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1.3 Wiener Methodenausbildungen und ihre Ausstrahlung nach Südosteuropa
ОглавлениеZu Beginn des 21. Jahrhunderts bemerkte Dejan Medaković, Mitglied der Serbischen Akademie und national ausgerichteter Historiker, dass „fast alle namhaften serbischen Historiker“ in Wien studiert hätten (2001). Damit meinte er insbesondere die Belgrader Mittelalter- und Frühneuzeithistoriker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In abgeschwächter Form gilt diese Aussage auch für die bulgarische, kroatische, rumänische und albanische Mittelalterforschung.
Dejan Medaković, Serben in Wien (Novi Sad 2001), S. 196.
Dass die Wiener mediävistische Schule stark nach Südosten ausstrahlen konnte, hatte gleich mehrere wissenschaftsgeschichtliche Gründe: Bis 1918 war Wien das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum der Habsburgermonarchie. Die Universität Wien zog aber auch Studierende aus den jungen Balkanstaaten Serbien (autonom 1815, souverän 1878), Rumänien (autonom 1859/61, souverän 1878), Bulgarien (autonom 1878, souverän 1908) und Albanien (souverän 1912) an, die alle zumindest zeitweise politisch eng an die Donaumonarchie gebunden waren. Deren imperiale Politik hatte – wie im Zentrum – auch entscheidenden Anteil am Aufbau einer institutionalisierten Wissenschaft im seit 1878 von Österreich-Ungarn verwalteten, 1908 annektierten Bosnien-Herzegowina (vor allem über das Landesmuseum in Sarajevo), während albanische intellektuelle Eliten durch gezielte Stipendienvergabe besonders an den Universitäten Wien und Graz herangezogen wurden.
Das Bildungswesen des jungen bulgarischen Staates wurde in seinen Anfängen von Konstantin Jireček (1854–1918), selbst Sohn eines österreichischen Bildungsministers, maßgeblich begleitet. Wien war [<<42] aber auch Zentralort der Forschung zu Südosteuropa, an dem Theorien und Methoden der philologischen, geographischen, anthropologischen und historischen Beschäftigung mit dem Raum von den österreichisch-ungarischen Reichsgrenzen bis zum Ionischen und Schwarzen Meer ausgebildet wurden. Diese zentrale Stellung Wiens kann man in drei Phasen gliedern.
Vor der Institutionalisierung
In einer vorinstitutionellen Phase in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Grundlagen für eine mehrdisziplinäre Erforschung Südosteuropas im Umfeld der Hofbibliothek und der Zensurbehörde sowie im diplomatischen Dienst gelegt. Auch der Begriff Südosteuropa entstand in Wien, erstmals eingeführt 1814 von dem herausragenden Philologen Bartholomäus Kopitar (1780–1844). Der hamburgische Hugenotte in Wiener Diensten Ami Boué (1794–1881) erschloss als erster Forschungsreisender den inneren Balkan (heutiges Bosnien, Serbien, Kosovo, Albanien, Makedonien) in geographischer und anthropologischer Sicht (La Turquie d’Europe, 1840). Der Diplomat Johann Georg von Hahn (1811–1869) aus Hessen schuf nicht nur die Grundlagen einer philologischen und kulturwissenschaftlichen Albanologie, sondern veröffentlichte gemeinsam mit Karl Hopf (1832–1873), dem Begründer der Erforschung Griechenlands im Mittelalter, einen ersten quellengesättigten Überblick über die mittelalterliche Geschichte der Albaner.
Institutionalisierung: Lehrstühle und Seminare
Die institutionalisierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Südosteuropa setzte an der Wiener Universität mit der Schaffung eines Lehrstuhls für Slawistik (1849) ein und wurde 1907 mit der Einrichtung eines Seminars für osteuropäische Geschichte abgeschlossen. Prägende Gestalt dieser Phase war Franz Ritter von Miklosich (1813–1891), ein Schüler Kopitars, dessen Arbeiten alle Sprachen Südosteuropas, vom Altkirchenslawischen bis zur Sprache der Roma, umfassten. Zur Mittelalterforschung trug er durch Editionen slawischer und byzantinischer Urkunden bei.
Die herausragende Stellung der philologischen Methode kennzeichnet auch die Generation des Slawisten Vatroslav Jagić (1838–1923) und des Historikers Konstantin Jireček, den man als zentrale Figur der Balkanmediävistik bezeichnen kann. Jireček erschloss das Archiv von Dubrovnik als Hauptquelle nicht nur für die mittelalterliche Geschichte Serbiens, Bosniens und Albaniens, sondern auch insgesamt [<<43] für die historische Forschung. Seine Geschichte der Serben (2 Bde., 1911–1918) und Staat und Gesellschaft im mittelalterlichen Serbien (4 Bde., 1912–1919) gelten heute noch als Standardwerke. Jireček schuf eine eigene Schule serbischer, aber auch bulgarischer Mediävisten, die in ihren Herkunftsländern die Wiener Methode verbreiteten. Diese bestand in einer kritischen Analyse erzählender Quellen und vor allem der Heranziehung archivalischer Dokumente. Als entscheidend erwies sich gerade für Serbien der Impuls zur Abkehr von einer nationalromantischen Schule, die das Mittelalter nach dem Vorbild der europäischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts verklärt und in den Dienst der Theorie von einer nationalen Wiedergeburt nach dem Ende der osmanischen Herrschaft gestellt hatte.
Neue Forschungsfelder
Auch in der Bestimmung der Forschungsfelder erwies sich Jireček als Pionier und Anreger: Institutionen- und Rechtsgeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, historische Geographie, Literaturgeschichte besonders des mittelalterlichen Dubrovnik charakterisieren ein Forschungsinteresse, das weit über eine eng gefasste politische Ereignisgeschichte hinausreichte. Daneben kam der Grundlagenforschung erhebliches Gewicht zu: Jireček legte Editionen serbischer Urkunden vor und veröffentlichte gemeinsam mit dem Kroaten Milan von Šufflay (1879–1931) und dem Ungarn Ludwig von Thallóczy (1857–1916) ein heute noch maßgebendes Urkundenbuch zur mittelalterlichen albanischen Geschichte (1913–1918). Da Jirečeks ehemalige Dissertanten wie die Serben Jovan Radonić (1873–1953) und Stanoje Stanojević (1874–1937) oder der Bulgare Petăr Nikov (1884–1938) ebenfalls schulbildend wirkten, erstreckte sich Jirečeks Einfluss besonders auf die serbische Mediävistik bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bestes Beispiel ist der bedeutende serbische Mediävist Sima Ćirković (1929–2009).
Diese Schulen übernahmen von Jireček weitgehend Methode und Themenwahl, freilich mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Ein serbisches Urkundenbuch wurde erst vor kurzem vorgelegt, beinahe hundert Jahre nach Jirečeks Tod und nach vielen vergeblichen Anläufen (→ Kap. 3.2.7). Ein größeres bulgarisches Urkundenbuch des Mittelalters kann wegen des fast völligen Verlusts der Dokumente kaum erstellt werden. Ganz anders gestaltet sich hingegen die kroatische Urkundenforschung: Nicht nach Wiener Vorbild, sondern nach dem [<<44] Modell der MGH arbeitet die als Südslawische Akademie gegründete heutige Kroatische Akademie der Wissenschaften an einer umfassenden Sammlung der die Südslawen betreffenden mittelalterlichen Urkunden mit Schwerpunkt auf der kroatischen Vergangenheit (Monumenta historica Slavorum meridionalium, seit 1863). Dieselbe Akademie betreut auch das kroatische Urkundenbuch (seit 1904).
Zwischenkriegszeit (1918–1938)
Als dritte Phase eines freilich nunmehr schwindenden Wiener Einflusses auf die südosteuropäische Mediävistik kann die Zeit 1918–1938 angesehen werden. Das Ende der Monarchie und die tiefe Krise des Nachfolgestaates Österreich führten zu einem allmählichen Rückgang der Forschungsmöglichkeiten und -kompetenzen. 1934 wurden der Lehrstuhl für Balkangeschichte und das nach 1918 eingerichtete Balkaninstitut aus Spargründen geschlossen. Doch wirkte das Erbe der Jahrhundertwende noch nach, diesmal vor allem auf bulgarische und albanische Studierende, d. h. Angehörige von Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg nahestehenden Nationen. Jene aus den Siegerstaaten Serbien und Rumänien hingegen wandten sich den aufstrebenden Wissenschaftszentren Belgrad und Bukarest zu, wo direkt oder indirekt vom Wiener Methodenraum beeinflusste Mediävisten Institute und Schulen aufbauten. Neue wissenschaftliche Bezugsorte in Frankreich, Italien und Deutschland aber übernahmen zunehmend das wissenschaftliche Erbe der Donaumonarchie.
Der österreichische Ständestaat (1934–1938) hatte die Wiener Balkanforschung bereits stark zurückgedrängt, als der Nationalsozialismus in Wien eine neue Richtung vorgab: die einer „Südostforschung“ im Dienste der NS-Raumpolitik. Nach 1945 verlagerte sich der Schwerpunkt der deutschsprachigen historischen Südosteuropaforschung in die Bundesrepublik Deutschland, wobei Forschungen zum Mittelalter fast ganz zugunsten der jüngeren Epochen vernachlässigt wurden.
Der Wiener Einfluss auf die historische Forschung zu Südosteuropa war hingegen stark mediävistisch geprägt. Hier trafen sich die Bedeutung der mittelalterlichen Geschichte im Rahmen der allgemeinen Geschichtsforschung in Mitteleuropa und besonders in Wien mit dem Interesse südosteuropäischer Studenten an ihrer Nationalgeschichte: Denn die jungen Balkanstaaten suchten nach Jahrhunderten osmanischer Herrschaft einen Anknüpfungspunkt im Mittelalter, um eine fortlaufende nationale Erzählung zu konstruieren, die nicht erst im [<<45] 19. Jahrhundert einsetzt. Die wissenschaftliche Methode im Umgang mit dem Quellenmaterial wurde dabei in Wien vermittelt, durch – nahezu ausschließlich männliche – Gelehrte, die ihrerseits unter dem Einfluss der Methoden der allgemeinen österreichischen Mittelalterforschung standen. Darauf beziehen wir uns, wenn in diesem Buch der Wiener Methodenraum angesprochen wird.
Die Übernahme von Methoden und Fragestellung ist dabei auch hier nicht gleichzusetzen mit kultureller oder gar politischer Sympathie für Österreich-Ungarn. Im Gegenteil, gerade serbische und rumänische Absolventen der Wiener Schulen engagierten sich in ihren Heimatländern nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch, und zwar sehr oft gegen die Donaumonarchie: Jovan Radonić zählt zu den führenden großserbischen Ideologen, und der Rumäne Ion Nistor (1876–1962), der bei Jireček eine heute noch lesenswerte Abhandlung zur Handelsgeschichte der Moldau vorgelegt hatte, wirkte nach 1918 maßgeblich an der Rumänisierung der Universität Czernowitz mit, die unter seiner Ägide zum Mittelpunkt ultranationalistisch-antisemitischer Umtriebe wurde.
Unpolitisch war freilich auch die Wiener Forschung nicht, wenngleich sich ihre zentralen Gestalten Miklosich, Jireček und Jagić nicht von der Balkanpolitik der Donaumonarchie vereinnahmen ließen. Doch ist die Beschäftigung mit dem albanischen Mittelalter und das erwähnte Urkundenbuch auch vor dem Hintergrund des österreichisch-serbischen Konflikts um Nord- und Mittelalbanien zu sehen, der 1913 fast zum Krieg geführt hätte. Beide Seiten argumentierten mit auf das Mittelalter zurückgehenden historischen Rechten, und bei Verhandlungen um die Ostgrenze des 1912 geschaffenen albanischen Staates im Jahre 1913 zitierten österreichische Diplomaten serbische Klosterurkunden aus dem 14. Jahrhundert.
Führende Mediävisten der Donaumonarchie wie Jirečeks Kollegen Milan von Šufflay (1879–1931; von serbischen Agenten ermordet, was Albert Einstein und Heinrich Mann in einem internationalen Appell anprangerten) und Ludwig von Thallóczy (1857–1916) zählten zu den führenden Vertretern kroatischer bzw. ungarischer Nationalpolitik. Thallóczy verfasste etwa im Auftrag des österreichisch-ungarischen Außenministeriums die erste albanische Geschichte, die unter dem Namen des albanischen Übersetzers verbreitet wurde und [<<46] die albanische Geschichtsauffassung nachhaltig prägte. In Bosnien wirkte er sowohl als hoher Beamter wie als einer der Begründer der bosnischen Mediävistik.
In der Zwischenkriegszeit, besonders den zwanziger Jahren, sammelten sich im Umfeld der Wiener Universität albanische, makedonische und kroatische Studenten, deren Vereine in engem Kontakt zu Untergrundgruppen standen, die Anschläge gegen das 1918 geschaffene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien) durchführten. Diese Politisierung des sozialen Raumes Universität schränkte aber die Rezeption der Wiener Methoden offensichtlich nur wenig ein – derart konkurrierende Historiographien wie die serbische und die albanische bezogen sich gleichermaßen auf sie. Die Osteuropaforschung wurde zwischen 1934 und 1945 zuerst vom sogenannten Ständestaat mit Sparmaßnahmen eingeschränkt, dann vom Nationalsozialismus weitgehend für seine Zwecke missbraucht. Nicht zufällig wurden zwei der führenden Sprachwissenschaftler, Nikolaj Trubeckoj (1890–1938) und Norbert Jokl (1877–1942), Opfer des Regimes.