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ОглавлениеHure nicht umzubringen. Gott mochte wissen, woher man sie zu diesen Abenden herbeischaffte, immer neue und wieder neue lüsterne Gesichter, und ausgerechnet er – der Teufel mochte wissen, welcher dunkle Instinkt sie sein Amt herausspüren ließ – reizte sie bis zur Unberechenbarkeit auf. Je entschiedener er sie abwies und übersah – er wußte, er war geradezu krankhaft monogam, konnte es aber nicht ändern –, desto hartnäckiger verfolgten sie ihn. Diese hier hatte sich nicht gescheut, bei ihm einzudringen, um ihn auch ohne sein Wissen zu besitzen, und ihm war klar, wenn er sie verdrosch, würde er ihr nur zusätzliche Wollust bereiten, deshalb schmiß er sie schlicht und einfach hinaus.
Er warf einen Blick auf den Rokokonachttisch, wo neben einer Fotografie seiner Frau der Wecker stand. Erst halb zwei, aber er wußte, er würde nicht mehr einschlafen, und so trat er auf die Terrasse hinaus. Die Wiese senkte sich vom Jagdschlößchen zum Seeufer, wo noch das Feuer flackerte und Stimmen klangen. Er konnte sich ausrechnen, wer das war, und beschloß, das zu regeln, wozu er am Abend zu müde gewesen war.
Wolf hatte den Einfall gehabt, die bis dahin mit effektloser Elementarität durchgeführten Vollstreckungen auf einen bis zwei Tage in der Woche zu konzentrieren und mit Erholungspausen zu durchsetzen, nicht nur für den Vollstrecker, sondern auch für die Richter, Staatsanwälte, Verteidiger von Amts wegen und anderen Beamten, deren Teilnahme an Exekutionen zu ihrem Arbeitssoll gehörte. Natürlich hatte er seitens zahlreicher Interessenten tatkräftige Unterstützung gefunden, vor allem glücklicherweise diejenige des Doktors, wenngleich der dann – Wolf schrieb das seiner allzu hohen Position zu – keinen Gebrauch davon machte. Bald war auch ein passendes Gebäude ausgemacht worden, ein ehemaliges Jagdschlößchen und nachmaliges exklusives Hotel der Bourgeoisie, der konfiszierte Besitz eines der ersten Hochverräter, eben von einer Sondereinheit geräumt und ideal gelegen: fast unmittelbar vor den Toren der Metropole und zugleich im militärischen Sperrgebiet. Durch die »Aktion Schlößchen« hatte Wolf sich selbst bewiesen, daß er nicht nur ein gottbegnadeter Organisator, sondern auch der geborene Diplomat war: Sie brachte ihm viel Sympathie ein und ermöglichte es ihm, regelmäßig all jene gemeinsam anzutreffen, die er brauchte.
Deshalb konnte er jetzt, da in seinem Metier der erste ernstzunehmende Konkurrent aufgetaucht war, die nächtliche Wiese mit dem Gefühl eines Spielers überqueren, der einen Royal Flush in der Hand hält. Die Septemberluft war verhältnismäßig kühl, doch ihm, dem knapp Vierzigjährigen, vor Saft intellektueller und physischer Kräfte geradezu Überquellendem, war eher heiß. Daher ging er barfuß, den Tau genießend, und nackt, nur ein Handtuch um die Lenden geschlungen, nicht etwa aus Prüderie, sondern weil er wußte, daß völlige Nacktheit selbst den bedeutendsten Menschen des letzten Quentchens Würde beraubt. Deshalb empfand er es als das größte Manko, daß er es nicht einmal in dieser günstigen Zeit durchgesetzt hatte, entkleidete Delinquenten geliefert zu bekommen. Irgendein Idiot aus dem Institut für Rechtspflege hatte gegen ihn eine ganze Enzyklika verfaßt, mit Chroniken und alten Stichen dokumentiert, wo er nachwies, die Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation bilde eben jenes Stoff-Fetzchen, das bei der Vollstreckung die Schamteile verdeckt. Leider! hätte er damals am liebsten aufgeschrien, gibt es noch die Grenze zwischen Männern und Hosenscheißern, die zwar jedem x-beliebigen den Strang verpassen, aber dann in Ohnmacht fallen, wenn der Gehängte einen fahren läßt! Natürlich hatte er nicht aufgeschrien, er war bereits zu der weisen Erkenntnis gelangt, es sei ersprießlicher, beleidigt zu werden, aber hinzurichten, als umgekehrt. Er hängte sie also weiterhin in leinenen Kutten, ohne jemals das unangenehme Gefühl loszuwerden, daß sie dadurch menschlichen Wesen mehr ähnelten als nötig. Er hatte zumindest durchgesetzt, daß sie ihm nicht mit Namen, sondern mit Nummern gemeldet wurden, doch auch dann ging er ihnen ohne Fisimatenten direkt an den Hals, um sie sofort nicht mehr als Ganzes wahrnehmen zu müssen. Das brachte ihm das Renommee eines phantastischen Könners ein, doch er, ungewohnt, sich etwas vorzumachen, wußte sehr wohl, daß er eine Achillesferse hatte. Und als er sah, wie dieser Jüngling Schimssa den komplizierten Knoten knüpfte und den Kunden dabei vom Scheitel bis zur Sohle musterte wie ein Schlächter, der wohlgefällig ein Schwein betrachtet, da wußte er noch genauer: Sieh, sein Paris, den Bogen erhoben!
Wolf verabscheute diese ganze pseudohumanistische, hellenistische Kultur, die als ihre Paradenummer den Selbstmord durch Leeren des Schierlingsbechers eingeführt hatte. Um so weniger war er bereit, dem ersten Grünschnabel das Feld zu räumen, der zufällig einen besseren Knoten zu knüpfen verstand. Sein brillant funktionierendes Gehirn hatte sofort einen Plan entwickelt, den er jetzt in die Tat umsetzen wollte.
Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen. Auf Klappstühlen saßen hier händchenhaltend die beiden, denen die Bewunderung der gesamten Öffentlichkeit galt: Staatsanwalt und Pflichtverteidiger, Prominente großer Prozesse, die der Epoche in der Rangliste der Geschichte eine Spitzenposition sicherten. Doch auch diese Männer von ehernen bürgerlichen Prinzipien hatten eine Schwäche, die sie menschlich machte. Sie waren ein Liebespaar und liebten einander so sehr, daß der Verteidiger, tief in die Augen des Partners blickend, in zwei Fällen noch vor dem Staatsanwalt für die Todesstrafe plädiert hatte.
Auch heute hatten sie die schönen Hetären den anderen überlassen und dafür ein romantisches Zusammensein zu zweit eingetauscht. Wolf störte sie nicht, im Gegenteil, sie schätzten diesen athletischen Mann, der ihrem gemeinsamen Werk so präzis die Krone aufsetzte und sie überdies oft durch seinen Intellekt überraschte. Obwohl sie ihn unter Umständen kennengelernt hatten, die für ihn höchst mißlich waren, hatten sie als erste seine Qualitäten entdeckt. Seither empfanden sie für ihn längst mehr als bloße Sympathie, ja sie hatten einmal sogar versucht, ihn für ihre Gefühlseinstellung zu gewinnen und ihm einen festen Platz in ihrer Gemeinschaft anzubieten. Wolf, trotz seiner Monogamie bis ins innerste Mark ein Mann und deshalb jeder Abnormalität abhold, war natürlich viel zu klug gewesen, um direkt abzulehnen. Er hatte ihnen in einer vorgetäuschten Beichte, die nach aufreizendem Geheimnis roch, eröffnet, er sei wie so viele Scharfrichter sexuell andersartig; zwar maskiere er das aus gesellschaftlichen Gründen – er sagte nicht: wie sie, aber sie verstanden schon –, brauche in Wirklichkeit jedoch weder die Partnerschaft einer Frau noch die eines Mannes: zum Geschlechtsakt werde ihm jede Vollstreckung, die, wie sie sehen könnten, wenn diese blöden Kutten nicht wären, zum Schluß den gesamten Vitalapparat der Delinquenten mobilisiere, eo ipso auch den sexuellen. Ihr Höhepunkt, ergänzte er vertraulich, sei dann ebenfalls der seine.
Das fesselte sie ungemein, sie duzten ihn seit jener Nacht und machten ihm nie wieder intime Anträge, obwohl er ihnen nach wie vor gefiel. Auch jetzt sahen sie ihn gern, er war eigentlich der einzige, vor dem sie sich nicht verstellen mußten, und schließlich brennt jede Liebe, selbst die absonderlichste, darauf, gesehen und beneidet zu werden.
– Willkommen, Friedrich, sagte der Staatsanwalt, schöne Nacht, nicht?
– Trinkst du einen Kognak mit uns, einen echten? fragte der Verteidiger und schickte sich an, ihm einzuschenken.
– Laßt euch nur nicht stören, sagte Wolf.
Er wußte, sie würden ihm auch für diese kleine Aufmerksamkeit Dank wissen. Er bückte sich nach der Flasche, die im Riedgras einer exotischen Blüte glich, und trank direkt daraus. Dann brachte er bedächtig, doch unerschütterlich sein Anliegen vor.
– Demnächst, sagte er, brauche ich hier ein Zimmer mehr. Ginge das?
– Willst du deine Alte mitbringen? lachte der Verteidiger.
– Diesen Jungen, sagte Wolf.
Das warf sie fast von den Stühlen.
– Du hast ..., stotterte der Verteidiger.
– Du willst dir hierher ..., stotterte der Staatsanwalt.
– Wer ist es? fragten beide drängend.
– Der mit dem Knoten, sagte Wolf, ich glaube, er hat auch euch gefallen.
Obwohl er die Reaktion erwartet hatte, überraschte ihn deren Heftigkeit.
– Der mit dem Hühnerkopf? rief der Verteidiger aus.
– Hast du seinen Teint gesehen? rief der Staatsanwalt aus.
– Du hast dich auf Grünzeug umgestellt? riefen beide aus, und Haß schwang darin mit.
– Freunde, sagte Wolf mit einem reizenden Lächeln, ich brauche diesen Schimssa nicht fürs Bett, sondern für die Arbeit.
Die Spannung löste sich, aber das Mißtrauen war noch nicht verflogen.
– Du hast gesagt, du willst ihn herbringen, sagte der Verteidiger.
– Ja, sagte Wolf, aus guten Gründen. Sagt mir, Freunde, meint ihr, daß unser Kampf sich dem Ende zuneigt und die Gesellschaft uns bald nicht mehr brauchen wird?
– Was fällt dir ein? wunderte sich der Staatsanwalt. Jeder Tag bringt uns neue Enthüllungen, wenn ich Banalitäten nicht scheute, würde ich sagen, daß an jedem Hals, den du abwürgst, neun neue Köpfe nachwachsen. Ich weiß nicht, wie es um dich steht, Mirda –
fuhr der Staatsanwalt fort, an den Verteidiger gewandt,
– ich jedenfalls bin überzeugt, daß die Anschläge auf die Friedensbemühungen unseres Volkes den Charakter eines Eisbergs haben, sichtbar ist kaum ein Zehntel, und auch da sind wir noch lange nicht durch, daraus –
fuhr der Staatsanwalt fort, an Wolf gewandt,
– geht logisch hervor, daß wir eigentlich erst am Anfang stehen, so daß du, Friedl, wirst von Glück reden können, wenn man dich dereinst in Pension gehen läßt, ich sehe, daß Mirda mir zustimmt, und wenn der Willi –
fuhr der Staatsanwalt fort, zu dem noch erleuchteten Fenster gewandt, von wo das wollüstige Stöhnen des genannten Richters wie das Krächzen eines Nachtvogels erklang, und faßte die Hand des Verteidigers fester,
– nicht jedesmal beweisen wollte, daß er immer noch imstande ist, all diese verschwitzten Nymphchen zu bumsen, und das stille Spiel der Sinne und des Intellekts vorziehen würde, wie wir und du es tun, dann müßte auch er dir das bestätigen!
Wolf hatte die ganze Zeit über versonnen die Kognakflasche herumgedreht, über deren dunkelgrünes Glas der Widerschein der erlöschenden Flammen hinzuckte, und das Lächeln umspielte immer noch seine Lippen.
– Und was geschieht, fragte er nun, wenn ich Grippe bekomme?
– Du? rief der Verteidiger. Da bekommt eher ein Ochse einen Herzinfarkt!
Im Dämmer leuchtete ein Gebiß auf, als der Staatsanwalt dieses treffende Beispiel seines Freundes würdigte. Wolf aber, ansonsten fast ängstlich auf Konformität bedacht, stimmte in seine Fröhlichkeit nicht ein.
– Ich frage im Ernst, sagte er.
– Im Ernst? fragte der Staatsanwalt, dann will ich dir im Ernst antworten. Wir warten einfach, bis du kuriert bist. Deine Kundschaft wird uns verzeihen, jedenfalls habe ich bis jetzt noch niemanden kennengelernt, der dich bestürmt hätte!
Nun konnte der Verteidiger sich über die Schlagfertigkeit des Freundes freuen.
– Ich hoffe, sagte Wolf, ihr faßt es nicht als impertinente Belehrung auf, wenn ich euch an ein Ereignis erinnere: Im Herbst 1899 blieb plötzlich das Herz des Wiener Bürgers Selinger stehen. Die Geschichte hätte keine Notiz davon genommen, wäre da nicht ein alarmierendes Faktum gewesen: Der kleine Blutstropfen, der die Koronararterie verstopft hatte, brachte es mit sich, daß der damals mächtigste Staat Europas ohne –
fuhr Wolf fort und blickte den Staatsanwalt vielsagend an,
– Scharfrichter dastand. Der Verlust war um so tragischer, als unmittelbar zuvor mehrere Delinquenten das Leben verwirkt hatten und Nichteinhaltung der Frist nach den damaligen pseudohumanitären Gesetzen letztlich zur Umwandlung der Strafe in lebenslänglichen Kerker geführt hätte; außerdem war es kein Geheimnis, daß es eben die zahlreichen Begnadigungen waren, mit denen der senile Kaiser Franz Joseph Selingers Gesundheit unterhöhlt hatte. Zur Erledigung eines der dringlichsten Fälle, der Hinrichtung der Kindsmörderin Juliane Hummel, wurde deshalb zu Neujahr 1900 der wichtigste Anwärter auf das freigewordene Amt, der damals noch legendäre Prager Henker Wohlschläger, berufen. Durch sein Verdienst begann jedoch das eben erst ausgeschlüpfte Jahrhundert, das dem Scharfrichteramt die Achtung des Staates und die Sympathien der Volksmassen wiederzugeben versprach, mit einem –
fuhr Wolf fort und blickte den Verteidiger vielsagend an,
– ungeheuren Skandal. Wohlschläger brachte die sogenannte ›Delinquententoilette‹ mit, wie er sein kompliziertes Riemensystem nannte, buchstäblich ein Geschirr, das der Hummel angelegt wurde, er führte es ihr sogar zwischen den Beinen hindurch! »Sie war«, ich zitiere einen Augenzeugenbericht, »verschnürt wie ein Schlachtopfer, und allein ihr Anblick war eine unerhörte Beleidigung für die Würde der Justiz.« Der eitle Wohlschläger fertigte sie selbst ab, um auch die Wirtschaftlichkeit seiner Erfindung zu dokumentieren, und der Exitus sollte durch das Eigengewicht der Hummel herbeigeführt werden. Dieses genügte jedoch nicht, und so kam es zu der beispiellosen Situation, daß die offene Falltür sowohl das helfende Ruck-Zuck als auch das Erwürgen durch Ziehen an den Beinen verhinderte. »Die Hummel«, ich zitiere aus der damaligen Presse, »erstickte unter gräßlichen Krämpfen, begleitet von unmenschlichem Röcheln, nahezu 45 Minuten lang, so daß viele der amtlichen Zeugen ohnmächtig wurden. Wir nahmen«, ruft der Autor, »nicht an einer Exekution teil, sondern an einer Abschlachtung von Gesetzes wegen!« Wohlschläger mußte mit dem ersten Zug abreisen, und die schwerste Strafe machte ihre schwerste Stunde durch, als die Zensur sogar Artikel freigab, die ihre sofortige Abschaffung verlangten. Glücklicherweise –
fuhr Wolf fort und blickte nunmehr beide vielsagend an,
– war ihr das Glück in diesem schicksalhaften Moment hold, da sich unverhofft der Wiener Cafetier Josef Lang meldete, wohnhaft in Simmering, Geystraße 5, den sein aufgeklärter Vater anno 1868 zur letzten öffentlichen Hinrichtung in Wien mitgenommen hatte. Das schöne Wetter, der Andrang des sonntäglich herausgeputzten Publikums, allüberall Wurstverkäufer, Drehorgelspieler und andere Attraktionen, das feierliche Zeremoniell und vor allem die Hinrichtung des Raubmörders Ratkay als solche, noch durch das klassische Herabstoßen von der hohen Leiter, machten auf den dreizehnjährigen Knaben einen unauslöschlichen Eindruck; er fühlte sich schon damals für diese erhabene Aufgabe vorbestimmt. Als er dann am 27. Februar 1900, als reifer Mann, das Dekret entgegennimmt, das ihn zum k. k. Scharfrichter für »die Erzherzogtümer Österreich ob und unter der Enns, die Herzogtümer Salzburg und Steiermark, die gefürstete Grafschaft Tirol mit Vorarlberg, die Herzogtümer Kärnten und Krain, die Markgrafschaft Görz und Istrien mit Triest, das Herzogtum Schlesien, das Königreich Dalmatien, das Königreich Galizien und Lodomerien mit dem Großherzogtum Krakau sowie das Königreich Kroatien und Slavonien« ernennt, empfindet er die gleiche Last der Verantwortung wie sein Monarch. Und als er am 3. März 1900 zu seiner ersten Amtshandlung, der Hinrichtung des Zigeuners Held antritt, denkt er in erster Linie an die anwesende Sachverständigenkommission, angeführt von Professor Haberda, in dessen Gesicht noch die Todeskrämpfe der Hummel nachzucken. »Ich wünsche, Lang«, hat er am Vorabend kompromißlos zu ihm gesagt, »daß es für ihn in längstens einer Minute erledigt ist!« Die Literatur wimmelt von Schilderungen der letzten Nacht von Verurteilten, jeder Schriftstellerneuling vergießt eine Träne über das aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßene Individuum, aber wo –
rief Wolf aus und blickte visionär vor sich hin,
– ist der neue Shakespeare, der die erste Nacht eines Scharfrichters beschreibt? Wie er mit den Gehilfen unermüdlich bald diesen, bald jenen Griff probt, wie er sich alle berühmten Fehlschläge ins Gedächtnis ruft, zum Beispiel den faux pas von – wiederum! – Prag, wo man einen gewissen Václav Slepička in die Versenkung hinabließ, ohne ihm den Kopf in die Schlinge gesteckt zu haben, so daß er sich beide Beine brach und erst nach erfolgter Heilung gehängt werden konnte. Solche Autoren gibt es nicht, und auch hier muß schließlich der Scharfrichter selbst einspringen, so etwa Lang, der später – ich zitiere nach Dorfer und Zettel – diese klugen Worte schreibt: »Einmal hab ich so ein Buch gelesen, da war der Mensch, wie wenn er durchsichtig wär, aber schön bunt war des, und da war alles drauf abgebildet, auf der einen Seiten die Muskeln, auf der anderen Seiten die Innereien, der Magen, Speiseröhre, Luftröhre und so, richtig schön war des. Da sieht man erst, was der Mensch für ein Meisterwerk is, wie weise die Natur is, daß so ein kompliziert gebauter Mensch auch richtig funktionieren kann. Und dann hab ich denken müssen: Siehst, Peppi, und du, du hast das Recht, die Macht und das Können, dieses Wunderwerk der Natur außer Gang zu setzen.« – Dann bricht also der Morgen an, ein trüber für den Zigeuner Held, aber ein strahlender für Josef Lang, als er vor Professor Haberda hintritt, die Vollstrekkung des Urteils melden und bescheiden hinzufügen darf: »In fünfundvierzig Sekunden.« Nun kann selbst der strenge Haberda nicht anders, als ihm auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: »Bravo, Lang!« Da ahnt er noch nicht, daß Josef Lang wenig später in Rovereto den vierfachen Mörder der Großrubatscher in zweiundvierzig Sekunden abfertigen wird und kurz danach in Lemberg den Theodor Bibierski in glatten vierzig, was auf Jahre hinaus europäischer Rekord bleibt, bevor –
fuhr Wolf mit nicht geringer Bescheidenheit fort,
– eine neue Generation von Scharfrichtern auch diesen Rekord bricht. Ungebrochen ist indessen das Andenken an den Mann, der sich seinen ehrlichen Beruf in sein Messing-Türschild eingravieren ließ und schließlich für den Wiener Gemeinderat kandidierte mit der Empfehlung, er »erfreut sich der Sympathie des ganzen XX. Bezirks und verfügt außerdem über die nötige Zeit«. Diese Geschichte habe ich euch erzählt, Freunde, um euch daran zu erinnern –
sagte Wolf und blickte jetzt dorthin empor, wo von Osten nach Westen langsam, aber unerbittlich die blauschwarze Sommerkarte des Himmels vorüberzog,
– daß der Herzinfarkt auch Scharfrichter nicht verschont. Und sollte er eines schönen Tages bei mir anklopfen, was wird dann aus euren wunderschönen Plänen?
– Da ist ja noch Karli ... sagte der Staatsanwalt verunsichert.
– Karli, sagte Wolf mehr bedauernd als verächtlich, ist ein Typ, der seinen Zug um fünf Jahrhunderte verpaßt hat, den kann ich mir als Provinzhenker vorstellen, der seinen Kunden beim Köpfen eher zu Tode drischt. Nein, nein, dadurch –
fuhr Wolf fort und stand auf, um seinen Worten größeren Nachdruck zu verleihen,
– wird unser Problem nicht aus der Welt geschafft, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, daß dieser Eisberg plötzlich zur Gänze emportaucht. Dann entgleitet vielleicht alles unseren Händen, wenn auch Kreis- und Bezirksjustizbehörden ihren Anteil fordern, und wer soll das alles schaffen? Wollt ihr Henker per Inserat suchen? Was für ein Niveau werden die haben? Und was wird das Ausland dazu sagen?
Dann herrschte Stille, unterbrochen nur vom Rufen eines Käuzchens und dem Gekreisch der Konkubinen des Richters, die ein übers anderemal einen von ihm herbeigeführten Orgasmus vortäuschten. Wolf wußte mit dem Fingerspitzengefühl eines Apothekers, daß jede zusätzliche Silbe die Kraft seiner Mitteilung geschwächt hätte. Er trank noch einmal lange, stellte die leere Flasche zwischen die Stengel des Riedgrases und fügte liebenswürdig hinzu:
– Gute Nacht.
– Warte! rief der Staatsanwalt, genau wie Wolf es vorausgesehen hatte, wenn du schon A gesagt hast, mußt du auch B sagen! Wenn dich der Schlag trifft, dann reißt uns dieser Bengel auch nicht heraus, ich möchte nicht miterleben, wie er das allein schaffen soll!
– Nicht nur Weise, entgegnete Wolf, mit dem Präzisionsgefühl eines Apothekers Ironie verabreichend, sondern auch Scharfrichter fallen nicht vom Himmel. Dem Karli die primitivsten Begriffe etwa aus der Physiologie oder gar der Psychologie beibringen zu wollen, hieße Perlen vor die Säue werfen. Wohingegen dort –
fuhr Wolf fort und deutete mit dem Finger ans andere Ufer des Sees, wo über dem Wald wie leichter Dunst der Lichtschein der nahen Großstadt hing,
– der Junge es vollauf verdient, schon jetzt einen erfahrenen Lehrer zu bekommen, damit er nicht von der Pike auf beginnen muß wie wir.
– Soviel wir wissen, lachte der Verteidiger, hast du von der Laterne auf begonnen!
Die letzte Flamme erlosch, die Feuerstelle gloste matt, und der Mond, aus dem Schloßpark emporgestiegen, glich einem türkischen Richtschwert; selbst in dieser schlechten Beleuchtung war zu sehen, wie Wolf erbleichte.
– Mirda, sagte der Staatsanwalt rasch und grub die Nägel in die Handfläche des Verteidigers, bis dieser schwach aufstöhnte, sei nicht böse, Liebes, aber Späße sind jetzt unangebracht. Wie stellst du –
fuhr der Staatsanwalt an Wolf gewandt fort,
– dir das praktisch vor?
Die Kunst, selbst eine nach Vergeltung schreiende Beleidigung zu schlucken, gehört zum Rüstzeug jener Persönlichkeiten, die entschlossen sind, die Welt zu verbessern. Ohne die unendliche Geduld eines unbekannten spanischen Mönchs, eines talentierten französischen Arztes und eines ruhmreichen amerikanischen Erfinders wäre die Welt bis zum heutigen Tag ohne Garrotte, Guillotine und elektrischen Stuhl. Wolf beherrschte diese Kunst vollendet. Die Stichflamme sengender Wut blieb seinen Gesprächspartnern ebenso verborgen wie das Pulsieren des Blutes unter der Haut. Er stellte sich nur mit eiskalter Wonne vor, daß ihm einmal die launische Frau Historie diese beiden feisten Schlemihle als ansehnliche Pakete zustellen würde, die nicht länger den Duft teurer Parfums um sich verbreiteten, sondern den Gestank von Fäkalien und Harn, jene unsichtbare Flagge, von der Angst am menschlichen Körper gehißt; wer würde es dann einem Scharfrichter von Weltklasse verdenken, wenn er in zwei Fällen zu Experimentierzwecken auf sein barmherziges Ruck-Zuck verzichtete und nicht einmal Schimssas wirkungssicheren, genickbrechenden Knoten anwandte, sondern sie vorsichtig und sacht aufhängte wie Christbaumschmuck, damit sie während der endlosen Sekunden beim leichten Hin- und Herschwanken mit hervorquellenden Augen und rasch anschwellender Zunge, die zwar noch die Luft durchläßt, aber keinen Ton mehr, Zeit fanden, con sordino mit vorübergehend aufgepeitschten Sinnen des kurzen Verweilens am Feuer und des Scherzworts über die Laterne zu gedenken.
– Praktisch, sagte Wolf ebenso liebenswürdig wie vorhin, stelle ich mir vor, daß wir ihn nicht zweimal wöchentlich nach Vereinbarung bestellen, sondern fest verpflichten.
– Und kannst du mir verraten, fragte der Staatsanwalt abweisend, was er den Rest der Woche machen soll?
– Du erinnerst mich, Olda, antwortete Wolf und dosierte mit der Vorsicht eines Apothekers sein Gift, an die Leute, die den Schauspieler fragen, was er tagsüber tut. Vor drei Jahren schien es noch ganz in Ordnung zu sein, daß der oberste Scharfrichter des Staates auf der Lohnliste als Chauffeur fungierte und Vollstreckungen ihm vermittels eines Koeffizienten als Kilometergeld angerechnet wurden. Es war ja euer Gremium, das über die eigene Nasenspitze hinausgesehen und mir den Status eines selbständigen Referenten mit Sonderprämien verliehen hat. Allerdings ändert keine bürokratische Charge etwas daran, daß ich Henker bin und bleibe und mein sogenannter Sekretär Karli mein Gehilfe oder meinetwegen auch Knecht bleibt, denn nur Putzfrauen lassen sich Raumpflegerinnen titulieren, wir aber werden nie jemandem zum Gespött werden. Sagt also auch ihr B und bewilligt mir einen Lehrling, der in keinem Henkerhaus gefehlt hat, denn das Scharfrichteramt ist kein Handwerk wie etwa die Metzgerei, sondern eine Wissenschaft mit eigenen Gesetzen und Zweigen, eigenen Klassikern und Erfindern und nicht zuletzt mit eigener Literatur.
– So etwas wie ›Die Denkwürdigkeiten‹ von Henri Sanson? fragte der Verteidiger beflissen, die habe auch ich gelesen.
– Die Memoiren der französischen Kollegen, sagte Wolf herablassend, und ebenso die tschechischen ›Erinnerungen der Henkersfamilie Mydlář‹ würde ich dem Schimssa nicht weniger verschämt anbieten als einem Philosophiestudenten die Fibel. Schimssas Studienplan, und ich betone gleich –
fuhr Wolf fort, nunmehr völlig Herr der Lage,
– nur auf dem Gebiet der Literatur, wobei ich Jurisprudenz, Anatomie und andere Hauptfächer auslasse, würde anfangs enzyklopädische Werke umfassen, von der grundlegenden Arbeit des Cesare Beccaria ›Über Delikte und Strafen‹ vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum zweibändigen Werk ›Die Strafe‹, Verfasser von Hentig, auf das die gegenwärtige Generation schwört, später eine Reihe von Studien zum Thema, wie etwa ›Die Pfählung‹ von Siegmund Stiassny, Kershaws ›La Guillotine‹ oder Rolphs ›Hanged by the Neck‹, und schließlich wissenschaftlich orientierte und deshalb unerläßliche Schriften wie beispielsweise Schlabows ›Archeologitscheskoje obsledovanije dvuch trupov is balot‹, also ›Die archäologische Untersuchung der zwei Moorleichenfunde‹. Einen selbständigen Studienzweig würde die kritische Analyse jener Bücher bilden, die ich ironisch »Libri anti-henkeri« nenne, verfaßt von moralisch defekten Graphomanen wie Camus und anderen Gegnern der Todesstrafe. Stellvertretend für viele genügt es, die ›Maria Stuart‹ des Herrn Stefan Zweig aufzuschlagen, und schon brodelt einem ein Text entgegen, der amoralisch, beleidigend, dekadent und frech ist, mit einem Wort –
fuhr Wolf fort und kniff die Augen zusammen, um die von seinem fotografischen Gedächtnis projizierte Passage deutlicher zu erkennen,
– jüdisch: »Niemals kann – und hier lügen alle Bücher und Berichte
– die Hinrichtung eines lebenden Menschen romantisch und rein ergreifend sein. Immer wird der Tod durch das Henkerbeil zum gräßlichen Schrecknis und zur niedrigen Schlächterei. Der erste Hieb des Scharfrichters hat schlecht getroffen, nicht durch den Nacken ist er gefahren, sondern stumpf auf das Hinterhaupt. Ein Röcheln, ein Stöhnen bricht erstickt aus dem Munde der Gemarterten, aber nicht laut. Der zweite Schlag fährt tief in den Nacken und läßt das Blut grell aufspritzen. Aber erst der dritte löst das Haupt vom Rumpf. Und abermalige Gräßlichkeit: als der Henker das Haupt an den Haaren aufheben und zeigen will, faßt er nur die Perücke, und das Haupt löst sich los. Wie eine Kegelkugel rollt und poltert es blutüberströmt auf den Bretterboden, und da der Henker es jetzt abermals faßt und aufhebt, erblickt man – gespenstiger Anblick – das einer alten Frau mit eisgrau geschorenem Haar ...
Noch eine Viertelstunde lang zucken konvulsivisch die Lippen, die zu übermenschlich gewaltsam die Angst der Kreatur in sich verpreßt, und die Zähne schlagen gegeneinander ... Und schon wollen inmitten des gelähmten Schweigens die Knechte die dunkle Last wegtragen, da löst ein kleiner Zwischenfall das fahle Entsetzen. Denn im Augenblick, da die Henker den blutüberströmten Rumpf aufheben, um ihn ins Nachbarzimmer zu schaffen, wo er einbalsamiert werden soll, rührt sich etwas unter den Kleidern. Unbemerkt von allen, war ihr kleiner Lieblingshund der Königin nachgeschlichen und hatte sich gleichsam in Angst um ihr Schicksal an ihren Körper gedrückt. Jetzt springt er vor, überströmt und naß von dem vergossenen Blut. Er bellt und beißt und keift und kläfft, er will von der Leiche nicht weichen. Mit Gewalt suchen ihn die Henker wegzureißen. Aber er läßt sich nicht fassen und nicht locken, wild springt er die fremden, großen schwarzen Bestien an, die ihn mit dem Blut seiner geliebten Herrin so brennend –
zitierte Wolf zu Ende und öffnete die Augen,
– verwundet.« Ähnliche Pamphlete, durch Säuberung öffentlicher und Konfiszierung privater Bibliotheken gewonnen, würde mein Schüler studieren, wissenschaftlich widerlegen und zum Schluß –
fuhr Wolf fort, als er spürte, wie sein Enthusiasmus sich auf die beiden übertrug,
– verbrennen, was zur üblichen Sollerfüllung der Scharfrichter gehörte, wodurch die Theorie gewaltlos in die Praxis überginge. Im Lehrplan würde auch Entspannungsliteratur nicht fehlen, sofern der Autor sich und sei es partiell, aber fundiert mit den durchgenommenen Themen befaßt, so etwa die Bibel, wo eine ganze Palette klassischer Hinrichtungsarten recht anständig beschrieben wird. So –
fuhr Wolf fort und mußte sich erstmals nach langer Zeit anstrengen, seine metallische Stimme nicht vor Ergriffenheit beben zu lassen,
– wäre das schmale Profil endgültig überwunden, somit auch der neuralgische Punkt unserer Justiz, und außerdem würden wir einen Beruf, den das Mittelalter kulturlos vor die Stadtmauern verbannte und der auch bei uns keine Publizität genießen darf, im Gegensatz zu jedem Hanswurst –
fuhr Wolf fort und konnte es nicht verhindern, daß zumindest sein abgehärtetes Herz zu hämmern begann,
– vom Theater, wieder dort einreihen, wohin er von Anfang an gehört: in die Familie der humanitären Wissenschaften.
– Mensch, Friedl, sagte der Staatsanwalt fast flüsternd, als ihm die Durchdachtheit, Reichweite und Folgenschwere dieser Konzeption aufging, was du hier vorschlägst, ist eigentlich eine Universität!
Aus dem Schwarm der Perseiden, auch Laurentiustränen genannt, löste sich, vom kosmischen Flug zermürbt, eine Schnuppe und starb, blendenden Glanz versprühend, eines langsamen Todes. Wolf machte sich bewußt, daß dieser widerliche Schwule eben genauso blendend seine fixe Idee formuliert hatte und daß sie nunmehr in Erfüllung gehen würde.
Er hob den rechten Fuß und verlagerte den Schwerpunkt seines Körpers über die Schwelle