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Fallbeispiel: Die Salzburger Überlieferung des 8. und 9. Jahrhunderts
ОглавлениеEnde der spätantiken Kirchenorganisation
Die in der Severins-Vita so eindrucksvoll dokumentierte spätantike Kirchenorganisation ging in den Grenzgebieten des einstigen Römischen Reichs an der mittleren Donau um 490 zu Ende. Die letzten Nachrichten über den Metropolitanverband von Aquileia sind aufgrund von kirchenpolitischen Kontroversen rund um die Synode von Grado (572/vor 577) erhalten, als deren Teilnehmer die Bischöfe von Scarabantia/Ödenburg, Celeia/Cilli, Emona/Laibach, der binnennorischen Bistümer Teurnia und Aguntum/Lavant sowie Sabiona/Säben und Trient genannt werden. Nach dieser letzten „Momentaufnahme“ gibt es lange nahezu keine Nachrichten mehr. In den folgenden Jahrzehnten vollzog sich eine völlige Neuordnung der ehemaligen römischen Provinzen. Eine Folge der Auseinandersetzungen ist das Fehlen jeglicher schriftlicher Überlieferung aus diesem Raum in den nächsten gut hundert Jahren. Sie setzt erst mit der von den bayerischen Herzögen aus dem Geschlecht der Agilolfinger initiierten Missionsbewegung durch angelsächsische, irische und fränkische Mönche wieder ein.
Geschichtsschreibung „von außen“
Über den Zeitraum dazwischen sind wir siedlungsgeschichtlich nahezu ausschließlich durch archäologische und linguistische Befunde informiert sowie durch die Nachrichten der byzantinischen Historiographen Prokópios, Agathias, Ménandros und Jordanes, die Historia Langobardorum des Paulus Diaconus sowie die fränkischen Autoren Venantius Fortunatus und Gregor von Tours bzw. die sogenannte Chronik des Fredegar.
Bis zum Tod Theoderichs des Großen (536), dessen Heer Odoaker besiegte und dessen Reich seinen Mittelpunkt in Ravenna hatte, dominierten die Goten auch den Ostalpen- und Donauraum. Danach ging die ostgotische Herrschaft in diesem Raum an die Franken unter [<<89] dem Herrschergeschlecht der Merowinger über, während die Gebiete weiter im Osten im Zuge langwieriger Auseinandersetzungen mit dem ost-römisch/byzantinischen Kaisertum neu geordnet wurden. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielten die Langobarden, die ihre Siedlungsgebiete um 500 im Donauraum ‒ im ehemaligen Gebiet der Rugier ‒ hatten, wie Gräberfelder im niederösterreichischen Hollabrunn und Krems belegen. Sie sind in der Folge in Pannonien nachweisbar und ab 568 in Oberitalien mit dem Herrschaftszentrum in Pavia.
Im Laufe der Auseinandersetzungen des 6. Jahrhunderts wurde, wie Herwig Wolfram formuliert, der Ostalpenraum von Italien getrennt. Im Westen sind ab Mitte des Jahrhunderts die politisch von den Frankenkönigen abhängigen Bayern nachweisbar, deren Herkunft unklar ist und die wohl verschiedene gentile Gruppen inklusive der verbleibenden romanischen Bevölkerung integrierten. Das führende bayerische Geschlecht der Agilolfinger (um 555 nennt die Historia Langobardorum als ersten Herzog Garibald) hatte enge verwandtschaftliche Beziehungen zu den Langobarden in Italien. Im Westen am Arlberg grenzte das bayerische Einflussgebiet an das der ebenfalls von den Franken abhängigen Alemannen. Im Osten berichtet die Langobarden-Geschichte des Paulus Diaconus für 592 von ersten Zusammenstößen der Bayern mit den Slawen im Drautal; für 595 und 610 mit den Awaren, zu denen die Grenze an der Enns verlief. Sie sind bereits 558 am byzantinischen Hof Kaiser Justinians I. († 565) fassbar und dominierten die Donauländer von ihrem Herrschaftszentrum im pannonischen Raum aus bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts. Gemeinsam mit den Awaren sind an der unteren Donau slawische Verbände belegt, die ‒ wie die Bayern im Westen ‒ in diesem Raum die wichtigste und nachhaltigste Bevölkerungsgruppe darstellen. Im frühen 7. Jahrhundert sind ihre Siedlungen bis ins östliche Pustertal, ins nördliche Ennstal und an der Traun nachweisbar. In den 620er Jahren konnte der fränkische Kaufmann Samo das Machtvakuum zwischen Awaren und Bayern zur Etablierung einer ersten slawischen Herrschaftsbildung von Böhmen bis ins heutige Kärnten nutzen. Nach seinem Tod (um 660) setzten sich aber wieder die Awaren durch, um 700 stabilisierte sich die Grenze zu den Bayern an der Enns. Südlich der Alpen brachten die Bayern um 740 die karantanischen Slawen [<<90] in ihre Abhängigkeit. Hier entstand das Fürstentum Karantanien, später Kärnten.
Heiligenleben
Über diese Vorgänge gibt es ab dem späten 7. Jahrhundert wieder schriftliche Nachrichten aus der bayerischen Überlieferung. Abermals, und vielleicht noch deutlicher als an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert, zeigt sich, wie sehr Motive zur Errichtung und Durchsetzung politischer Herrschaft sowie Aneignung des Raumes und ihre ideelle Legitimation mit geistlich-missionarischen Bemühungen Hand in Hand gehen. Um 700 begannen die Missionstätigkeiten der unter den agilolfingischen Herzögen ins Land gekommenen Emmeram, Corbinian und Rupert. Alle drei wurden Gründer bzw. Patrone der 739 durch den Hl. Bonifatius in päpstlichem Auftrag eingerichteten neuen Bistümer Regensburg, Freising und Salzburg; das Wirken aller drei wurde jeweils zwei bis drei Generationen später in Heiligenviten gewürdigt und nach den genretypischen hagiographischen Mustern stilisiert. Zum späteren Metropolitanverband von Salzburg mit dem ersten Erzbischof Arn († 821), der erst 798 auf Initiative Karls des Großen etabliert wurde, der auch seine Südgrenze gegenüber dem Patriarchat Aquileia mit der Drau festlegte, gehörte außerdem das Bistum Passau.
Die Passio Haimhrammi und die Vita Corbiniani verfasste wohl zwischen 768 und 772 Arbeo von Freising, der zunächst Schreiber in der bischöflichen Kanzlei und später selbst Bischof von Freising und Zeitgenosse des Salzburger Bischofs Virgil († 784) war. Die Gesta Hrodberti, die Lebensbeschreibung des Salzburger Gründungsbischofs, der von Worms nach Bayern gekommen war, lässt sich hingegen keinem Autor zuweisen, und auch ihre Überlieferungsgeschichte ist deutlich komplizierter. Die vielleicht 746/7 entstandene früheste Fassung ist nicht erhalten. Die ältere Überlieferung A (nach 791/3) und die jüngere Fassung B, die viel später (870) entstanden ist (→ s. u.), weichen in maßgeblichen Punkten voneinander ab und zeugen so von ihrer jeweils kontextbezogenen Intentionalität.
Fränkische Quellen
Alle drei Heiligenviten gehören zusammen mit der karolingischen Hofhistoriographie, besonders dem Liber Historiae Francorum und der fränkischen Annalistik, der spezifisch mittelalterlichen Form historischer Darstellung in nach Jahren geordneten knappen Notizen (→ Kap. 3.3.4), zu den maßgeblichen frühen schriftlichen Quellen zur [<<91] bayerischen Geschichte, aber auch zu jener des Konflikts zwischen den Karolingern als neuen Trägern der fränkischen Herrschaft und ihren bayerischen Verwandten, der agilolfingischen Herzogsfamilie. Alle drei Heiligenleben wurden außerdem in einem Zeitraum geschrieben, als es die Auseinandersetzung zwischen dem mächtigen Bayernherzog Tassilo III. und Karl dem Großen für die Salzburger Kirche klug erscheinen ließ, sich der Gunst beider, der Agilolfingerherzöge wie der Frankenkönige, zu versichern.
Geistliche Kultur
Neben den Bistümern sind die bayerischen Klöster als Träger von schriftlicher Kultur von herausragender Bedeutung. Im 8. Jahrhundert wurden neben dem Domstift von St. Peter in Salzburg durch den Hl. Rupert und der Frauengemeinschaft auf dem Nonnberg unter seiner Nichte Erintrudis als erster Äbtissin unter anderen die Klöster Mondsee, Niederaltaich, Kremsmünster sowie das Passauer Domstift gegründet und von den bayerischen Herzögen mit umfangreichem Grundbesitz ausgestattet. In den Klöstern wurden Handschriften vor allem für den liturgischen Gebrauch hergestellt, die gleichzeitig zum Erlernen der lateinischen Sprache dienten. Der wichtigste Text war die Bibel; Latein, die Sprache der christlichen Liturgie, lernte man zunächst anhand der Psalmen des Alten Testaments. Die Bücher, die man für unterschiedliche liturgische und pastorale Zwecke wie für die Lektüre im Rahmen des monastischen Tagesablaufs und der Ausbildung benötigte, brachten die Missionsgeistlichen mit. In den Skriptorien der Klöster wurden sie kopiert und oft mit reichen Illustrationen ausgestattet: solche illuminierten Codices enthielten Psalterien, Sakramentare mit Mess- und Weiheformeln, Evangeliare und verschiedene Lektionare mit Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament, darüber hinaus Gesangbücher, Sammlungen von Heiligenlegenden (Legendarien), Texte der Kirchenväter, exegetische und erbauliche Schriften, theologische Traktate sowie Texte, welche die wichtigsten Wissensbestände der Artes liberales (bestehend aus dem Trivium ‒ Grammatik, Rhetorik, Dialektik ‒ und dem Quadrivium ‒ Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) vermitteln sollten.
Zu den prachtvollsten frühen Werken im Betrachtungsraum gehören das exquisit illuminierte Cuthberht-Evangeliar aus der Schreibschule von St. Peter in Salzburg, das in der Zeit der Bischöfe Virgil oder Arn entstanden ist (Cod. Vind. 1224), und eine Handschrift [<<92] mit naturphilosophischen und chronologischen Texten mit den ältesten Monatsbildern (Cod. Vind. 387). Zwei der Legendarien aus diesem Skriptorium zählen zu den ältesten im deutschen Sprachraum überhaupt.
Memorialüberlieferung
Im Jahr 784 wurde noch unter Bischof Virgil der Liber confraternitatum, das Salzburger Verbrüderungsbuch, angelegt, ein Verzeichnis aller Lebenden und Toten, für die das Kloster eine Gebetsverpflichtung trug. Der ältere Teil der Handschrift – einer der ältesten in karolingischer Minuskel im Stil von St. Denis – reicht bis zum Ende des 9. Jahrhunderts und enthält etwa 8.000 Eintragungen, darunter die älteste Salzburger Bischofsreihe, die Namen der agilolfingischen Herzöge und fränkischen Könige mit ihren Frauen und Kindern, von Äbten und Äbtissinen, Grafen und Großen. Der jüngere Teil reicht von 1004 bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts. Vergleichbare Aufzeichnungen zur Bewahrung der memoria der Verstorbenen, um durch Gebet für ihr Seelenheil Sorge zu tragen, sind in den Nekrologen vieler Klöster erhalten und gehören zu den wichtigsten zeitgenössischen Quellen zur Rekonstruktion prosopographischer Daten und Beziehungskonfigurationen zwischen Menschen innerhalb und außerhalb geistlicher Institutionen. Für das frühmittelalterliche Mitteleuropa lässt sich anhand des Salzburger Liber confraternitatum gemeinsam mit dem Reichenauer Verbrüderungsbuch und dem Liber vitae aus Cividale ein guter Teil der bayerischen politischen und geistlichen Eliten und ihre Bemühungen um die Christianisierung der slawischen Großen wie der Bevölkerung im Donau- und Ostalpenraum und des bayerischen „Ostlandes“ (plaga orientalis) erschließen.
Eine Geschichte der Bekehrung der Bayern und Karantanen
Ein weiteres außergewöhnliches Beispiel der Salzburger Überlieferung sowohl hinsichtlich seines historischen Erkenntniswertes, mindestens genauso aber aufgrund seiner subtilen ré-écriture verschiedener Überlieferungsbestände und ihrer Integration in eine kirchenpolitische Denkschrift ist die von der modernen Geschichtsschreibung so genannte Conversio Bagoariorum et Carantanorum, die wohl 870 verfasst wurde und von Herwig Wolfram als „Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien“ bezeichnet wurde (32013).
In den abermals mehr als hundert Jahren, die seit der bayerischen Bistumsorganisation durch Bonifatius vergangen waren, hatte sich die [<<93] bayerisch-salzburgische Mission parallel zur militärischen fränkisch-bayerischen Expansion nach Süd-Osten ausgedehnt, zunächst seit den 740er Jahren nach Karantanien. Davon erzählt die „Bekehrungsgeschichte“ im Rückblick aus der Perspektive des späten 9. Jahrhunderts, als es darum ging, die Ansprüche des Salzburger Erzbistums in Pannonien gegenüber den von Byzanz und später auch Rom unterstützten orthodoxen Missionsbestrebungen der Brüder Konstantin/Kyrill und Method zu verteidigen. Dementsprechend erzählt die Conversio eine bruchlose Geschichte der erfolgreichen Salzburger Mission und blendet dabei konsequent alle Ereignisse aus, die quer zu dieser Erfolgsgeschichte liegen.
Bayerische Mission in Karantanien
Denn der Zeitraum zwischen der bayerischen Karantanenmission und der Missionskonkurrenz seit den 860er Jahren ist geprägt von einer Vielzahl von Konflikten, die sich auch in der komplexen Geschichte der durchaus nicht widerstandslos erfolgten Verbreitung des Christentums in Karantanien äußern. 741/2 hatte der Karantanenfürst Boruth den Agilolfingerherzog Odilo gegen die Awaren zu Hilfe gerufen; der gemeinsam errungene Sieg führte allerdings zur politischen Abhängigkeit der Karantanen von den Bayern. In der Folge wechselten Bitten der Karantanen um Entsendung von Missionspriestern mit karantanischen Unruhen ab. Auf der kirchenpolitischen Ebene erhielt Salzburg päpstliche Bestätigungen seiner Zuständigkeit für Karantanien für diese Missionstätigkeit. Dass es daneben ebensolche Initiativen seitens Aquileias und Freisings gab, bleibt jedoch – der Intention der Schrift entsprechend – in der Conversio gänzlich unerwähnt.
Herrschaftskonflikte
Ein weiterer maßgeblicher Faktor im Hintergrund der Bekehrungsgeschichte waren die Auseinandersetzungen zwischen dem karolingischen Königtum und den Bayernherzögen, die im Konflikt zwischen Karl dem Großen und Tassilo III. ihren Höhepunkt fanden. 788, also 16 Jahre nach dem letzten großen militärischen Erfolg des Bayernherzogs in Karantanien (772), wurde er durch den König abgesetzt. Die bayerischen Selbständigkeitsbestrebungen wurden durch die Unterwerfung des Herzogtums unter die fränkische Oberhoheit vollständig unterbunden. Dem endgültigen karolingischen Sieg über die Awaren kurz darauf folgte auch eine administrative Neuordnung des Raumes, unter anderem mit der Einrichtung des bayerischen Ostlandes, das in der Conversio 70 Jahre später erstmals als plaga orientalis bezeichnet [<<94] wird (c. 10). Für die neue Grenzorganisation waren zunächst königliche Beauftragte zuständig. Ab der Mitte des 9. Jahrhunderts wurden hier Mitglieder der königlichen Familie eingesetzt, die den Raum zunehmend für ihre abermals recht eigenständige Herrschaftsbildung im Grenzgebiet nutzten. 822, in demselben Jahr, in dem die Annales regni Francorum zum letzten Mal die Awaren erwähnen, werden zum ersten Mal die Mährer genannt. Eine Generation später (858) kämpfte Karlmann, der Sohn Ludwigs des Deutschen, gegen den bereits mächtigen Mährerfürsten Rastislav. Die jahrelangen Auseinandersetzungen, Friedensschlüsse und Allianzen, die sich in diesem und dem folgenden Jahrzehnt im Grenzland zu Mähren und zu Pannonien abspielten und in deren Rahmen innerkarolingische Herrschaftskonflikte wie Parteikämpfe zwischen den jeweils involvierten Adelsgruppen, also den Großen des Landes, ausgetragen wurden, bilden den Hintergrund für die weiteren Missionsbestrebungen sowohl in Mähren als auch in Pannonien.
Urkundliche Überlieferung
Eine Konsequenz solcher Konflikte ist die vergleichsweise gute Überlieferungslage. Dass man in Zeiten politischer Instabilität Maßnahmen zur Sicherung seiner „alten Rechte“ ergriff, war im Bayern des 9. Jahrhunderts nichts Neues. Die wichtigsten Urkundensammlungen und -bearbeitungen Salzburgs waren im Sinn von Besitztitelverzeichnissen bereits in jenen Jahren angelegt worden, als sich Tassilo III. Karl dem Großen unterwerfen musste: die Notitia Arnonis entstanden 788/90, die Breves Notitiae 798/811; und auch andere geistliche Institutionen wie Niederaltaich, Kremsmünster oder Passau ließen sich bestehende Rechte bestätigen. Damals begann man in bayerischen Bistümern und Klöstern auch eine neue Form von Urkundensammlungen, Traditionscodices, zu führen, die der besseren Verwaltung und damit größeren Rechtssicherheit dienten (→ Kap. 3.2.1).
Salzburgs Argumente
Ähnlich gestiegene Überlieferungschancen bewirkte die Eskalation der Missionskonkurrenz bei den Slawen vor dem skizzierten politischen Hintergrund: Die Mährerfürsten Rastislav und sein Neffe Zwentibald I. wandten sich nämlich, nachdem sie es vorher erfolglos in Rom versucht hatten, im Jahr 862 in einem Brief an den byzantinischen Kaiser Michael III. mit der Bitte um einen Bischof und Lehrer, „der uns in unserer Sprache den wahren christlichen Glauben erklären könne“. Die zahlreichen italienischen, griechischen und bayerischen [<<95] Lehrer, die bei ihnen unterschiedliche Lehren verträten, verwirrten das Volk, heißt es in den Lebensbeschreibungen von Konstantin/Kyrill und Method, die daraufhin zunächst in Mähren missionierten. Ab 869 war Methodios auch als päpstlicher Legat und Erzbischof in Pannonien tätig (→ Kap. 2.3.2). Während die slawischen Fürsten darin die Möglichkeit einer pannonischen Kirche mit der alten Metropole Sirmium unter Einschluss von Mähren und unabhängig von Salzburg und der bayerischen Kirche erkannten, argumentierte Salzburg im Sinn einer ununterbrochenen Missionskontinuität von Bayern über Karantanien nach Pannonien.
Deshalb ist in der Fassung B der Rupert-Vita, die als erstes Kapitel die Conversio Bagoariorum et Carantanorum eröffnet, von einer Bekehrung der bayerischen Herzöge, Großen und des Volks durch den Hl. Rupert die Rede, wohingegen die Bayern in der älteren Fassung A von 791/3 bei der Ankunft des Heiligen bereits Christen waren. Der zweite (cc. 3–10) und dritte Teil (cc. 11–14) widmen sich der Slawenmission, wobei die Ansprüche auf Pannonien dadurch legitimiert werden, dass dieser Teil des slawischen Gebiets gleichsam als erweitertes Karantanien dargestellt wird. Die Denkschrift setzt also dort an, wo die Belege Salzburgs für sein „altes Recht“ am schwächsten sind. Während für die Salzburger Zuständigkeit in Karantanien mehrere päpstliche Bestätigungen vorlagen, besaß weder das Erzbistum selbst noch eines der Salzburger Bistümer entsprechende Rechte für Pannonien.
Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien, hg., übers., komm. und um die Epistola Theotmari wie um gesammelte Schriften zum Thema ergänzt von Herwig Wolfram (Ljubljana/Klagenfurt 32013).
Seit der Zeit nämlich, da aufgrund der Vergabe und auf Befehl des Herrn Kaisers Karl das (christliche) Volk des östlichen Pannoniens von den Salzburger Bischöfen regiert zu werden begann, bis zur Gegenwart sind es 75 Jahre, daß kein Bischof, der woandersher kam, in jenem Gebiet die kirchliche Gewalt besaß außer die Salzburger Leiter. Auch kein Priester, der von woandersher kam, wagte dort länger als drei Monate sein Amt auszuüben, bevor er dem Bischof nicht sein Entlaßschreiben vorgelegt hatte. Das wurde dort nämlich beachtet, bis die neue Lehre des Philosophen Methodius aufkam. (c. 14) [<<96]
Mit diesen Worten schließt die Denkschrift, die vermutlich an Ludwig den Deutschen anlässlich einer Synode in Regensburg (870) gerichtet war, bei der sich Methodios gegenüber dem ostfränkischen König und den bayerischen Bischöfen verantworten musste. Ihr Autor, ein Salzburger Kleriker, vielleicht sogar Erzbischof Adalwin († 873) selbst, konnte auf eine Fülle von Quellen zurückgreifen, um seine recht sachlich wirkende Argumentation zu fundieren. Zwar verwendete er nach neuestem Forschungsstand die Salzburger Urkundenverzeichnisse (Notitia Arnonis und Breves Notitiae) nicht, dafür aber unter anderem Salzburger Urkunden, verschiedene Annalenwerke, den Liber confraternitatum von 784, sowie eine Bischofsliste von 854/59 aus den Carmina Salisburgensia, der berühmten Salzburger Gedichtesammlung.
Wessen Wahrheit?
Ein guter Teil dieser Überlieferung stand dem Autor der Conversio nicht zuletzt deshalb zur Verfügung, weil die bayerische Geschichte und jene der Verbreitung des Christentums eben nicht bruchlos verlaufen waren, sondern in zahlreichen geistlichen, politischen und auch gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Akteure und Institutionen. Solche Konflikte und die dadurch entstehende Rechtsunsicherheit erhöhten Überlieferungschancen gerade für Material, das in den letztlich langlebigen kirchlichen Institutionen entstanden ist und dort zu Belegzwecken besonders sorgfältig aufbewahrt wurde. Ein Teil des Quellenwerts der Conversio erwächst daher aus der Fülle des Materials, auf das ihr Autor zurückgreifen konnte. Gleichzeitig gibt es zu vielem, was die Denkschrift behauptet, aufgrund der skizzierten Umstände unüblich viele Parallelüberlieferungen. Das bedeutet, dass man dem Autor bei der Konstruktion seines Arguments gleichsam auf die Finger sehen und in einer Reihe von Fällen auch nachweisen kann, was der Text „gegen besseres Wissen“ verschweigt. Herwig Wolfram hat in mehreren detaillierten Analysen (zuletzt 2013) gezeigt, wo und wie die Salzburger Denkschrift maßgebliche Informationen zur bayerischen Missionsgeschichte bei den Slawen weglässt, um eine ganz bestimmte, den Salzburger Intentionen entsprechende Version dieser Geschichte zu erzählen.
Bewegliche Texte
Wie wenig sich diese einzigartige Quelle daher in abgegrenzten Gattungen kategorisieren lässt, macht ihre Bezeichnung als genus mixtum durch die neuere Forschung deutlich, als ein „gemischtes“, ein uneindeutiges Genre. Die Notwendigkeit solcher offenen Kategorien [<<97] wird – ähnlich wie bei der Überlieferungsgeschichte der Vita S. Severini – durch die Geschichte der Rezeption der Conversio noch unterstrichen. Die insgesamt zehn erhaltenen Handschriften sind fast ausschließlich um 1200 entstanden oder überarbeitet worden; fast alle sind in Sammelhandschriften in Klöstern der Region überliefert, die eine enge Verbindung zu Salzburg aufwiesen. Auch hier bedingten aktuelle Interessen an der Vergangenheit – von der erneuten Notwendigkeit der Besitzsicherung angesichts der Rezeption des gelehrten Rechts im Alpenraum über die Auffindung des Grabes Bischof Virgils (1183) und seine Kanonisation (1233) bis zum Beginn des Salzburger Dombaus durch Erzbischof Konrad III. († 1200) – die ré-écriture des Textes und ließen ihn so lebendig bleiben.