung im Einflussbereich der lateinischen Verwaltungssprache waren, ähnlich wie in Gallien oder Spanien, romanisiert worden. Wie auf der iberischen Halbinsel die Basken oder in der Bretagne die Kelten waren aber in gebirgigen Gebieten des westlichen Balkans die sprachlichen „Vorfahren“ der heutigen Albaner von der Romanisierung nur am Rande erfasst worden.
Byzantinische Einflüsse
400 Jahre später hatte sich unser Betrachtungsraum von einem militärisch-administrativen, wenn auch – mit Ausnahme der Küste [<<52] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe ngebiete – nicht wirtschaftlichen oder kulturellen Kerngebiet des Römischen Imperiums in einen Zwischenraum zwischen den Nachfolgern des römischen Reichsgedankens verwandelt. Im Osten betonte das Byzantinische Reich die ungebrochene Kontinuität des römischen Kaisertums; im Westen hatte Karl der Große durch die Kaiserkrönung im Jahre 800 die Tradition des westlichen Kaisertums wiederbelebt und danach dessen Anerkennung durch Byzanz erzwungen. Dieses westliche Kaisertum war um 900 aber stark geschwächt. Byzanz hatte im 7. Jahrhundert die Kontrolle über den Balkan bis auf wenige Küstenplätze verloren. Um 900 hatte es die Küsten von Ägäis und der östlichen und südwestlichen Adria wieder unter seine Herrschaft gebracht und war dabei, sich mit einer groß angelegten Christianisierungsstrategie den Balkan wieder zu erschließen.
Awaren und Bulgaren
Archäologische Befunde und solche der Ortsnamenforschung sowie deutlich spätere schriftliche Quellen legen nahe, dass im Gefolge der Awaren, die gemeinsam mit den iranischen Sassaniden 626 Konstantinopel belagert hatten, in einem langwierigen Prozess slawische Gruppen bis an die Adria und die Spitze der Peloponnes vorgedrungen waren. Wichtige Teile der provinzialrömischen Bevölkerung waren an die Küsten oder in gebirgige Rückzugszonen geflohen. Slawen gründeten vom Alpenbogen bis nach Südgriechenland neue Siedlungen. Römische Städte wurden oftmals geplündert und zerstört; Staats- und Kirchenverwaltung brachen zusammen. Nicht die Awaren, sondern eine andere aus den eurasiatischen Steppenzonen zuwandernde Kriegergemeinschaft, die von der Forschung so bezeichneten „Proto-Bulgaren“, füllten das politische Vakuum an der unteren Donau dauerhaft auf. Verwendet wird der Begriff „Proto-Bulgaren“, um die nichtslawische namengebende Gruppe der mittelalterlichen Bulgaren von slawischen Bevölkerungsgruppen abzugrenzen. Die Frühgeschichte der Bulgaren ist quellenmäßig so schlecht belegt, gleichzeitig aber von so starken Forschungshypothesen überformt, dass die moderne Forschung kaum gesicherte Aussagen tätigen kann: Wann und unter welchen Umständen eine Integration der vom Nordkaukasus bis auf den Balkan (dort seit dem 5. Jahrhundert n. Chr.) nachweisbaren nichtslawischen Bulgaren als Kerngruppe von Kriegern mit der ansässigen altbalkanischen Bevölkerung und slawischen Gruppen südlich der unteren Donau [<<53] erfolgte, die eine gemeinsame ostsüdslawische Sprache verwendeten, ist nicht genau zu klären.
Die Verfestigung ihrer Ende des 7. Jahrhunderts errichteten Herrschaft, die in das heutige Rumänien und Ungarn hineinreichte, gelang den Bulgaren durch die Annahme des Christentums 864/65. Die Missionierung der (aus der Perspektive der christlichen Welt) heidnischen, d. h. nichtchristlichen Bulgaren wurde von Rom, dem ostfränkischen Reich und Konstantinopel aus in zunehmender Konkurrenz betrieben. Sie stand in engstem Zusammenhang mit der Christianisierung des zwischen dem ostfränkischen Reich und der bulgarischen Herrschaft liegenden mährischen Reichs im Donaubecken. Die Entfremdung zwischen Rom und Byzanz, die Entstehung einer katholischen Papstkirche und einer orthodoxen Kirche unter dem Patriarchen von Konstantinopel ist nicht zuletzt Folge des Wettlaufs um die Christianisierung des Donau-Balkan-Raumes.
Magyaren
Ende des 9. Jahrhundert gewann mit der Migration, Landnahme und Herrschaftskonsolidierung der Magyaren ein weiteres „Volk“ aus dem Steppenraum im Karpatenbogen an maßgeblicher Bedeutung. Seine Christianisierung erfolgte erst hundert Jahre später, wiederum in einem langwierigen Prozess und im Spannungsfeld zwischen Rom und Byzanz. Mit der Annahme des Christentums wurden Bulgaren wie Magyaren als einzige Steppen-„Völker“ Teil der christlichen Staatenwelt. Das erst viel später – ab dem 13. Jahrhundert – als Reich der Stephanskrone bezeichnete Ungarn, benannt nach dem Hl. Stephan, seinem ersten getauften König, erwies sich dabei als deutlich stabiler als das bulgarische Reich. Dies erklärt die ungarische Betonung seiner Krone als einer staatsrechtlichen Tradition ungeachtet aller territorialen Veränderung bis ins 21. Jahrhundert. Ähnliches gilt für die kroatische Staatsidee: Im Westen der Balkanhalbinsel hatte sich im 7. Jahrhundert im Hinterland Dalmatiens mit „Kroatien“ eine weitere, dauerhafte Herrschaft herausgebildet, deren Krone (abermals im Sinn der Herrschaftstradition) ohne Unterbrechung bis 1918 Bestand hatte, allerdings seit dem 12. Jahrhundert mit Ungarn verbunden war. Venedig, formell byzantinische Provinz, machte sich als Ordnungsfaktor im Kampf gegen slawische und arabische Piraten bereits bemerkbar.
Wenig bekannt ist über den inneren Balkan, das heutige Bosnien und Serbien. Dieser Raum stand im Spannungsfeld von Kroatien, [<<54] Bulgarien, Byzanz und Ungarn. Im späteren 9. Jahrhundert lässt sich eine südslawische (serbische) Herrschaft im heutigen südwestlichen Serbien (Raška; heute Region Novi Pazar) schemenhaft erkennen.
Interdisziplinarität
Was hier in groben Zügen geschildert wird, erarbeitete die historische, archäologische, bild- und sprachwissenschaftliche Forschung in mühsamer Kleinarbeit. Ausgrabungen, Inschriften, Siegel, Bildquellen stellen hohe Anforderungen an die Interpretierenden. Entsprechend spezialisiert sind die Forschungszweige, in deren Gegenstände und Arbeitsweisen die folgenden Abschnitte Einblick geben. Sie sollen – wie bereits der wissenschaftshistorische Abriss im ersten Kapitel – sichtbar machen, in welchem Maß die Mittelalterforschung auf die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Disziplinen angewiesen ist, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen – und dies jenseits aller Moden auch immer war. Aus einer überlieferungsgeschichtlichen Perspektive wird zudem deutlich, dass sich Geschichtswissenschaften keineswegs allein mit schriftlichen Hinterlassenschaften befassen. Im Gegenteil, die folgenden Abschnitte zur frühmittelalterlichen Geschichte sollen zeigen, dass nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Überlieferung in diesem Zeitraum Schriftquellen im engeren Sinn darstellen. Das Kapitel über die Kirche als Trägerin schriftkultureller Tradition (→ Kap. 2.3) ist daher eingebettet in jene zu maßgeblichen spätantiken Forschungsgegenständen und Methoden (Kartographie, Epigraphik, Linguistik) einerseits (→ Kap. 2.2), und andererseits zur dinglichen und bildlichen Überlieferung (→ Kap. 2.4), die lange Zeit das Gros der Quellen in unserem Untersuchungszeitraum ausmacht. Auch hier gilt – wie für alle Teile dieses Buches – dass zeitliche und räumliche Grenzen fließend sind: Die Mittelalterarchäologie spielt selbstverständlich auch für das 12.‒15. Jahrhundert eine herausragende Rolle, ebenso wie die formale und ikonographische Interpretation von Bildern und ihren vielfältigen Trägern: Wände, Stoffe und Bücher, Siegel, Wappen und Münzen. Für die frühen Jahrhunderte stellen sie jedoch vielfach die einzige Grundlage unseres Wissens über die Vergangenheit dar. [<<55]