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Einleitung – eine Annäherung

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Mehr als 25 Jahre sind seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem dadurch eingeleiteten Ende der Teilung Europas in einen Westen und einen Osten vergangen. In diesen bald drei Jahrzehnten hat sich die politische ebenso wie die akademische Landschaft des Kontinents maßgeblich verändert, und dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. In demselben Maß, in dem „alte“ Grenzen an Bedeutung verloren haben, hat das Bewusstsein für Formen aktueller, etwa wirtschaftlich begründeter, aber ebenso historisch gewachsener regionaler Zusammengehörigkeit zugenommen, die quer zu alten und neuen nationalen Grenzen liegen. Gleichzeitig haben sich aber auch neue Brüche und Abgrenzungen aufgetan. Die Dynamik und Heterogenität der politischen, sozioökonomischen und kulturellen Entwicklung innerhalb Europas spiegelt sich in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, und zwar sowohl in den einzelnen Ländern als auch in vergleichender Perspektive. Dieser Befund gilt grundsätzlich auch für die Mediävistik einschließlich aktueller einschlägiger Überblickswerke, allerdings mit der interessanten Leerstelle, dass deutsch- und auch englischsprachige Handbücher zur Überlieferung des europäischen Mittelalters zu einem überwiegenden Teil auf den geographischen Raum des Heiligen Römischen Reichs bzw. den „Westen“ Europas und Italien fokussieren und vergleichsweise selten Beispiele aus der Überlieferung „Mittel- und Südosteuropas“ geben.

Überlieferungschancen und Überlieferungszufälle

Maßgebliche Motivation einer deutschsprachigen Überlieferungsgeschichte dieses Raumes ist daher einmal, durch einen Perspektivenwechsel bislang wenig berücksichtigte, aber wesentliche Grundlagen einer vergleichenden europäischen Geschichte zu vermitteln und gleichzeitig anhand der Vielfalt und Heterogenität der Überlieferungslagen die historische Besonderheit unterschiedlicher Regionen Europas ebenso wie ihre komplexen Bezüge zueinander sichtbar zu machen. Wir wollen anhand konkreter Beispiele einen Einblick in die Entstehungsbedingungen historischer Überlieferung und in deren soziokulturelle und politische Hintergründe geben und dabei auch [<<16] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe einen Blick auf die Traditionen der Forschung ermöglichen, durch deren Fragen jede Quelle erst zum „Sprechen“ gebracht wird:

Überlieferung, so formulierte Arnold Esch 1985 unter dem programmatischen Titel „Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers“, ist das, was der Historiker in Händen hält: was ihm über frühere Zeiten, was ihm aus früheren Zeiten überliefert ist. Der Historiker weiß, daß sein Wissen Stückwerk ist – aber welche Stücke er in Händen hält, das wird ihm nicht ebenso deutlich […].

Arnold Esch, Überlieferungschance und Überlieferungszufall als methodisches Problem des Historikers. In: Historische Zeitschrift 240 (1985), S. 529–570.

Nach Überlieferungschancen und -zufällen zu fragen, bedeutet herausfinden zu wollen, warum wir über die Vergangenheit wissen, was wir wissen, welche Bausteine uns fehlen und inwieweit es möglich ist, sie zu rekonstruieren. Fragen nach der Überlieferung führen also direkt zu grundsätzlichen Überlegungen, wie historisches Wissen entsteht, auf welchem Material es beruht, welche Ereignisse oder Gegebenheiten überhaupt eine Chance hatten, der Nachwelt überliefert zu werden, aufgrund welcher Forschungsinteressen und -fragen Quellen gesucht und gefunden, in bestimmte Kategorien eingeteilt, bewertet und gewichtet wurden. Die Typologien für die Einteilung historischer Überlieferung sind vielfältig. Sie orientieren sich an Material und Medien (Sprache und Texte; Bilder, Münzen und Siegel; Architektur), an ihrem Inhalt (z. B. rechtlich, erzählend), an Intentionen (z. B. Hagiographie, Historiographie) und Funktionen (z. B. Wirtschafts- oder liturgische Quellen). Solche Kategorien sind ihrerseits Werkzeuge und gleichzeitig Produkte der Arbeit unterschiedlicher akademischer Fachdisziplinen und ihrer Gegenstände. So notwendig sie epistemologisch wie methodologisch sind, so sehr sind die Grenzen einzelner „Quellengattungen“ in der Praxis der Überlieferung wie in der wissenschaftlichen Arbeit fließend. Es geht uns also auch darum, die Ordnungskriterien und -kategorien der Beschreibung historischer Überlieferung in ihrem räumlichen und zeitlichen Kontext zu differenzieren und zu zeigen, wie Vertreterinnen und Vertreter der Geschichtswissenschaft, aber auch ihrer Nachbardisziplinen arbeiten, um zu historischer Erkenntnis zu gelangen. [<<17]

Vergleichen

Dabei wollen wir weder eine „Quellenkunde“ traditionellen Zuschnitts verfassen noch einen Katalog der klassischen hilfswissenschaftlichen Methoden zusammenstellen. Für beides gibt es gerade in der deutschsprachigen Mediävistik ausgezeichnete Handbücher, die in der Bibliographie angeführt sind und auf die auch in den einzelnen inhaltlichen Kapiteln gezielt hingewiesen wird.

Die gesamte Bibliographie steht frei zum Download zur Verfügung. Informationen unter http://www.utb-shop.de/downloads. QR-Code als Direktlink.


Vielmehr geht es uns um einen möglichst konkreten Einblick in das wissenschaftliche Arbeiten an und mit historischen Quellen in spezifischen Überlieferungszusammenhängen. Das Buch folgt also einer problem- und praxisorientierten Perspektive, die durch unsere eigene Lehr- und Forschungspraxis motiviert ist: Im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts zum Thema Visions of Community. Comparative Approaches to Ethnicity, Region and Empire in Christianity, Islam and Buddhism (400–1600 CE) vergleichen wir unter anderem Gemeinschaftsvorstellungen in unterschiedlichen sozialen Milieus Mittel- und Südosteuropas. Dabei zeigten sich sowohl viele Gemeinsamkeiten als auch grundlegende Unterschiede der Überlieferung.

Vergleichen gehört zu den zentralen Bestandteilen der historischen Methode. Es erhöht nicht nur das Verständnis für das „Andere“, sondern schafft oft erst die dafür notwendige Wissensbasis. Darüber hinaus schärft eine vergleichende Perspektive auch den Blick für Brüche, Ausnahmen und Besonderheiten innerhalb des eigenen (nur scheinbar bekannten) Gegenstandes. Vieles, was gegenwärtig unter der Überschrift „Globalisierung“ verstärkt aus dieser Perspektive diskutiert wird, lässt sich am Beispiel Mittel- und Südosteuropas anhand der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im räumlichen Vergleich herausarbeiten.

Raum und Zeit

Ähnlich wie die Kriterien der Einteilung historischer Überlieferung sind auch räumliche und zeitliche Abgrenzungen wissenschaftliche Konstruktionen, die auf bestimmten, mehr oder weniger begründeten Konventionen beruhen. Raumkonstruktionen und zeitliche Periodisierungen haben ihre jeweils eigenen Geschichten. Gleichzeitig sind sie auf komplexe Weise miteinander verschränkt. Historische [<<18] Periodisierungen bilden bestimmte Ausschnitte der Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart ab. Dabei sind Wahrnehmungen zeitlicher „Epochen“ maßgeblich durch den Blick auf bestimmte räumliche Abgrenzungen mitbestimmt, und umgekehrt.

„Zeit“ und „Raum“ als zentrale Dimensionen historischer Betrachtung und ihre Abgrenzungen sind nicht erst seit den Anfängen moderner Wissenschaft Gegenstand von fachlichen Debatten, die zudem weit über den engeren Bereich der Wissenschaft hinausreichen und immer auch politische Implikationen haben. Die Abgrenzung von „Mittelalter“ – ein Begriff, der in der europäischen „Renaissance“ erfunden wurde – und „Moderne“ etwa hat viel mit den jeweils aktuellen Vorstellungen von historischem bzw. gesellschaftlichem Fortschritt und der Kritik daran zu tun – wie sie wiederum in Gegenbegriffen, etwa dem der „Post-Moderne“, zum Ausdruck kommen.

Vergleichbares gilt für Raumbegriffe, deren Diskussion besonders dann an Aktualität gewinnt, wenn sie und die mit ihnen verbundenen Bilder in Frage stehen. Räume operieren mit Grenzen, und Grenzen schließen ebenso ein wie aus. „Europa“ selbst ist angesichts der politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ein eindrucksvolles Beispiel für derartige Diskussionsprozesse, die in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Debatten ihren Niederschlag finden.

„Mittel“- und „Südosteuropa“

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gehören die titelgebenden Begriffe dieses Buches, „Mittel-“ und „Südosteuropa“ zu jenen Raumbegriffen, um deren Verwendbarkeit, Bedeutung und genaue Verortung im Raum seit dem 19. Jahrhundert intensiv und bisweilen auch erbittert gerungen wurde. Sie sind im Laufe unterschiedlicher Phasen der Wissenschaftsgeschichte nicht weniger umstritten gewesen als „Zentraleuropa“, „Ostmitteleuropa“ und andere Bezeichnungen, die wesentliche Teile unseres Betrachtungsraumes markieren.

Diese wichtigen Diskussionen zeigen, dass Zeit- und Raumbegriffe, die Kategorien zur Wahrnehmung der Welt darstellen, weder in der Geschichte vorfindlich noch „unschuldig“ sind: Weder ergeben sie sich „einfach“, etwa durch Ereignisse oder geographische Gegebenheiten, noch bilden sie fest gefügte Einheiten – weder abgeschlossene Epochen noch Räume, die man sich wie Container vorstellen könnte. Vielmehr sind sie in einem dichten Geflecht wissenschaftlicher Konventionen, politischer Rahmenbedingungen und unterschiedlich motivierter [<<19] Entscheidungen von Autorinnen und Autoren entsprechender Darstellungen verortet, die alle zusammen ihren Gebrauch prägen.

Es ist nicht Gegenstand dieses Buches, die Debatten um diese Begriffe und die ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen im Detail zu referieren, zumal gerade in den vergangenen Jahren zu ihren einzelnen Aspekten eine Fülle von erstklassigen Darstellungen entstanden ist. Dazu bietet etwa die Darstellung von Nora Berend, Przemysław Urbańczyk und Przemysław Wiszewski, Central Europe in the Middle Ages: Bohemia, Hungary, and Poland, c.900–c.1300 (Cambridge 2013) einen vorzüglichen Überblick.

Eine neue Perspektive

Im Falle unseres Buches geht es vielmehr darum, eine mittelalterliche Überlieferungsgeschichte in Europa aus einer – wie wir denken – neuen räumlich vergleichenden Perspektive zu erzählen. Deutschsprachige Einführungen in die Geschichte mittelalterlicher Überlieferung orientieren sich vielfach entlang einer Nord-Süd-Achse: Im Zentrum stehen das Heilige Römische Reich und Italien. Daneben tritt eine Verlängerung nach Westen, die Frankreich und auch England umfasst. Eher am Rande des Interesses bleiben in der Regel die iberische Halbinsel und Skandinavien ebenso wie die Gebiete östlich der Reichsgrenzen. Dabei ist zu differenzieren: Böhmen wird oft im Zusammenhang des Reichs betrachtet. In den letzten Jahrzehnten wurden auch Polen und das Baltikum in ihren Bezügen zum Reich und im Sinne einer Ostseegeschichte verstärkt in den Blick genommen. Was südöstlich der Reichsgrenzen liegt, bleibt hingegen meist terra incognita.

Hier liegt der Schwerpunkt dieses Buches: Unsere Perspektive auf das mittelalterliche Europa richtet sich auf den Südosten Europas; der Verlauf der Donau dient dabei der groben räumlichen Orientierung. Damit fokussieren der hier gewählte Ausschnitt und seine Binnendifferenzierungen auf historische Räume, die ‒ wenn auch in unterschiedlicher Dichte ‒ über den gesamten Beobachtungszeitraum zahlreiche Bezugspunkte aufweisen. Der geographische Bogen wird gespannt vom südlichen Bayern und Salzburg, den österreichischen Ländern und dem heutigen Slowenien; Böhmen und Mähren, über Ungarn, Dalmatien und Kroatien, dem heutigen Bulgarien und Rumänien; Serbien, Bosnien und Albanien, bis zu den mittelalterlichen Kreuzfahrerstaaten in Griechenland sowie der frühen osmanischen Herrschaft auf dem Balkan. [<<20]

Die Darstellung verbindet den Südosten des mittelalterlichen römisch-deutschen Reichs mit dem pannonischen Becken und dem westlichen Schwarzmeerraum. Die Donau bildet den einzigen schiffbaren Strom im südöstlichen Europa und ist gleichzeitig Grenze und Verbindung. So stellte sie kein Hindernis für die bis in das späte Mittelalter andauernden Wanderungsbewegungen aus der Steppenzone in Richtung Balkan dar. Die untere Donau ist bis in das 14. Jahrhundert Grenz- und Begegnungsraum von Steppenreichen, Byzanz und dem im 9. Jahrhundert christianisierten Bulgarien. Nördlich der Donau reichen die Gebiete bis südlich und östlich der Karpaten in die Walachei und die Moldau. Dies sind traditionelle Durchzugszonen, in denen stabile regionale Herrschaften erst nach 1300 entstanden, in Abgrenzung zu, aber zugleich in steter Verbindung mit Ungarn und Polen. Im Süden sind weite Teile des Balkans zur Donau hin ausgerichtet, in welche die wichtigsten Flüsse der Region münden. Zwischen Donau und Save, Adria, Ägäis und Schwarzem Meer liegt der eigentliche Balkan; seit dem 9. Jahrhundert kann er mit Dimitri Obolensky als „byzantinisches Commonwealth“ bezeichnet werden, als Raum byzantinischer Kulturprägung, und das heißt in erster Linie Orthodoxie und Übernahme byzantinischer Kulturmuster zumeist in der kirchenslawischen Liturgie- und Kultursprache. Schon die antike Geographie hatte den Balkan als räumliche Einheit begriffen (Haemushalbinsel).

Der in diesem Buch behandelte Donau-Balkan-Raum bildet eine Betrachtungseinheit, einen Betrachtungsraum. Diesen prägen gewisse gemeinsame Merkmale, deren Untersuchung eine neue Perspektive auf die mittelalterliche europäische Geschichte eröffnet.

Das Erbe der Alten Welt

Weite Teile unseres Betrachtungsraumes gehören zur Alten Welt, d. h. zum antiken Römischen Imperium. In der Alten Geschichte zieht er im Vergleich zu Italien, Gallien oder Spanien verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit auf sich. Im Frühmittelalter erfolgten durch die Veränderung der sprachlich-kulturellen Landkarte durch Germanen, Slawen und Awaren unterschiedlich starke Brüche zur Alten Welt, im Inneren des Balkans stärker als im Alpenbogen. Doch dehnte sich seit dem 9. Jahrhundert der Einfluss der beiden Nachfolgereiche des römischen Imperiums, Byzanz und des Frankenreichs, politisch wie kulturell wieder in den Raum zwischen dem heutigen Österreich und dem Südwestrand des Schwarzen Meeres aus. Seit dem frühen [<<21] 15. Jahrhundert übernahm das Osmanische Reich das strategische Erbe von Byzanz als Vormacht im Süden unseres Betrachtungsraumes, während die Habsburger in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Nordwesten und Norden als eigenen Machtraum organisierten.

Grenzen sind nicht statisch. Wie sich die einst provinzial-römische Welt in neue Raumeinheiten auflöste, wurden diese wiederum mit Gebieten verbunden, die zuvor nicht römischer Verwaltung unterstanden hatten: das alte Noricum etwa mit den böhmischen Ländern, die untere Donau mit den nordpontischen Gebieten (Nordküste des Schwarzen Meeres). Dieser geschichtlichen Dynamik unseres Betrachtungsraumes werden die räumlichen Schwerpunkte der Darstellung angepasst. Aufgrund der gewählten mittel-/südosteuropäischen Perspektive werden allerdings manche Gebiete, die ‒ wie etwa Polen ‒ in anderen Konzeptionen Kerngebiete Ostmitteleuropas sind, hier gegenüber Gebieten wie Dalmatien weniger intensiv behandelt.

Religiöse Diversität

Nicht nur die politische und kulturelle Überschichtung durch überregionale Großreiche kennzeichnen unseren Betrachtungsraum. In einem komplizierten Wechselspiel von Abgrenzung und Begegnung bildete sich zudem eine Grenzzone zwischen römisch-„katholischer“ und „orthodoxer“ Kirche heraus. Jenseits aller zumeist vereinfachenden Absolutsetzungen von Kulturgrenzen, denen es oft an historischer Tiefe mangelt, ist die allmähliche Herausbildung von maßgeblichen Differenzen unterschiedlich konfessionell geprägter Lebensformen eine der wesentlichen langfristigen Entwicklungen der mittelalterlichen Geschichte unseres Betrachtungsraumes. Andererseits gibt es eine Vielfalt von Verbindungen und Übergangsformen in konfessionellen Überlappungsgebieten wie etwa dem heutigen Albanien. Zudem bildet unser Betrachtungsraum bis ins Spätmittelalter das Zielgebiet eurasiatischer Wanderungsbewegungen und Herrschaftsbildungen, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit dem Mongolenreich einen Höhepunkt erreichten.

Periodisierungen

Die zeitliche Abgrenzung des Mittelalters – das Ende des Römischen Reichs zum einen, der Fall Konstantinopels 1453 oder die Entdeckung Amerikas 1492 zum anderen – scheinen klare zeitliche Wegmarken darzustellen. Doch war es in der Forschung keineswegs unstrittig, ob das Ende des Römischen Reichs einen tiefen Bruch hervorrief oder ob nicht vielmehr von einem allmählichen Übergang zu [<<22] sprechen ist (→ Kap. 2.2). Blickt man noch genauer hin, wird deutlich, dass allzu eindeutige Interpretationen kaum für unseren gesamten Betrachtungsraum zutreffen: Noricum an der oberen und mittleren Donau und die zentralbalkanischen Gebiete des antiken Römischen Reichs haben sehr unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen.

Ähnlich heterogen stellt sich die Lage für den Abschluss der osmanischen Eroberungen auf dem europäischen Kontinent dar. Während das Jahr 1526 (als in der Schlacht bei Mohács das ungarische Königtum geschlagen wurde, die Habsburger die ungarische Krone nominell übernahmen und die Osmanen ihre Herrschaft im pannonischen Becken etablierten) im Westen des gewählten räumlichen Ausschnitts für die ungarische und österreichische Geschichte einen maßgeblichen historischen Einschnitt darstellt, begann dieser Prozess an seinem östlichen Ende bereits mehr als 150 Jahre vorher: Als Symboldatum gilt die Festsetzung der Osmanen in Gallipoli/Gelibolu an den Dardanellen (1354).

Dazwischen liegen also eineinhalb Jahrhunderte unterschiedlich „dichter“ osmanischer Herrschaft mit ebenso unterschiedlichen Auswirkungen, nicht zuletzt auf die Überlieferung. Während für Byzanz, die orthodoxen Balkanstaaten und auch Ungarn zwischen dem späten 14. und dem frühen 16. Jahrhundert das Mittelalter endet, beginnt es anderswo erst im 14. Jahrhundert. Diese Ungleichzeitigkeit verdeutlicht die Fragwürdigkeit einer ganz Europa umfassenden und damit nivellierenden Begrifflichkeit. Denn im Falle der rumänischen Geschichtsbetrachtung beginnt das Mittelalter wesentlich mit der Bildung eigener Herrschaften südlich und östlich der Karpaten (ca.1330‒ca.1360) in der Walachei und der Moldau, die sich aus dem zerfallenden Reich der mongolischen Horde sowie dem ungarischen Einfluss lösten. Mit der Herrschaftsbildung beginnt auch eine eigene Schriftlichkeit in Fürstenkanzleien. Rumänische Historiker betrachten die Epoche bis zur Einsetzung griechischer Fürsten aus Konstantinopel (sog. Phanarioten) als Mittelalter – ein Mittelalter, das im 14. Jahrhundert anhebt und 1711 symbolisch ein Ende findet.

Ebenso wenig geeignet ist der westliche Mittelalterbegriff auch für die osmanische Geschichte, demzufolge deren Anfänge im südosteuropäischen Spätmittelalter liegen: Anfang und Ende fallen hier zeitlich zusammen. Das uns vertraute Mittelalter endet also nicht [<<23] nur in der Zeit, sondern auch im Raum. Genauso wenig wie die zeitlichen Grenzen klar festzulegen sind – Daten bieten nur symbolhafte Orientierung – ist dies im Raum möglich. Unser Betrachtungsraum kennzeichnet sich gerade durch die Verdichtung dieser raum-zeitlichen Ambivalenz.

Standort und Perspektive

Geschichtsschreibung ist immer kontextgebunden und perspektivisch. Sie wird immer vom Standort der Betrachtenden aus erzählt. Das gilt für die moderne Geschichtsschreibung und ihre akademischen Ausformungen im Wissenschaftsbetrieb ebenso wie für den Umgang mit Vergangenheit in der Überlieferung selbst. Da wie dort werden Teile dieser Standortgebundenheit reflektiert, andere fließen unbewusst oder zufällig in die Überlieferung ein. Die Wahl eines Standorts aber ist Voraussetzung für die Konstruktion der Perspektive. Wie bei jeder Wahl einer Perspektive werden dabei manche Phänomene weniger beleuchtet als andere oder geraten an den Rand des Blickfelds.

In diesem Buch dient der Standort Wien zwar nicht als Zentrum, aber sehr wohl als einer von mehreren Ausgangspunkten der Betrachtung (→ Kap. 1.3). Diese Wahl hat gewiss mit unserer akademischen Verortung zu tun. Diese allein würde das Vorgehen aber nicht rechtfertigen. Wer eine südöstliche Perspektive auf das europäische Mittelalter wählt, kommt an der Bedeutung Wiens für die Forschungsgeschichte nicht vorbei. Diese wird im ersten Kapitel genauer erläutert. Hier nur so viel: Für Generationen von Mediävisten und Mediävistinnen, die sich mit dem skizzierten Zeit-Raum befassten, war Wien seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein wesentlicher Ort der Ausbildung, Anregung, aber auch der politischen Reibung. Polen, Tschechen und Ungarn, besonders aber Serben, Bulgaren, Albaner und Rumänen, Kroaten und Slowenen studierten in Wien – Frauen waren allerdings erst ab 1897, und zunächst nur an der philosophischen Fakultät zum Studium zugelassen – und nahmen wichtige Anstöße mit in ihre Herkunftsgebiete, wo sie in den politischen, sozialen und religiösen Konflikten des 19. und 20. Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt wurden.

Im Rahmen des – trotz zunehmender nationaler Konflikte – ganz Europa umfassenden Geflechts von wissenschaftlichen Kontakten und Formen des Austausches war Wien keinesfalls der einzige Bezugspunkt der akademischen Eliten aus den genannten Ländern: Berlin, [<<24] Leipzig und Paris zogen ebenfalls und oftmals mehr Studierende aus Mittel- und Südosteuropa an als Wien. Die Wahl eines anderen Standorts als Ausgangspunkt wäre daher ebenso legitim wie möglich; sie wurde in entsprechenden wissenschaftshistorischen Fallstudien auch getroffen. Für die hier in den Blick genommenen Räume und ihre Entwicklung war allerdings Wien einer der wichtigsten Zentralorte der europäischen Mittelalterforschung.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund kann eine Geschichte der Überlieferung daher im doppelten Sinn nicht „unschuldig“ sein. Sie muss immer danach fragen, was von konkreten Quellen erwartet werden darf – in ihrem spezifischen historischen Kontext, mit ihren Chancen auf Überlieferung, aber auch durch Zufälle, welche sie vielleicht wider Erwarten bewahrt haben. Gleichzeitig müssen sich Historikerinnen und Historiker ebenso ihrer eigenen Erwartungshaltungen bewusst sein. Nicht einmal die „ideale“ Überlieferungslage bildet Geschichte ab, denn die Quellen sprechen nur, wenn man Fragen an sie richtet, und von den Fragen hängen ihre Antworten ab. Umgekehrt haben die Quellen gemäß einem berühmten Diktum von Reinhart Koselleck ein „Vetorecht“: Historische Interpretationen dürfen nicht „gegen“ die Überlieferung oder an ihr vorbei erfolgen. Was zu Beginn des 21. Jahrhunderts vielleicht eine wissenschaftstheoretische Selbstverständlichkeit ist, war gerade hinsichtlich der Geschichte der wissenschaftlichen Quellenerschließung und -bearbeitung lange keine.

Die ungeheuer verdienstvollen monumentalen Quellensammlungen, -editionen und -dokumentationen des 19. und 20. Jahrhunderts, die vielfach bis heute die Basis historischen Arbeitens darstellen, dienten gleichzeitig maßgeblich der Konstruktion und Legitimation jener entstehenden Nationalstaaten, in deren Kontext sich auch die akademischen Wissenschaften entwickelt haben. Dementsprechend wurde die Objektivität der Überlieferung zuweilen für scheinbar unparteiische, oft jedoch auch für offen politische Zwecke nachdrücklich bemüht.

Aber auch Geschichtsregionen, die bewusst nationale Grenzen überschreitend gedacht werden, entstehen als historische Konstrukte in einem Kontext, dessen außerwissenschaftliche Dimension verdeutlicht werden muss. Die Konstruktion historischer Räume – ob nun Nationalstaaten, deren Geschichte weit in die Vergangenheit projiziert wird, oder Großregionen wie Mittel- und Südosteuropa – [<<25] kann als Akt wissenschaftlicher und auch politischer Machtausübung verstanden werden.

„Mittel“- und „Südosteuropa“: eine überlieferungsgeschichtliche Perspektive

Der Begriff „Südosteuropa“ etwa wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Wiener Slawisten, Geographen und Diplomaten entwickelt und diente der räumlich-kulturellen Strukturierung der an das Habsburgerreich angrenzenden europäischen Provinzen des damaligen Osmanischen Reichs. In dieser Region verfolgte die Donaumonarchie bis zu ihrem Ende 1918 weitreichende außenpolitische Interessen. Außenpolitik und historische Forschung verliefen oft parallel, bisweilen in Personalunion repräsentiert von Historiker-Diplomaten. In der so konstruierten Region wurde der Begriff „Südosteuropa“ im 20. Jahrhundert als neutralere Begriffsvariante zum oftmals als negativ belastet empfundenen Terminus „Balkan“ verwendet und schließlich in die Begrifflichkeit der Vereinten Nationen aufgenommen. Der Blick von außen und die Wahrnehmung von innen können in einer derart konstruierten Geschichtsregion durchaus konvergieren, sie müssen es aber nicht.

Ähnliches gilt für den Begriff „Mitteleuropa“, der im Ersten Weltkrieg den Expansionsraum der verbündeten Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn umschrieb, aber auch zur Erfassung der kulturell vielfältigen Gebiete des Heiligen Römischen Reichs verwendet werden kann. Umso wichtiger ist es, beide Blickweisen sichtbar zu machen. In diesem Buch geschieht dies auch dadurch, dass Autorinnen und Autoren sowohl aus den Ländern unseres Betrachtungsraumes wie auch außerhalb desselben zu Wort kommen. Geschichtsräume sind nicht statisch; auf ihre möglichen ideologischen Konnotationen ist hinzuweisen. Sie sind aber sinnvolle räumliche Betrachtungseinheiten, die helfen, die weit anachronistischere Konstruktion vermeintlich linearer Nationalgeschichten zu vermeiden.

Aktualität des Mittelalters

Ein Wort noch zu den gegenwärtigen Bedeutungen des „Mittelalters“ in diesem Raum: Sie sind, wie vieles in unserer Betrachtungseinheit, nicht auf einen schlichten Nenner zu bringen. Mittelalterwellen, Mittelalternostalgie, sommerliche Turnieraufführungen und Computerspiele zu mittelalterlichen Themen dominieren im Westen unseres Betrachtungsraumes. In vielen Gesellschaften Südosteuropas besitzt die Epoche bis in die Gegenwart aber auch eine politische Dimension: Die Begründung von Eigenstaatlichkeit und Gebietsansprüchen wird aus [<<26] der mittelalterlichen Geschichte abgeleitet, ebenso wie Vorstellungen nationaler Größe und nationaler Selbstvergewisserung. Mittelalterliche Geschichte findet also nicht nur zwischen oftmals trivialisiert-kommerzialisierter Verwendung und wissenschaftlicher Forschung statt, sondern ist auch Teil eines politischen Feldes. Daher widmen wir uns im ersten Kapitel dieses Buches etwas ausführlicher einer wissenschaftsgeschichtlichen Verortung der Mediävistik in diesem Raum.

Aufbau der Darstellung

Die diesem ersten wissenschaftshistorischen Kapitel folgenden drei Abschnitte verschränken chronologische, geographische und soziale wie kulturelle Aspekte der Überlieferung. Vor dem Hintergrund der soeben umrissenen Periodisierungsprobleme folgen sie erstens pragmatisch einer groben zeitlichen Gliederung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter, die in der deutschsprachigen Mediävistik üblich ist. Die breite räumliche Perspektive macht den Charakter einer solchen Einteilung nur als Hilfsmittel zur Orientierung – und nicht mehr – besonders deutlich.

Logik der Überlieferung

Sie wird daher zweitens ergänzt und verschränkt mit einer Einführung in die sozialen Räume und kulturellen Milieus, in denen in jedem dieser Zeiträume tendenziell die umfangreichste oder eine deutlich ansteigende Überlieferung zu verzeichnen ist, sowie besonders gute Chancen ihres längerfristigen Bestandes. Das ist für das Frühmittelalter die Kirche als wichtigste Überlieferungsträgerin. Im Hochmittelalter hat die urkundliche Überlieferung auch für die Rechts- und Verwaltungspraxis weltlicher Herrschaftsträger zunehmenden Anteil an der Überlieferung, ergänzt durch die Vielzahl von Objekten schriftlicher, bildlicher und materieller Kultur, die Zeugnis von höfischer und adeliger Repräsentation geben. Im Spätmittelalter kann Stadtentwicklung als paradigmatisch für den enormen Anstieg an zunehmend organisierter pragmatischer Schriftlichkeit und vergleichbaren materiellen Überlieferungsformen gelten.

Auch diese Typologie versteht sich in erster Linie als grobe Orientierungshilfe: Selbstverständlich sind im geistlichen Milieu entstandene Quellen über weite Strecken auch im Hoch- und Spätmittelalter dominant, doch im Zeitraum davor sind sie gemeinsam mit den spärlichen historiographischen Nachrichten aus dem Betrachtungsraum bzw. der fränkischen, langobardischen und byzantinischen Geschichtsschreibung über ihn oft die einzige erzählende Überlieferung. [<<27] Selbstverständlich gibt es auch im Frühmittelalter bereits Urkunden. Sie sind maßgeblich für die Etablierung eines robusten raum-zeitlichen Gerüsts. Richtiggehende Urkundenlandschaften entstehen allerdings in den meisten Regionen erst im Hochmittelalter, wo sie ihrerseits zur Konstituierung des Raumes beitragen. Selbstverständlich gab es pragmatische Schriftlichkeit bereits in den gut organisierten Reformorden des 12. und 13. Jahrhunderts und zunehmend auch in fürstlichen Kanzleien. Die systematische und serielle Überlieferung, die teilweise sogar vorsichtige quantitative Auswertungen möglich macht, ist allerdings besonders charakteristisch für die spätmittelalterliche Stadtkultur.

Die Orientierung an der Logik der Überlieferung und deren zunehmende Dichte, die sich nicht zuletzt in den Proportionen der Kapitel widerspiegelt, ist ungewohnt und liegt teilweise quer zum gewohnten chronologischen Aufbau von Überblicksdarstellungen, der als Rahmen auch diesem Buch zugrunde liegt. In allen Abschnitten werden wir daher zusätzlich zu Überblicksdarstellungen zur Forschungssituation besonderes Augenmerk auf die Diskussion solcher Überlappungen und auf vergleichende Differenzierungen legen.

Fallstudien

Das dritte Strukturprinzip der Darstellung ist jenes der exemplarischen Fallstudien, für die wir teilweise auf die Expertise von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern und mit spezifischen Sprach- und Materialkenntnissen zurückgreifen, um der räumlichen und damit auch sprachlichen Heterogenität der Überlieferung in Mittel- und Südosteuropa Rechnung zu tragen. Eine einführende Darstellung wie diese kann dabei nicht enzyklopädisch, sondern nur exemplarisch vorgehen, um die Vielfalt und Komplexität der Gegenstände auch methodisch fassbar zu machen.

Ein kulturhistorischer Zugang zu historischen Quellen fokussiert auf das „Wie“ und „Warum“ ihrer Herstellung, Rezeption und Zirkulation im Kontext von sozialen Lebensformen und kulturellen Vorstellungen. Der Aufgabe einer vergleichenden einführenden Darstellung als Wegweiser oder Orientierungshilfe gerecht zu werden, erfordert daher Schwerpunktsetzungen. „Exemplarisch“ ist angesichts der unterschiedlichen Größenordnungen der vorhandenen Überlieferung daher weniger im Sinn von „repräsentativ“ zu verstehen, sondern mit einem weiteren Begriff von Arnold Esch (1985) als „maßstäblich“: [<<28]

Wie lässt sich die jeweils präsentierte Überlieferung im Vergleich einordnen? Frühe erzählende Quellen wie die Lebensbeschreibung des Hl. Severin aus dem 6. Jahrhundert oder jene der Hl. Method und Kyrill, die dreihundert Jahre später geschrieben wurden, sind für den jeweiligen Überlieferungsraum singulär, während es vergleichbare Quellen im Westen und Süden des ehemaligen Römischen Reichs in deutlich größerer, aber immer noch überschaubarer Zahl gibt und die Überlieferung von Heiligenviten ab dem 12. Jahrhundert sprunghaft anwächst. Aber auch hier ist die räumliche Verteilung im Betrachtungsraum sehr ungleichmäßig. Am eindrücklichsten ist in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts der Gegensatz zwischen Papst Innozenz III. und dem bulgarischen Patriarchen Visarion. Während für das Oberhaupt der römischen Kirche eine enorme Fülle an Urkunden und Registereinträgen erhalten ist, wissen wir von der Existenz seines kirchlichen Gegenübers nur durch eine kurze Inschrift und ein zufällig überliefertes Siegel (Abb 1). Umfasst das niederösterreichische Urkundenbuch insgesamt über 150 Urkunden in 36 Gruppen bis zum Jahr 1076, das babenbergische Urkundenbuch einige hundert Stück bis 1246, und verzeichnen die Regesten der Bischöfe von Passau für denselben Zeitraum knapp 2000 Dokumente, so gibt es in Bulgarien oder den rumänischen Fürstentümern Walachei und Moldau bis ins 14. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen (Urkundenverlust, spätes Einsetzen der Urkundenausstellung) nur einige wenige Einzelstücke.


Abb 1 Siegel des Patriarchen Visarion, Siegelabbildung revers, 13. Jahrhundert. [Bildnachweis] [<<29]

Ein letztes Beispiel: Um 1200 bildeten europäische Städte wie Rom oder Paris mit fünfstelligen Einwohnerzahlen die Ausnahme. Dazu gehörte auch Venedig, für das in dieser Zeit rund 70.000 Einwohner angenommen werden. Ebenso hat das dichte Städtegeflecht der italienischen Halbinsel oder der spätmittelalterlichen Hanse-Kultur an Nord- und Ostsee keine Entsprechung in Mittel- und Südosteuropa. „Große“ Städte wie Wien oder Prag hatten bis 1500 zwischen 10.000 und 25.000 Einwohner, durchschnittliche Mittel- und Kleinstädte zwischen 2000 und 5000, oft auch weniger. Dalmatien, der westliche Küstensaum Südosteuropas mit einer teilweise noch aus römischer Zeit stammenden Stadtkultur, hatte keine Stadt mit mehr als 10.000 Einwohnern. Selbst die im 15. Jahrhundert blühende Stadtrepublik Dubrovnik/Ragusa, die den Balkanhandel beherrschte und Handelsschiffe bis in das westliche Mittelmeer sandte, gehörte im europäischen Vergleich bestenfalls zu den mittelgroßen Städten. Konstantinopel, die bevölkerungsreichste Stadt Südosteuropas, hatte um 1450 mit zwischen 30.000 und 40.000 Einwohnern einen demographischen Tiefstand erreicht und wurde nach der Eroberung durch Sultan Mehmed II. (1453) u. a. durch gezielte Deportationen aus den Provinzen des Osmanischen Reichs besiedelt.

Die exemplarische Vorstellung einzelner Überlieferungsträger wird daher, wo immer das möglich ist, vergleichend diskutiert, um die Relevanz und Repräsentativität oder eben die Besonderheit der vorgestellten Beispiele deutlich zu machen. Sie werden zudem mit den entsprechenden Verweisen auf einschlägige Handbücher und Forschungsliteratur jeweils in den zeitlichen und räumlichen Kontext eingeordnet. Gleichzeitig werden „weiße Flecken“ auf der Landkarte der Quellenerschließung ebenso sichtbar gemacht wie das Fehlen eines Vergleichsrahmens, wo dies der Fall ist. Schließlich sollen einige Fallbeispiele bewusst konkrete methodische Vorgangsweisen sichtbar machen, mit denen unterschiedliche Fachwissenschaften an ihre Gegenstände herangehen.

Eine kulturhistorische Perspektive

Prägend für das mittelalterliche Europa in seinem allmählichen und „ungleichzeitigen“ Werden waren eine Reihe komplex verflochtener Faktoren. Zwei davon, die – wenn auch vielfach gebrochen – nachhaltig wirksam werden sollten, sind das Christentum und die Auffassung von der sozialen Welt als durch das Prinzip der Ungleichheit [<<30] strukturiert. Man stellte sich die Menschen in Stände hineingeboren vor, die Lebensformen und -chancen wie Handlungsmöglichkeiten maßgeblich bestimmten. Selbstverständlich muss man solche Aussagen umgehend wieder einschränken. Denn das Christentum setzte sich nur allmählich und regional sehr unterschiedlich „tief“ durch, wurde darüber hinaus in einem langen Prozess in einen katholischen „Westen“ und einen orthodoxen „Osten“ geteilt. In ganz Europa lebten im gesamten behandelten Zeitraum Angehörige nicht christlicher Religionen, besonders Juden und Muslime. So gehörten weite Teile unseres Raumes seit der osmanischen Eroberung zu einem Reich, in dem eine überwiegend muslimische Elite nach islamischen Staatsmodellen eine mehrheitlich christliche Bevölkerung beherrschte.

Ebenso sah die ständische Einteilung der Menschen in Geistliche, Krieger und Bauern, welche die Kirchenväter der lateinischen Spätantike prägten, schon in den frühmittelalterlichen Jahrhunderten viel komplexer aus. Geistlicher und adeliger Stand überschnitten einander und differenzierten sich, die bäuerliche Bevölkerung war je nach naturräumlichen und ökonomischen Gegebenheiten regional unterschiedlich stark abhängig. In Krisenzeiten stieg oft die soziale Mobilität, und die Ausbildung von Herrschaftszentren, Städten und Dörfern in Hoch- und Spätmittelalter schuf neue Formen der Zugehörigkeit und des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ebenso wie eine verstärkte Binnendifferenzierung in diesen sozialen Räumen, deren Grenzen nach außen ihrerseits unterschiedlich durchlässig sein konnten.

Überlieferungschancen hängen maßgeblich von sozialen Aspekten ab. Wer Macht und Einfluss hat, wer sich ein Archiv bauen und es erhalten kann, wer der Erinnerung Stimme und Schrift verleihen kann, dessen Zeugnisse werden eher in die Geschichte eingehen als die von Angehörigen sozialer Unterschichten, manchmal auch von Randgruppen oder rechtlich nicht Gleichgestellten wie etwa Frauen. Die zumindest teilweise „Unsichtbarkeit“ dieser Gruppen in den Quellen liegt aber nicht nur in der Überlieferung selbst begründet, die meist die Perspektive der Sieger und der institutionell langfristig Erfolgreichen privilegiert. Sie hängt vielmehr auch davon ab, ob Historiker und Historikerinnen nach ihnen suchen. Es ist uns daher ein Anliegen, in der exemplarischen Diskussion vorhandener Überlieferung gerade auch solchen Personen und Gruppen Augenmerk zu schenken, die auf [<<31] den ersten Blick geringere Chancen haben, von Überlieferung und historischen Darstellungen – zumal im Überblick – berücksichtigt zu werden.

Selbstverständlich gilt auch hier, dass man sich darum bemühen muss, die Proportionalität der überlieferten Gegebenheiten methodisch nachvollziehbar zu machen. Der reichen Überlieferung dalmatinischer Küstenstädte und dörflicher Gemeinden im 14. und 15. Jahrhundert, die uns Einblicke in den Alltag der Menschen und in Facetten sozialer Beziehungen, in Ehestreitigkeiten und Wirtschaftsweisen, Gasthausraufereien und Handlungsstrategien gegenüber der venezianischen Obrigkeit erlaubt, stehen weite Gebiete im bosnischen oder serbischen Hinterland gegenüber, über die zu all diesen Themen nur vereinzelte oder gar keine Quellen erhalten sind. Warum das jeweils so ist und wie Historiker und Historikerinnen in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der Nachbardisziplinen (Archäologie, Kunstgeschichte, Theologie und Kirchengeschichte, Philologien, Linguistik, etc.) versuchen, diese Probleme zu lösen, das sind Fragen konkreter methodischer Verfahren, die nicht zuletzt durch die – zu Unrecht so bezeichneten – historischen „Hilfs“-Wissenschaften laufend weiter entwickelt werden. Der Umgang mit Schriften, Inschriften und Handschriften (Paläographie, Epigraphik, Kodikologie) gehört dazu ebenso wie die Interpretation von Bildern, Wappen und Münzen (Ikonographie, Heraldik, Numismatik). Sie alle werden in den einzelnen Kapiteln im Sinn von Kulturtechniken ebenso wie als methodische und letztlich epistemologische Werkzeuge vorgestellt. [<<32]

Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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