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2.4.5 Die Siegel des mittelalterlichen Bulgarien 864–971
Ivan Jordanov, Šumen

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Bedeutung der Siegel für die mittelalterliche bulgarische Geschichte

Ähnlich wie die im vorigen Kapitel vorgestellten proto-bulgarischen Inschriften sind Siegel ein besonders wichtiger Teil der Überlieferung zum mittelalterlichen Bulgarien, für welches Schriftquellen nur sehr begrenzt vorhanden sind. Die wichtigsten schriftlichen Informationen stammen aus byzantinischen Texten, welche demgemäß byzantinische Sichtweisen zum Ausdruck bringen. Die Siegel und die Wissenschaft, [<<128] die sich mit ihnen beschäftigt, die Sphragistik (griech. sphragís, Siegel), dienen hier als Korrektiv. Darüber hinaus sind Siegel bisweilen die einzige Informationsquelle überhaupt. Ihre Untersuchung stellt eine der wenigen Möglichkeiten dar, direkte Hinweise auf die mittelalterliche bulgarische Herrschaft und ihre Repräsentation zu erlangen. Dafür können zwei Typen von Siegeln als Quellen herangezogen werden. Erstens Siegel von Vertretern des bulgarischen Reichs und zweitens byzantinische Siegel, von denen auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien mehr als 3500 Stück dokumentiert sind, die verschiedene Funktionen aufweisen. Für die Zeit des Ersten und Zweiten Bulgarischen Reichs, also von 681 bis 971 und von 1185 bis 1393, erhellen sie die Beziehungen zwischen Bulgarien und Byzanz. In den Jahren, als Bulgarien Teil des Byzantinischen Reichs war (971–1185), beleuchten sie die Kontakte zwischen der Reichshauptstadt Konstantinopel und der bulgarischen Peripherie des Reichs sowie zwischen dem Verwaltungszentrum und der Provinz.

Forschungsgeschichte

Schon in der Zeit der „Nationalen Wiedergeburt“, wie auch in Bulgarien die Nationalbewegung genannt wurde (→ Kap. 1.2), als noch kein moderner bulgarischer Staat bestand (spätes 18. Jahrhundert bis 1878), erwachte das Interesse an den Siegeln, deren Erforschung als Beitrag zur Begründung und Legitimation einer frühen „nationalen“ bulgarischen Geschichte verstanden wurde. Die früheste Erwähnung eines mittelalterlichen bulgarischen Siegels findet sich in der „Slavenobulgarischen Geschichte“ des Mönchs Paisij Hilendarski (1722–1773) aus dem Jahre 1762. Sie bezieht sich auf ein silbernes Siegel des Zaren Ivan Aleksandăr († 1371), das heute im Kloster Chilandar (auf dem Mönchsberg Athos in Nordgriechenland) gemeinsam mit der sog. Urkunde von Mraca aus dem Jahre 1347 aufbewahrt wird.

Die erste Veröffentlichung eines bulgarischen Siegels – des letzten bulgarischen Zaren Ivan Šišman († 1395) – stammt aus dem Jahr 1845, als der bulgarische Nationalaktivist und Mäzen Vasil Aprilov (1789–1845) diese Urkunde mit angehängtem Siegel aus dem Rila-Kloster (heutiges Südwestbulgarien) publizierte. Nach dem Ende der osmanischen Herrschaft in Bulgarien (1877/78) wurden grundlegende staatliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Museen und eine Universität geschaffen, wo unter anderem auch das Interesse an der Erforschung der bulgarischen Siegel gepflegt wurde. Die Entwicklung [<<129] moderner Wissenschaften und ihrer Methoden ging auch hier Hand in Hand mit politisch-nationalen Bestrebungen. Die erste Veröffentlichung eines einzelnen Siegels erfolgte 1901 in der angesehenen Revue numismatique und hatte den Direktor des Archäologischen Museums in Sofia, Václav Dobruský, zum Autor, der dabei zwei Zarensiegel vorstellte. Allmählich wuchs die Siegelsammlung des Nationalmuseums für Archäologie, deren Aufbau und Publikation mit der Gelehrtenpersönlichkeit von Nikola Mušmov (1869–1942) verbunden ist. 1925 veröffentlichte er seine für die Zeit grundlegende Arbeit „Münzen und Siegel der bulgarischen Zaren“, in der er alle damals bekannten Siegel der bulgarischen Herrscher – insgesamt acht – zugänglich machte. Die folgende Periode der Forschungsgeschichte wurde von Todor Gerasimov (1903–1974) geprägt. Er veröffentlichte Dutzende unbekannter bulgarischer Siegel aus Pliska, Preslav und anderen Fundorten, darunter auch das Siegel des ansonsten nirgends belegten bulgarischen Patriarchen Visarion († 1246). (Cover-Abb und Abb 1)

1990 erschien eine Neufassung von Mušmovs Werk durch Jordanka Jurukova und Vladimir Penčev „Siegel und Münzen des mittelalterlichen Bulgarien“ mit mehr als 20 Beispielen; 2001 das „Corpus der Siegel des mittelalterlichen Bulgarien“ von Ivan Jordanov. Dieses Corpus umfasst 197 sigillographische Denkmäler, darunter 4 Goldbullen (Chrysobullen), 3 Silberbullen (Argyrobullen), 170 Bleibullen (Molybdobullen), sieben Matrizen und 13 Ringsiegel. Dieser sprunghafte Anstieg der dokumentierten Überlieferung hat auch mit heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen wie der Schatzgräberei, d. h. der Suche nach vor allem thrakischen Grabmälern, zu tun, die nach dem Ende des Kommunismus wegen nicht ausreichender staatlicher Kontrolle und starker Nachfrage auf dem internationalen Kunstmarkt überhandgenommen hat. Doch erschöpft sich damit die Zahl der bulgarischen Siegel nicht. 2003 wurde ein erster Ergänzungsband mit 20 neuen bulgarischen Siegeln gedruckt. Damals betrug ihre Zahl rund 350 Stück. Es ist sehr zu begrüßen, dass die neuen Funde der letzten Jahre unmittelbar im Rahmen archäologischer Grabungen erfolgt sind. Eine Neuausgabe des „Corpus“ ist in Vorbereitung.

Methoden der Auswertung

Die ersten aus dem mittelalterlichen Bulgarien überlieferten Siegel stammen im Zusammenhang mit der Christianisierung seit 864 vom ersten christlichen Herrscher Boris-Michail sowie vom ersten [<<130] bulgarischen Bischof Isaja. Die Überlieferung legt nahe, dass Siegel sehr wahrscheinlich als spezifisch christliche Form der Herrschaftsrepräsentation interpretiert werden können, da sie zeigten, dass die irdische Herrschaft vom christlichen Gott her stammte. Daher werden auf der Vorderseite (Avers) der Herrschersiegel Jesus Christus und auf der Rückseite (Revers) dessen irdischer Stellvertreter dargestellt.

Bischof Isaja bekleidete den Bischofsstuhl von 864 bis 866 und war von Konstantinopel ausgewählt worden, um die Bulgaren zu christianisieren. Die Siegel von Boris, der nach der Annahme des Christentums den Namen seines Taufpaten, des byzantinischen Kaisers Michael III. († 867) wählte, unterteilen sich in zwei Gruppen. In der ersten Gruppe ist er „Herrscher (gr. árchon) von Bulgarien“ (Abb 6.1), ein Titel, der ihm nach der Taufe zuerkannt worden war; in der zweiten Gruppe erscheint er als Mönch und von Gott eingesetzter Herrscher Bulgariens (Abb 6.2). Nach seiner Abdankung im Jahre 889 ging Boris-Michail in ein Kloster, doch erfahren wir aus dem Siegel, [<<131] dass er seine Funktion als Herrscher behielt: Als sein Sohn Vladimir-Rasate versuchte, wieder eine nicht-christliche Herrschaft zu errichten (→ Kap. 2.3.2), verließ er folgerichtig das Kloster und vertrieb seinen Sohn 893 aus der Hauptstadt.



Abb 6.1 und 6.2 Bulgarische Siegel, Boris-Michail. [Bildnachweis]

Der Höhepunkt des bulgarischen Mittelalters

Boris-Michails Nachfolger Simeon I. († 927) ist aus mehr als 80 Siegeln bekannt. Diese können in fünf Gruppen unterteilt werden und veranschaulichen seine Politik, die Souveränität des bulgarischen Reichs zu befestigen. Nach der byzantinischen Vorstellung kam dem byzantinischen Kaiser eine führende Stellung unter den Herrschern der bekannten Welt (Oikuméne) zu. Alle anderen Herrscher verwalteten nach dieser Vorstellung in seinem Namen ihre Reiche. Ihre Stellung hing von dem Titel ab, den ihnen der byzantinische Kaiser verlieh. Feinheiten der byzantinischen Kaisertitulatur sowie Abstufungen bei kaiserähnlichen Titeln, die Byzanz Bulgarien zugestand, drücken die byzantinisch-bulgarische Rivalität auf dem Balkan und dann auch um die Nachfolge Roms symbolisch aus: Zu Beginn seiner Herrschaft trug Simeon als Erbe seines Vaters den Titel Herrscher (árchon) von Bulgarien, wie die Siegel dieser Periode belegen (Abb 6.3). Er hatte demnach die Politik seines Vaters übernommen. Auf der Reichsversammlung in Preslav (893), zu der das „Chronicon“ des Regino von Prüm († 915) die Hauptquelle darstellt, eröffnete ihm sein Vater, dass er das Schicksal seines Bruders erleiden werde, wenn er vom vorgegebenen Wege abwiche: und Vladimir-Rasate war nicht nur entthront, sondern auch geblendet worden. [<<132]


Abb 6.3 Bulgarische Siegel, Simeon I., Frühphase. [Bildnachweis]

Simeon trug den árchon-Titel bis zum Jahre 913. Dann aber wurde dieser Titel weder seinen Ambitionen noch den politischen Gegebenheiten mehr gerecht: Das bulgarische Reich war gefestigt und befand sich kulturell und wirtschaftlich im Aufschwung, während Byzanz unter einer langwährenden Krise litt. Auf dem Thron saß der minderjährige Konstantin VII. Porphyrogénnetos († 959), und an seiner Stelle führte eine Regentschaft die Staatsgeschäfte. Ein Anlass zum Krieg wurde gefunden, und bald erschien das bulgarische Heer vor Konstantinopel. Verhandlungen führten zu einem Abkommen, das die Heirat von Simeons Tochter mit dem minderjährigen Kaiser vorsah und Simeon den Titel „Kaiservater“ (basileopátor) verlieh, was mit der Herrschaft über das Byzantinische Reich verbunden war. Von Simeons Siegeln erfahren wir die ansonsten unbekannte Tatsache, dass er 913 den Titel basileús (Kaiser) trug. Auf diesen Siegeln steht zu lesen „Simeon, dem friedenschaffenden Kaiser, viele Jahre“ (Abb 6.4). Der Titel des byzantinischen Kaisers hingegen lautete „Kaiser und Selbstherrscher der Römer“. Simeons Titel, der also nur einen Teil des byzantinischen Kaisertitels umfasste, stellte aus byzantinischer Sicht den äußersten Kompromiss dar; denn so war das Reich ein Jahrhundert zuvor auch in der Frage der Anerkennung des Kaisertitels Karls des Großen († 814) verfahren.


Abb 6.4 Bulgarische Siegel, Simeon I. als basileús. [Bildnachweis]

Nach Simeons Abzug wurde in Konstantinopel die Regentschaft gestürzt. Die neue Regierung kündigte den Friedensvertrag mit Bulgarien auf, was einen neuen Krieg auslöste. In der Schlacht bei [<<133] Anchíalos (heute: Pomorie, Schwarzmeerküste) schlug Simeon das byzantinische Heer und marschierte kurz darauf wieder vor Konstantinopel auf. Aus der nächsten Siegelgruppe erfahren wir, dass er sich selbst zum „Basileús der Römer“, also zum Oberhaupt der Familie der christlichen Könige, ausrief. Auf dem Avers dieser Gruppe wird Christus Pantokrátor (der Allbeherrscher) und die Akklamation „Dem siegreichen Basileús viele Jahre“ dargestellt. Auf dem Revers erscheint der siegbringende Herrscher mit der Aufschrift „Simeon in Christo Basileús der Römer“ (Abb 6.5). Dieser Anspruch auf die Herrschaft über Byzanz wäre freilich nur Wirklichkeit geworden, wenn Simeon als Sieger in Konstantinopel eingezogen und in der Hagia Sophia gekrönt worden wäre.


Abb 6.5 Bulgarische Siegel, Simeon I. als „Basileús der Römer“. [Bildnachweis]

Von Simeons Nachfolger Petăr I. († 969) liegen 20 Siegel vor. Sie veranschaulichen die schwierige Herrschaftszeit dieses Zaren. Hervorzuheben ist, dass die bislang griechischen Aufschriften und die bislang byzantinischen Titel durch die kyrillische Schrift und die slawische Sprache ersetzt werden: „Zar der Bulgaren“ (Abb 6.6). Die Zahl der Siegel – über 250 Stück – aus dem Zeitraum 893–969 ist beeindruckend. Sie übertrifft um ein Vielfaches die bekannten byzantinischen Herrschersiegel aus derselben Zeit (886–969). Einzig aus Siegeln wissen wir, welchen Titel der Thronfolger trug; er führte einen turksprachigen Titel – bagatur und kana irči tjuni („Prinz des morgigen Tages“). Nur durch Siegel belegt ist eine Reihe von ansonsten unbekannten Würdenträgern des Ersten Bulgarischen Reichs, wie der [<<134] Magister des bulgarischen Herrschers oder der Groß-Kurator des Herrschers (árchon) von Bulgarien (Abb 6.7). Einzig auf Siegeln bezeugt ist auch der sýnkellos der bulgarischen Patriarchen (mit kyrillischer Aufschrift; Abb 6.8) – ein weiterer Beleg für den herausragenden Quellenwert von Siegeln für die frühe bulgarische Geschichte.




Abb 6.6, Abb 6.7 und Abb 6.8 Bulgarische Siegel in slawischer Sprache und kyrillischer Schrift. [Bildnachweis] [<<135]

Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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