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2.4.1 Stratigraphie eines Burghügels – das Beispiel von Alessio/Lissus/Lezha
Etleva Nallbani, Paris

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An der südwestlichen Adriaküste, im Gebiet des heutigen Nordalbanien, überlappten sich die Einflüsse aus dem westlichen und dem östlichen Teil des spätantiken Römischen Reichs in besonderer Weise, hier begegneten sich das Lateinische und das Griechische als Amts- und daher Inschriftensprache (→ Kap. 2.2.2), hier wirkte sich das Ringen der Kirchen von Rom und Konstantinopel um kirchenrechtlichen und kulturellen Einfluss auf dem Balkan in enger Nachbarschaft und schwankenden konfessionellen Loyalitäten aus (→ Kap. 2.3.2). Die Erforschung des Siedlungswesens dieser Grenzregion ist daher von besonderem Interesse. Dabei kommt angesichts des Mangels schriftlicher Quellen gerade für das Früh- und Hochmittelalter der Archäologie besondere Bedeutung zu. Ausgrabungen zweier großer Stätten sollen Licht in dieses Dunkel bringen. Seit 2008 gräbt ein albanisch-französisches Team im alten Lissus (heute Lezha, nahe der Adriaküste) und in Dalmace (heute Koman), im nahen gebirgigen Hinterland. Es interessiert sich dabei für die Organisation des Siedlungsraumes, die Bevölkerungsentwicklung und den regionalen Austausch von Waren [<<112] im Tal des Drin, eines der wichtigsten in die Adria entwässernden Flüsse des Balkans, im heutigen Nordwestalbanien. Dalmace ist seit 1989 wegen seiner besonders reichen Nekropole (Gräberfeld) bekannt und wurde zu einem mythischen Ort der albanischen Archäologie. Die sog. Kultur von Koman sollte das fehlende Glied in der Theorie der nationalistischen albanischen Geschichtsschreibung von einer ungebrochenen albanischen Siedlungskontinuität von den antiken Illyrern über die mittelalterlichen sog. Arbër bis zu den modernen Albanern bilden (→ Kap. 2.2.3).

Durch Grabungen zu einer Neudeutung der frühmittelalterlichen Geschichte

Die seit 2008 laufenden neuen Grabungen versuchen, sich von diesem politisch motivierten Schema zu lösen.



Abb 4 und 5 Grabung Nekropole Lezha, Albanien. [Bildnachweis]

Bisher haben sie ergeben, dass Dalmace nicht nur aus einer Nekropole bestand, sondern sich auf mehreren steil abfallenden Höhenbereichen auf einer Fläche von rund 35 Hektar ausdehnte. Die Siedlung beherrschte das rechte Ufer des Drin zwischen der Siedlung Sarda im Osten und der Festung Scodra (heute Shkodra, die wichtigste Stadt Nordalbaniens) im Nordwesten. Die Siedlung Dalmace geht im Wesentlichen auf die römische Epoche zurück, auch wenn es Siedlungsspuren aus hellenistischer Zeit (den drei letzten vorchristlichen Jahrhunderten) gibt. Im Mittelalter wies der Ort eine sehr dichte Siedlungsgeschichte auf, besonders vom ca. 6.‒10. Jahrhundert, als sich Dalmace [<<113] zu einem richtigen städtischen Zentrum entwickelte. Die Siedlung war in mehrere Viertel gegliedert, darunter eines mit hochgelegenen Wohnhäusern aus Stein sowie Kirchen und Produktionsstätten. Bisher sind eine große Nekropole und fünf Kirchen freigelegt worden, die die verschiedenen Siedlungsstufen kennzeichnen. Die Dichte der Kirchenbauten ist ein besonderes Merkmal der Topographie von Dalmace zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert und prägt auch sonst die städtische Kultur Nordwestalbaniens (Lezha, Sarda, Danja, alle am Drin gelegen). Die Kirchen waren ursprünglich hochwertig geschmückt und bemalt und mit liturgischen Geräten ausgestattet, was auf die außergewöhnliche Investitionstätigkeit der Geistlichkeit hindeutet. Der Klerus wurde so zum Mittelpunkt von Wirtschaft und Produktion in Dalmace. Auf der St. Georgs-Insel bestand auch eine Metallerzeugung, was für die Bestattungsbräuche zwischen dem 7. Jahrhundert und dem Ende des Mittelalters durchaus unüblich war. Eine 2012 entdeckte Schmiede überlagerte am Kopfende der Kirche einen Gräberbereich (9.‒10. Jh.).

Diese ersten Befunde zur Produktion und die außergewöhnliche Fülle und Reichhaltigkeit der freigelegten Objekte in der Siedlung und vor allem der Nekropole erlauben es, verschiedene Gegenstände aus Keramik, Glas und Metall und deren Verteilung durch den regionalen Handel genauer zu untersuchen. Die Nekropole dehnt sich über eine Fläche von vier Hektar aus und war seit der spätrömischen Zeit (4./5. Jh.) bis mindestens zum 13. Jahrhundert in Gebrauch – an ihrem Beispiel lässt sich die tausendjährige Siedlungsgeschichte auch in regional vergleichender Sicht darstellen. Die Erdbestattung, ein allgemeiner Brauch seit dem Ende der römischen Epoche, erlaubt durch die Untersuchung der menschlichen Überreste wie auch der Grabbeigaben in einer großen Zahl von Gräbern – vor allem Kleidungsstücke im weitesten Sinn (Waffen, Schmuck, Objekte zur Reparatur von Kleidungsstücken, religiöse Artefakte) – umfassende Rückschlüsse auf Gesundheitszustand, Entwicklung von demographischen Strukturen und fortschreitender Christianisierung, Kleidungscodes und gesellschaftlicher Stellung der Bestatteten nach chronologischen Phasen und gesellschaftlichen Gruppen.

Eine Stadt an der Schnittstelle zwischen Mittelmeer und innerem Balkan

Im Gegensatz zu Dalmace, einer im Mittelalter neuformierten Siedlung par excellence, lag Lezha (das antike Lissos) auf den Ruinen [<<114] einer Siedlung aus dem klassischen Altertum, von der es eine prachtvolle 2500m lange und 8m hohe Stadtmauer aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. gleichsam geerbt hatte; diese Mauer umspannte drei Viertel des Burghügels. An der Mündung des Drin und an der Römerstraße gelegen, die in nordwestlicher Richtung nach Naissus (heute Niš, Serbien) und die Donauprovinzen führte, beherrschte Lezha den Nordteil der albanischen Küstenebene zwischen Dyrrachium (heute der mittelalbanische Hafen Durrës) und Scodra/Shkodra und riegelte den Übergang vom gebirgigen Hinterland an die Küste ab (Abb 4 und 5).

Die mittelalterliche Siedlung folgte nicht der antiken Anlage. Sie ist in kleinen Siedlungsinseln organisiert, die auf verschiedenen Plateaus des Hügels liegen. Die Siedlung ist so in eine Unterstadt, eine Mittel- und eine Oberstadt geteilt. In der Oberstadt mit der Burg und dem östlichen Friedhof lässt sich eine Siedlungsgeschichte von der Spätantike bis in die osmanische Zeit nachvollziehen. Fast an allen Stellen der Stadt ist die Bedeutung des Christentums feststellbar. In der Burg lag die 2013 teilweise ausgegrabene Kirche, die der Heiligen Maria Schnee/S. Maria ad nives zugeschrieben wird, die auf älteren spätantiken Elementen errichtet worden war. Die Dichte hochwertiger Gräber im Inneren der Kirche und die zahlreichen Umbauten lassen die Marienkirche als eines der wichtigsten Zeugnisse der sehr komplexen Geschichte Lezhas im Mittelalter erscheinen, bis sie im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zu einem Munitionslager des osmanischen Heeres umgewandelt wurde. Seit dem 8. Jahrhundert verwaltete die Geistlichkeit auch den Gräberbereich: zwei Kirchen, eine davon mit einer sehr schönen Ikonostase in Steinmetzarbeit des 8.‒9. Jahrhunderts, dazu auch eine Zisterne und eine kleine Kapelle, liegen nördlich des Grabbereichs. Zwei Friedhöfe befinden sich nördlich und südlich außerhalb des hellenistischen Walls, während der Friedhof in der Burg die größte Ausdehnung besitzt. Eine archäologisch-anthropologische Untersuchung von 150 freigelegten Gräbern weist auf eine große Vielfalt von Grabtypen hin, was durch das lange Bestehen des Grabfelds und durch die Vielzahl von Bevölkerungsgruppen erklärt wird, die im Mittelalter in Lezha siedelten. Nach den Kleidungsarten zu schließen, kleideten sich die Einwohner Lezhas zu Beginn des Mittelalters sowohl in typisch mittelmeerisch-byzantinischer Weise als auch nach jener Art, die für die in Klan-Strukturen organisierten Bewohner des [<<115] Binnenlands charakteristisch war. Die Analyse von Grabbeigaben und Grabarchitektur ermöglicht es so, materielle Kultur und gesellschaftliche Organisation über viele Jahrhunderte nachzuverfolgen.

Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter

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