Читать книгу Sternstunde der Mörder - Pavel Kohout - Страница 8

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Morava erkannte Prag nicht wieder. Ihm war, als sei die Stadt nach sechs Jahren aus dem Trauma der Münchener Kapitulation erwacht. Bei der Ausfahrt aus der Polizeigasse auf die Nationalstraße–Národní, wie die zweisprachige Tafel besagte, mußte sein Fahrer etliche Minuten warten, bis die Kolonnen der Feuerwehr- und Sanitätswagen samt ihrer Schleppe aus Ruß und Holzgas vorbeigeholpert waren. Auf den Gehsteigen trabten Männer und stolperten Frauen in ein und dieselbe Richtung: zur Moldau. Die verbotenen Radiostationen berichteten seit dem frühen Morgen über den vernichtenden nächtlichen Angriff auf Dresden, und der hiesige Bombenüberfall in der Mittagsstunde, so kurz er auch war, hatte die panische Furcht erzeugt, Prag könne vom gleichen Schicksal ereilt werden.

Diesen Gedanken teilte der Kriminaladjunkt nicht. Zum einen war er der geborene Optimist, zum andern glaubte er nicht, daß die Alliierten zum Ende des Krieges die Hauptstadt eines okkupierten Landes in Trümmer legen würden, dessen Unabhängigkeit sie bekräftigt hatten, und obendrein lagen bereits Meldungen vom Luftschutz vor, die besagten, daß hier nur einige Bomben von ein paar Flugzeugen abgeworfen worden waren. Auf der Polizeidirektion herrschte die Meinung vor, das Ganze sei der tragische Irrtum eines Navigators gewesen, den die Ähnlichkeit beider Großstädte getäuscht habe.

Trotzdem trat automatisch der Alarmplan in Kraft. Männer aller Abteilungen rückten zu den getroffenen Orten aus, um die Bergungsarbeiten zu beaufsichtigen und sich einen Überblick über Schaden und Verluste zu verschaffen. Auch Morava wollte sich auf den Weg machen und war überrascht, als Hauptkommissar Beran ihn vom Hof weg an den Schreibtisch zurückbeorderte.

«Katastrophen bringen nicht nur Samariter auf die Beine, sondern auch Marodeure, halten Sie, Morava, hier in der Direktion die Stellung!»

Der Chef der städtischen Kriminalpolizei war in der Masaryk-Republik zur Legende geworden und zum Schrecken der Prager Unterwelt, doch weil er damals schon hartnäckig fern allen Parteien gestanden hatte, zogen auch die Deutschen seine Kompetenz nicht in Zweifel. In diese fielen allerdings nur tschechische Übeltäter, seine eigenen verhörte und bestrafte gegebenenfalls auch der Apparat der Okkupationsmacht selbst.

Morava wußte, daß er seine Zeit eigentlich für die Bearbeitung der anstehenden Fälle zu nutzen hatte. Die immer näher rückende Front spülte vom Osten her nebst unglücklichen Menschen auch Gesindel aller Art heran. Für das war er nicht gerade in Stimmung. Er drehte das Radio an, um mehr über die Bombennaht zu erfahren, die sich wie das Werk einer gewaltigen Nähmaschine quer durch Prag von Smíchov über das Zentrum bis zu dem Außenbezirk Pankrác zog. Gesendet wurde ernste Musik, die Zensur bastelte anscheinend immer noch an einer möglichst harmlosen amtlichen Nachricht.

Ihn überkam der dringende Wunsch, Jitka zu sehen. Er wird es wieder einmal mit dem Verlangen nach ihrem köstlichen Ersatzkaffee begründen! So faßte er sich ein Herz und begab sich durch den Korridor in Berans Büro. Sie hob ihre großen braunen Augen zu ihm auf, die ihn stets aus der Fassung brachten. Was hat dieses scheue Schäfchen hier in dieser Abteilung für Widerwärtiges und Scheußliches verloren? Ach, anders wäre er ihr ja nie begegnet! Bevor er dazu kam, sie anzusprechen, ging das Telefon.

«Nein, bitte», sagte sie wie eine brave Schülerin, «der Herr Hauptkommissar ist dienstlich unterwegs ... nein, das weiß ich leider nicht ... alle sind nach dem Luftangriff bei den Sicherungsarbeiten, nur der Herr Kriminaladjunkt ist da ... ja, bitte sehr, ich übergebe!»

Sie reichte ihm den Hörer, und er versank so tief in ihrem ernsten Lächeln, daß er nicht gleich verstand, wer ihn da ankläffte.

«Wie heißen Sie?»

«Stellen Sie sich zuerst einmal selber vor!» gab er ärgerlich zurück.

«Rajner. Werde ich jetzt auch Ihren werten Namen erfahren?»

«Morava ... Jan Morava ... verzeihen Sie, Herr Polizeipräsident ...»

«So, also Morava!» fuhr die Stimme des gehaßten und gefürchteten Mannes seltsamerweise freundlicher fort, «hören Sie mir gut zu. Nehmen Sie sich einen Fahrer oder auch ein Taxi und machen Sie, daß Sie zum Moldaukai fünf kommen, oberster Stock, aber flott! Dort hat man eine prominente Deutsche umgebracht, auf verdammt häßliche Art, wie es aussieht.»

Moravas Gehirn sprang wieder an. Er wagte einzuwenden.

«Die deutschen Fälle löst die Gestapo selbst, Herr Präsi ...»

«Genau die will den Beran haben. Bevor ich ihn endlich aufgetrieben habe, melden Sie sich wenigstens an Ort und Stelle! Geben Sie Obacht, Mann, verstanden?»

Der verlängerte Arm der Nazis hatte aufgelegt, Morava hielt aber immer noch den Hörer ans Ohr, und sein Gesicht war offenbar blutrot. Jitka war zerknirscht.

«Du meine Güte, ich hab Ihnen nicht gesagt, wer das ...»

Er versuchte ein Lächeln.

«Ist nichts passiert, glauben Sie mir! Läßt sich ein fahrbarer Untersatz auftreiben?»

«Ich besorge Ihnen bestimmt was, warten Sie ein Momentchen unten!»

Er eilte ihr nach, verliebt in ihren schwebenden Gang. Um so größer war seine Eifersucht, als auch der Hausschönling, Garagenmeister Tetera, ihrer Bitte sofort nachgekommen war und ihn sogar höchstpersönlich mit seinem Dienstwagen fuhr, den er eben erst gewaschen hatte.

Kaum bogen sie hinter dem Nationaltheater nach links ab, als er Brandgeruch verspürte und gleich darauf die Rauchsäule erblickte. Das Eckhaus an der früheren Jirásek-Brücke, unter den Deutschen auf Dienzenhofer umbenannt, war halb zerstört und brannte. Sie rollten in ein schwarzes Gestöber hinein. Vom blauen Himmel herab rieselten Rußflocken und halbverbrannte Papierfetzen. Das Auto fuhr an einer Schlange stehender Straßenbahnen entlang und blieb vor einer Wagenburg aus Feuerspritzen stecken. Morava ertappte sich dabei, daß er nicht anders als sein Fahrer offenen Mundes in die Höhe starrte. An die Ermordeten hatte er sich mit der Zeit gewöhnt, die betrachtete er wie sonderbare Schaufensterpuppen. Aber noch nie hatte er die herausquellenden Eingeweide eines Wohnhauses gesehen.

Die vier Stockwerke, die ins erste herabgestürzt waren, hatten auf der Wand des benachbarten Mietshauses ein buntes Schachbrettmuster aus Farben, Tapeten und Kacheln zurückgelassen. An diesem hängengeblieben waren Bilder, Gobelins, Spiegel, Wandlampen, Bücherborde, Handtuchhalter und Kleiderhaken mit Morgenröcken, aber auch Wasch- und Klosettbecken. Morava dachte an deren Benutzer, und ihn schauderte. Den gewaltsamen Tod hatte er bei seinem Handwerk als die schlimmste Verletzung der Normen des Zusammenlebens begreifen gelernt; er hatte gewöhnlich ein Motiv, das zuweilen krankhafter Natur, doch stets erkennbar war. Die Austilgung so vieler Menschen, die jene Flieger obendrein als ihre Schutzengel angefleht hatten, ergab nicht den geringsten Sinn.

Ein erregter Polizist forderte sie auf zu verschwinden. Morava schickte den Garagenmeister fort und fragte sich zugleich, ob der sich nicht bei Jitka seinen Dank abholen würde. Dann zeigte er seinen Ausweis und schlich sich zwischen den Helfern und deren Geräten durch bis zur Nummer fünf, dem zweiten Haus neben dem bombardierten. Die paar verstümmelten Leichen auf Planen und Brettern nahm er bloß zur Kenntnis, sie erinnerten ihn an seine üblichen Fälle. Er gab vor allem darauf acht, daß er sich in den Pfützen bei den Hydranten die Schuhe aus Lederersatz nicht kaputtmachte.

Vergebens betätigte er die einzige Klingel, die wohl zum Hausmeister führen mußte. Dann drückte er prüfend auf die Klinke der schweren, zweiflügeligen Tür und stellte fest, daß sie nicht verschlossen war. Der mit Marmormosaiken verkleidete und mit der Aufschrift Salve geschmückte Hausflur lenkte seine Schritte zu einem Aufzug aus dunklem Holz, geräumig wie ein kleines Zimmer. Vornehm, bedächtig und geräuschlos trug er ihn in die Höhe. Noch beim Aussteigen oben glaubte er, an der falschen Adresse zu sein.

Kurz darauf flog die einzige Wohnungstür der Etage auf, und auf der Schwelle stand ein Typ im Ledermantel, der nichts anderes als ein Gestapomann sein konnte.

«Der Hauptkommissar? Na endlich!»

«Ist unterwegs», sagte Morava, «ich bin sein Assistent, mich schickt der Herr Polizeipräsident Rajner.»

Das gute Deutsch tat seine Wirkung. Mit einer Kinnbewegung bedeutete der Kerl ihm um einiges höflicher, ihm zu folgen. Im Salon standen ein paar Männer. Und auf dem Tisch lag etwas, das er noch nie gesehen hatte. Als ihm aufging, was das war, hob sich ihm nach Jahren wieder der Magen.

Sternstunde der Mörder

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