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2.4.2 Die Fundinterpretationen in der Mittelalterarchäologie der Provinz Vojvodina
Miklós Takács, Budapest

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Die Vojvodina (heute Nordserbien), am Südwestrand der Karpaten gelegen, stellte ein ideales Feld für Forschungen zu politisch motivierten Deutungen archäologischer Funde aus dem Mittelalter dar. Seit der Wende zum 18. Jahrhundert erlebte das Gebiet mehrfache Herrschaftswechsel. Die ebenfalls wechselnden Eliten versuchten, ihre Macht mit historischen Argumenten zu untermauern. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verdrängte die Habsburgermonarchie die osmanische Herrschaft aus dem Karpatenbecken (Friedensverträge von Karlowitz/Sremski Karlovci 1699 und Passarowitz/Požarevac 1718) und nahm Gebiete in Besitz, die im Mittelalter Teile der Länder der ungarischen Stephanskrone gewesen waren. Bereits im Zuge des Landesausbaus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden alte Siedlungen mehrmals mit Geländebegehungen, d. h. sozusagen mit archäologischen Methoden, bestimmt, da das mittelalterliche Urkundenmaterial überwiegend verloren gegangen war. In diesem Zusammenhang legte Graf Luigi Ferdinando Marsigli (1658–1730) die erste zusammenfassende Darstellung des römischen und mittelalterlichen materiellen Erbes der Region vor, wobei er historische Erkenntnisse für die Deutung der von ihm beschriebenen archäologischen Objekte heranzog. Die Interpretation archäologischer Funde bzw. Befunde war also bereits von Beginn an historischen Postulaten untergeordnet.

Mittelalterforschung im ungarisch-serbischen Spannungsfeld der Donaumonarchie

Seit der Gründung des Ungarischen Nationalmuseums im Jahre 1802 entwickelte die politische Elite des Königreichs Ungarn ein verstärktes Interesse an historischen Fragen, besonders am mittelalterlichen Erbe (→ Kap. 1.1). Freilich wurden im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Überreste der mittelalterlichen materiellen Kultur im südlichen Teil des Karpatenbeckens noch nicht in Aufsätzen zur mittelalterlichen Geschichte behandelt. Sogar in der Revolution und dem ungarischen „Freiheitskampf“ von 1848/49, der in der Region als [<<116] erbittert geführter ungarisch-serbischer und ungarisch-rumänischer Konflikt ausgetragen wurde, berief sich die ungarische Regierung mit Blick auf den Südteil des Karpatenbeckens nur selten auf historische Argumente. Demgegenüber aber formulierte die serbische Nationalversammlung im Mai 1848 ihre Forderungen mit Verweis auf eine angebliche serbische Woiwodschaft im Karpatenbecken des 9. Jahrhunderts.

Aufgenommen wurde die archäologische Forschung in diesem Raum nach dem österreichisch-ungarischen bzw. dem ungarisch-kroatischen Ausgleich (1867 bzw. 1868) sowie nach der Aufhebung der Militärgrenze (1869–1873). Damals wurden zwei Drittel des Raumes der ungarischen, ein Drittel der kroatischen Krone unterstellt. Die kroatischen Archäologen der Bodendenkmalpflege in Syrmien (östliche Hälfte: Srem, Serbien, westliche Hälfte: Zapadni Srijem, Kroatien) organisierten ein Netzwerk sog. Vertrauensmänner (örtliche Lehrer, Notare, Beamte), was maßgeblich zur Erschließung der römischen Großstadt Sirmium (kr. Srijemska Mitrovica, srb. Sremska Mitrovica) beitrug. Lokalen Initiativen sind wesentliche Funde und Befunde in den Regionen Batschka und Banat in der Zeit des Dualismus (1867–1918) zu verdanken. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden mehrere Regional- bzw. Komitatsmuseen in den südlichen Teilen des damaligen Ungarn eingerichtet.

Zumeist waren die archäologischen Forschungen Ergebnis nicht der Förderung durch das Ungarische Nationalmuseum in Budapest, sondern durch kleinere Museen. Im Dualismus blieb die Zahl der Fragestellungen der Mittelalterarchäologie beschränkt. Zumeist wurden Gräberfelder der Völkerwanderungszeit freigelegt und Grabungen zu Reihengräberfeldern des 10./11. Jahrhundert durchgeführt. Alte Bauten wie Kirchen- oder Burgruinen wurden nur ausnahmsweise erschlossen, und wenn überhaupt, dann auf Betreiben des Landesdenkmalamts in Budapest. Die Gründe für die Zurückhaltung der serbischen Eliten bei der Förderung archäologischer Forschungen lassen sich nur erahnen. Wahrscheinlich war der Widerspruch zwischen der eigenen Meistererzählung und den Befunden aus der entstehenden archäologischen Forschung zu stark. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Fundmaterial von Reihengräberfeldern die älteste archäologische Hinterlassenschaft von Slawen in diesem Raum festgestellt. Dies stand [<<117] in deutlichem Widerspruch zur serbischen These, wonach die sog. „Altserben“ bereits seit der späten Sarmatenzeit (3./4. Jahrhundert n. Chr.) im südlichen Teil des Karpatenbeckens die Mehrheit gebildet hätten.

Mittelalterarchäologie und Staatspolitik in den beiden Jugoslawien

Der politische Umbruch von 1918, d. h. die Eingliederung der Region in das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (ab 1929: Jugoslawien) brachte einen völligen Umbruch auch in der archäologischen Forschung. Nun befanden sich viele der unter dem Dualismus eingerichteten Museen außerhalb der ungarischen Staatsgrenzen (Vertrag von Trianon 1920). In der Zwischenkriegszeit war nur das Nationalmuseum in Belgrad für die Erfassung und Sammlung archäologischer Funde zuständig. Die wenigen Grabungen bezogen sich nur zu einem geringen Teil auf die Völkerwanderungszeit bzw. das Mittelalter. So wurde in Südost-Syrmien eine kleine Notgrabung in einem Gräberfeld der Awarenzeit (8. Jahrhundert n. Ch.) durchgeführt. Die kurze Auswertung durch Djordje Mano-Zissi (srb. auch Mano-Zisi, 1901–1995) stützte sich auf Arbeiten des tschechischen Archäologen Lubor Niederle (1865–1944) und betrachtete das Gräberfeld von Batajnica (nahe Belgrad) als Hinterlassenschaft nicht nur von Awaren, sondern vielmehr von Slawen.

Die Jahreswende 1944/45 brachte dem südlichen Karpatenbecken nicht nur die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft durch die Rote Armee, sondern für Jugoslawien auch die Machtübernahme der kommunistischen Partisanen unter Josip Broz, genannt Tito (1892–1980). Damit verbunden war die Rückgliederung der Vojvodina in das nunmehr kommunistische Jugoslawien, und zwar als Autonome Provinz der Teilrepublik Serbien. Es setzte auch der Aufbau eines neuen Macht- und Gesellschaftssystems nach bolschewistischem Muster ein. Bis zum Bruch Titos mit dem Führer der Sowjetunion, Josef Stalin, im Jahre 1948 kopierte die kommunistische jugoslawische Archäologie am treuesten sowjetische Muster, was gleichbedeutend war mit einer panslawistischen Deutung der Funde und Befunde. Bis Mitte der 1960er Jahre koexistierten in Jugoslawien diese panslawistische Idee und die aus dem 19. Jahrhundert stammende „altserbische“ Interpretationsvariante.

Erst ab Mitte der 1960er Jahre verschwanden beide stark ideologisierten Denkmuster aus den Deutungen, die nicht mehr zwanghaft ethnischen Kriterien folgen und die Siedlungskontinuität der „Al [<<118] tserben“ belegen mussten. (Die ersten, aber entscheidenden Schritte haben in dieser Richtung Danica Dimitrijević sowie Jovan Kovačević gemacht.) In einer Atmosphäre relativer Freiheit und Toleranz wurden neue Vorhaben der Mittelalterarchäologie in Angriff genommen, so die Klostergrabungen in Aracs (srb. Arača) und Dombó (srb. Novi Rakovac). Die awarenzeitlichen Gräberfelder der nördlichen Batschka wurden systematisch erforscht und die mittelalterliche Siedlungstopographie derselben Region unter Verwendung des archäologischen Quellenmaterials rekonstruiert. Sándor Nagy (1912–1995) sowie László Szekeres (1931–1997) haben sich größte Verdienste bei dieser Arbeit erworben.

Als Slobodan Milošević 1987 in Serbien an die Macht gelangte, bedeutete dies auch eine erhebliche Umstrukturierung der Mittelalterarchäologie in der Vojvodina. Ziel des neuen Regimes war die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, die für bevorstehende interethnische Kriege indoktriniert werden sollte. In der Vojvodina wurde eine Pressekampagne mit der Behauptung geführt, das serbische Kulturerbe werde absichtlich vernichtet (1991). Der radikale Abgeordnete Milan Paroški, damals Leiter des Denkmalamtes der Vojvodina, brachte sogar eine entsprechende Interpellation im serbischen Parlament ein. Die Pressekampagne zielte auf die angebliche Zerstörung der Grundmauern einer Kirche beim Bau der Autobahn E75. Dieses Denkmal wurde als altserbische Kathedralkirche des 9. Jahrhunderts und als Massengrab der „altserbischen“ Opfer der ungarischen Landnahme an der Wende zum 10. Jahrhundert interpretiert, und dies, obwohl alle Funde und Befunde in das 13.‒16. Jahrhundert zu datieren sind. Wiederbelebt wurde auch die Vorstellung einer seit dem 3./4. Jahrhundert n. Chr. dauerhaft ansässigen „altserbischen“ Bevölkerung. Seit dem Sturz des Milošević-Regimes teilen sich die Mittelalterarchäologen in jene, die – wie in Ostmitteleuropa nunmehr üblich – ethnische Deutungskategorien archäologischer Funde mit Zurückhaltung anwenden (Nebojša Stanojev, Ivan Bugarski), und jene, die weiterhin die Theorie einer „altserbischen“ Kontinuität vertreten (Djordje Janković, Stanko Trifunović). [<<119]

Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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