Читать книгу Die Henkerin - Pavel Kohout - Страница 22
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ОглавлениеLabel über die Eiswürfel goß, die laut klirrten, was du beginnst, beginne es klug. Diese Burschen haben ein bißchen übertrieben und zahlreiche unserer Probleme auf dem Gewissen. Wer hat sie gezwungen, Stricke zu bescheren wie Ostereier? Auch hier gilt: Weniger wäre mehr gewesen.
Der Sportler Schimssa war von seinem Wochenendhaus herübergelaufen; von dort waren es knappe zwanzig Kilometer, Puls und Atem hatten wieder normale Werte erlangt.
– Wenn ich bedenke, sagte er leise, da er in ihrer Gesellschaft seine Scheu nie loswurde, was für ein Mannsbild der Richter Willi war, dann werde ich ganz melancholisch. Warum hat man damals nicht auch ihn abfertigen lassen? Wer hat etwas davon, wenn er frei ist wie eine abbruchreife Ruine? Wird die junge Generation noch das gleiche Engagement aufbringen, wenn sie sieht, was der Welt Lohn ist? – Ein zahnloser Richter, sagte der Doktor, während er ihm Grapefruitsaft über die Eissplitter goß, die leise knisterten, ist besser als ein kopfloser. Sollten er und die anderen trotz der allgemeinen Empörung im Staatsinteresse als Beweis dafür verschont werden, daß ius regit aut errant, das heißt, daß das Recht regiert, auch wenn es sich irrt –
fuhr der Doktor fort, während er sich in das Grübchen zwischen rechtem Zeigefinger und Daumen eine Prise frisch gemahlenen Pfeffers und ein wenig Salz streute,
– dann mußte dafür gesorgt werden, daß sie nicht gleich an der erstbesten Laterne hängen bleiben, womit ich auf nichts –
sagte der Doktor rasch mit einem um Entschuldigung bittenden Blick auf Wolf,
– anspiele. Man ging also von der wissenschaftlichen Feststellung aus, daß der hervorstechendste Charakterzug unseres Volkes eine Kombination von Neid und Sentimentalität ist. Das bedeutete, alles abzubauen, was das Niveau der sozial schwachen Schichten übersteigt, also Autos unangemessener Marken oder Mätressen unangemessenen Alters. Dadurch wird das Moment des Neides eliminiert und andererseits wohlwollendes Mitgefühl hervorgerufen, wie es bei uns Stürze –
fuhr der Doktor fort, während er ein bißchen frisch ausgepreßten Zitronensaft auf den Pfeffer und das Salz träufelte,
– aller Art begleitet. Die kosmetische Chirurgie, die normalerweise häßliche Personen in schöne verwandelt, funktioniert hier umgekehrt, um den resultierenden Eindruck zu verstärken. Ich möchte wetten, daß die Glatze Ihres Freundes allwöchentlich vom Friseur erneuert wird und daß er sich die Zähne künstlich herausbrechen ließ; mit der schönen Prothese prunkt er nur in speziellen –
fuhr der Doktor fort, während er mit der linken Hand in ein Gläschen weißen Tequila und in ein zweites roten Sangrita eingoß, – Hoteleinrichtungen, wo ähnlich Betroffenen einoder zweimal pro Jahr die vorenthaltenen Genüsse unter dem Deckmantel eines Kuraufenthaltes ersetzt werden. Übrigens, ist Ihnen die Tatsache nicht Antwort genug, daß sein Amt von seiner eigenen Tochter übernommen wurde? Zum Wohl! –
fügte er hinzu, leckte die Mischung aus Zitrone, Pfeffer und Salz vom Handrücken, trank aus beiden Gläsern und mixte das komplizierte mexikanische Getränk auf der Zunge.
– Aber, wandte Schimssa schüchtern ein, Armut und Verkommenheit, wenn auch künstlich, sind eben doch eine Strafe für Diensteifer. Wird die vom Vater belehrte Tochter nicht Laxheit auf ihr Panier schreiben? Steckt nicht gerade darin des Pudels Kern, warum wir kaum noch eine Arbeitsmöglichkeit haben?
– Das Fräulein Tochter, antwortete der Doktor, noch immer die Geschmacks- und Aromamischung am Gaumen feinschmeckerisch auskostend, soll einstweilen ihr Richteramt ruhig wie eine Kindergärtnerin ausüben, weil von ihr aufgrund der internationalen Lage, die diverse Rücksichten erfordert, niemand etwas verlangt. Sobald sie Anweisung erhält, wird sie mit Knast und Strang nur so um sich werfen, bis der Papa vor Stolz platzt, wenn nicht –
fügte der Doktor hinzu, während er eine Zigarre der Marke ›Winston Churchill‹ anbot, die Wolf dankend annahm und Schimssa dankend ablehnte,
– vor Neid.
Schimssa sprang auf, um mit dem Feuerzeug, das er nur zu diesem Zweck gekauft hatte, zunächst ihm und dann Wolf dienlich zu sein. Dabei erkühnte er sich, zu sagen:
Und falls sie nicht will? Die heutigen jungen Leute quasseln dauernd von Gewissen, und Gewalt darf jetzt nicht einmal für eine gute Sache angewendet werden! Wie soll man sie Mores lehren?
– Ein Russe, sagte der Doktor, anständiger Schriftsteller, auch Nobelpreisträger, aber ein so militanter Gegner der ›smjertnoj kaznji‹, daß ich vor Zorn seinen Namen vergessen habe, hat nichtsdestoweniger einen Satz geäußert, der zum fundamentalen Lehrsatz jeder modernen Macht werden sollte: »Früher haben sie uns mit glühenden Eisen gefoltert, jetzt foltern sie uns –
zitierte der Doktor, mit dem glühenden Ende seiner Zigarre die Wörter gleichsam in die Luft einbrennend,
– mit kalter Münze.« Hatte die Generation der Väter die Rolle des eisernen Besens entweder aus ehrlicher Überzeugung auf sich genommen oder aus Angst, daß jeder, der nicht mahlt, selber zermahlen wird, so dürfte die Generation der Söhne und Töchter, die umständehalber weder an etwas glaubt noch etwas fürchtet, dies für ein höheres Gehalt oder niedrigere Steuern auf sich nehmen, für eine größere Wohnung oder kleinere Scherereien wegen des Studiums der Kinder und so ähnlich, worauf es ankommt, ist, daß bei allen Demokratie- und Liberalisierungen die weitblickende Staatsführung sich – wenn sie nicht vorübergehend die Aufmerksamkeit der aufgebrachten Öffentlichkeit darauf lenkt – einen festen Punkt zurückbehält, und dieser ist nichts anderes als –
lächelte der Doktor,
– der Galgen, aber ich will Sie nicht mit Vorträgen langweilen, da wir nach längerer Pause zwei einmalige Streifen zur Verfügung haben – ebenfalls bezeichnend, daß die Zustellung wieder funktioniert! –, die Sie als Experten –
fügte der Doktor hinzu und schnalzte mit den Fingern, das übliche Zeichen für den Vorführer, nunmehr anzufangen,
– gewiß fesseln werden.
Ins Dunkel, wo der Motor des Vorhangs surrte, der die Leinwand enthüllte, schoß eine Lichtgarbe aus der Projektionskabine. Wolf war angenehm gespannt, und da auch der Whisky eben die Nervenzentren erreichte, spürte er plötzlich, wie die Verbitterung der letzten Monate einer gewissen Hoffnung wich. Sie hatten in diesem Vorführraum nicht wenige PF gesehen; die Abkürzung, von manchen Europäern statt des langen »pour féliciter« auf Neujahrsglückwunschkarten geschrieben, kündete ihnen »pönologische Filme« an. Dem Doktor waren offenbar Archive zugänglich, und er führte seinen beiden Freunden alles vor, was für sie von praktischer Bedeutung sein oder theoretische Erwägungen auslösen konnte. Es handelte sich um Aufnahmen höchst unterschiedlichen Niveaus, sowohl in pönologischer als auch in filmischer Hinsicht. Hinter der Kamera hatten meist Amateure gestanden, die überdies heimlich arbeiteten, aus der Aktentasche oder dem Knopfloch, so daß die Filme häufig unter- oder überbelichtet, unscharf und selbstverständlich stumm waren. Ein alter Streifen aus China oder aus Japan, wo ein halbnackter, bezopfter Mann routiniert Soldaten oder Kulis köpfte, die man ihm wie Baumstämme auf einem Holzbock zurechtlegte, war so zeitraffend gedreht, und die Mitwirkenden bewegten sich so geschwind, daß sie sich den Film öfter als Groteske vorführen ließen.
Ungleich trister war es freilich, Amateure vor der Kamera sehen zu müssen. Wie sollte man die Aufnahmen aus dem Kongo vergessen, wo eine Seele von Mensch seinen Landsleuten nicht nur mit unappetitlicher Trägheit den Kopf abschnitt, sondern auch mit einer zahnlückigen Säge und unbekümmert darum, wie diejenigen aussehen würden, die sie festhielten. Daran hatte Wolf erkannt, daß die Entwicklungsländer selbst in diesem Bereich Hilfe brauchten. Das schwankende Niveau änderte also wenig daran, daß die Vorführungen bedeutende Impulse mit sich brachten. Sie hatten die saubere und präzise, vielleicht sogar allzu pedantische Arbeit der alliierten Kollegen in Filmen der Kennzeichnung TS/NT (Top Secret – Nuremberg Trial) bewundert, hatten mit einem odentlichen Schluck das »Werk« eines anonymen Pfuschers von jenseits der Pyrenäen hinunterspülen müssen, der mit blödem Lächeln hinter seinem notabene unverhüllten Kunden stand und die Schraube der Garrotte millimeterweise zuzog, um länger gefilmt zu werden, während dem vor ihm Sitzenden die Zunge schon bis zum Bauch herabbaumelte wie eine Krawatte. Sie hatten die vieldiskutierte Elektrokution der Alice Ferris gesehen, die bis zu 25 000 Volt aushielt und sich dann jäh in eine Negerin verwandelte, sowie die berühmte öffentliche Hinrichtung des deutschen Primators von Prag, Pfitzner, wobei Tausende von Tschechen ihre Kinder auf die Schultern hoben, damit sie die Wiedergeburt des Humanismus mit eigenen Augen sehen konnten. Auch jetzt warteten sie interessiert, womit sie überrascht werden sollten.
Auf der Leinwand erschien das Emblem Die deutsche wochenschau.
– Das hier, sagte der Doktor, und in seiner Stimme schwang Entdeckerstolz mit, ist eine stumme Kopie, was ihren ungeheuren Wert nicht schmälert. Das Original war höchstwahrscheinlich mit einem Kommentar des Reichsfilmintendanten Fritz Hippler unterlegt, der den Streifen auf Befehl des Führers herstellen ließ.
Der Vorspann wurde von einer Einstellung abgelöst, die ein Tischchen mit einer Flasche Kognak und mehreren Gläsern ins Bild brachte.
– Zeit des Geschehens, fuhr der Doktor fort, und in seiner Stimme schwang Erzählerfreude mit, August 1944, Schauplatz des Geschehens auf den ersten Blick eine Nische in einer gemütlichen Weinstube und –
fuhr der Doktor fort, während die Einstellung mit dem Tischchen von der Einstellung auf eine Deckenlaufschiene mit beweglichen Haken abgelöst wurde,
– die Idylle eines Fleischerladens, in Wirklichkeit jedoch die zentrale Vollstreckungskammer des Berliner Zuchthauses Plötzensee.
Die Einstellung mit den Haken wurde von der Einstellung auf eine kleine Tür abgelöst, durch die mehrere Männer in Talar, Uniform oder Zivilkleidung eintraten, der Kamera gegenüber stehenblieben, den rechten Arm vorstreckten und etwas riefen.
– Heil Hitler! rief der Doktor mit dem Pathos der Vertreter von Partei, Staat und Wehrmacht, die er synchronisierte, während diese sich Kognak einschenkten, mit den Gläsern der Kamera zuprosteten, die Hacken zusammenschlugen und ex tranken – nichts sonst konnten die Erwählten rufen, denen es oblag, den Schlußpunkt hinter das Attentat vom 20. Juli zu setzen, und zwar im Bewußtsein, daß der Führer in seinem Vorführraum noch am selbigen Abend ihr Bemühen würdigen würde. Schließlich war es seine schöpferische Idee, die er – siehe ›Ein Drama des Gewissens‹, Herder Bücherei, Heft 96 – in seinem Befehl an den Scharfrichter zum Ausdruck gebracht hatte: »Ich will, daß sie erhängt werden, aufgehängt wie Schlachtvieh!«
Die Männer auf der Leinwand sahen sich plötzlich um. Der rasche Kameraschwenk erreichte die Tür gerade noch rechtzeitig, um den nackten Mann mittleren Alters zu erfassen, der, von Aufsehern angetrieben, zur Tür hereinstolperte, die Hände mit Draht am Körper festgebunden.
– Der fehlende Kommentar, fuhr der Doktor, schon wieder sachlich, fort, macht es uns leider unmöglich, den Namen dieses Helden zu erfahren –
fuhr der Doktor fort, sich auf den Zivilisten beziehend, der den Nackten mit einem Griff packte, wodurch er sich augenblicklich als Scharfrichter mit großer Praxis verriet,
– aber seine Leistung errichtet ihm ein Denkmal, dauerhafter denn Erz.
Wolf und Schimssa wußten seit den ersten Metern schon selbst, daß sie die Ehre mit einem wirklichen Künstler hatten, den sie sich nicht zum Konkurrenten gewünscht hätten. Wie ein Zauberer knüpfte er am Hanfseil die Trag- und die Würgeschlinge, wie ein Dirigent gab er seinen Gehilfen das Zeichen zum Einsatz, den ersten auf den Schemel zu heben und gleichzeitig die Schlingen am Haken und am Hals zu befestigen, und schließlich begann er wie ein Bildhauer dessen Totenmaske zu modellieren, indem er mit der Präzision eines Automaten den Schemel millimeterweise umkippte, damit der Strang das Gewicht des Körpers grammweise übernahm und der Kunde ohne Bekleidung und Kapuze gezwungen war, dem prominenten Betrachter dieses Films sein Ende von A bis Z vorzuführen, einschließlich der physiologischen Reaktionen, die es ermöglichten, den exakten Moment des Abgefertigtseins mit dem bloßen Auge zu bestimmen. Dann stemmte der Vollstrecker sich einfach mit seinem ganzen Gewicht gegen den Abgefertigten und sandte ihn mitsamt dem Haken über die Laufschiene zur anderen Seite des Raumes. Darauf trank er ein Gläschen Kognak, das ihm ein jüngerer Gehilfe reichte, und spitzte die Lippen, wobei der Doktor zur Erklärung einen Pfiff ausstieß; der nackte zweite wurde zur Tür hereingetrieben. Mit dem Feingefühl eines Fernsehreporters, der weiß, wann er dem Zuschauer soufflieren und wann er das Bild sprechen lassen muß, enthielt der Doktor sich nun des Kommentars. Nur das Surren des Vorführgeräts untermalte das restliche, in einer einzigen durchgehenden Einstellung gefilmte Schauspiel. Wolf und Schimssa, die selbst einmal einen Kandidaten hatten zweimal bearbeiten müssen, konnten deshalb nicht umhin, im Geiste den Hut vor der Perfektion dieses Trios zu lüften. Mit unerschöpflichem Humor – wie schade, daß es ihnen ohne Ton verwehrt blieb, die Scherze zu würdigen, die auch die Zeugen erheiterten – sorgte der Chef dafür, daß Gesicht um Gesicht in fast gleichen Intervallen sämtliche Stadien des Erstickens durchlief. Penis um Penis hob sich, um dem Leben den letzten Gruß zu entbieten, und sobald er erschlafft vom Exitus kündete, wurde sein Besitzer wie ein Grubenhund die Laufschiene entlanggeschickt, bis er an den Vorgänger stieß. Jede Nummer endete mit einem Gläschen Kognak, dabei fiel die nächstfolgende keineswegs langsamer oder nachlässiger aus. Was Wunder, daß Wolf und Schimssa, aber auch der Doktor, der den Streifen schon kannte, das erlebten, was dem Publikum wirklich großer Konzerte zu widerfahren pflegt: Sie hatten den Eindruck, es ginge weiter, obwohl das letzte Bild mit den acht Stück hängenden menschlichen Schlachtviehs, von den Gehilfen rasch seitlich zur Kamera gedreht, damit sie dem Führer nicht die hervorgequollene Zunge herausstreckten oder gar den bemachten Hintern entgegenreckten, schon längst erloschen war, und nur die weiße Fläche vor ihnen flimmerte.
– Acht, sagte der Doktor endlich, während er ihnen das Leuchtzifferblatt seiner Armbandstoppuhr vor Augen hielt, Strangulationen, und alle finden in einer Kassette Platz! Allein das beweist, daß die einzelnen Nummern durchschnittlich nicht dreißig Minuten, wie jeder annehmen würde, sondern dreißig Sekunden gedauert haben. Wenn wir nicht wüßten, daß für diese Show eine ganz brutale, langwierige Schlächterei vorgeschrieben war, so erschiene mir diese rasche Art von »slow hanging« als ein riskantes Spiel und all diese Obszönitäten als dessen unumgänglicher Bestandteil; der Mann war ein Fan seiner Kunden, wie einst Ihr Favorit Mydlář, und falls die Archive seinen Namen nicht preisgeben, verdient er es, nach dem Vorbild großer Persönlichkeiten der bildenden Kunst, in die Lehrbücher einzugehen als unbekannter –
fügte der Doktor hastig hinzu, als auf der Leinwand ein Emblem mit den Buchstaben I.R.T.C. erschien,
– Meister, aber heben wir uns die Bewertung bis zum Schluß auf, denn die Video-Aufzeichnung aus Bagdad ist ein abschrekkendes Pendant zum vorhergehenden Streifen.
Der Vorspann wurde von einer Einstellung abgelöst, die drei Stühle von unterschiedlichem Alter, Ursprung und Zweck ins Bild brachte.
– Zeit des Geschehens, sagte der Doktor, und in seiner Stimme schwang die Erregung des Fachmanns mit, Winter 1963, Schauplatz des Geschehens auf den ersten Blick eine Dekoration für Ionescos ›Stühle‹ oder –
fuhr der Doktor fort, während die Einstellung mit den Stühlen von der Einstellung auf einige Notenpulte abgelöst wurde, auf denen Maschinenpistolen von unterschiedlichem Kaliber und unterschiedlicher Fabrikation lagen,
– ein anderes Stück eines anderen absurden Autors, in Wirklichkeit jedoch das Musikaufnahmestudio der Iraq Radio Television Corporation.
Die Einstellung mit den Pulten wurde von einer Einstellung auf eine Gruppe von Männern in Militäruniformen abgelöst, die sich zwischen abgelegten Instrumenten hindurchwanden, über Kabelstränge stolperten, der Kamera gegenüber stehenblieben, die Hacken zusammenschlugen und einen Schrei ausstießen.
– Sieg! rief der Doktor gleichzeitig, während die Männer aus dem Bild gingen, bis auf einen, der nervös begann, einen Text in kaum verständlich kehliger Sprache in die Kamera zu verlesen. Was sonst konnten diese eben berufenen Revolutionsführer rufen, denen es oblag, die frisch abberufenen Revolutionsführer kaltzumachen, und zwar in dem Bewußtsein; daß das ganze Volk dank des Fernsehens im selben Moment ihr Heldentum würdigte.
Der Mann auf der Leinwand hatte ausgeredet und blickte seitwärts. Der rasche Kameraschwenk erreichte die Stühle: Dort waren inzwischen drei gedunsene Männer in zerrissener Uniform mit elektrischem Leitungsdraht festgezurrt worden; ihre Augen, zwischen Striemen eingesunken wie Bergseen, waren offen, schienen aber ins Jenseits zu blicken.
– Das soeben verlesene Urteil, fuhr der Doktor fort, und in seiner Stimme schwang wieder die Nüchternheit des Historikers mit, gibt uns die Möglichkeit, zu identifizieren, »who is who«, so daß wir uns mit den Zuschauern der Direktübertragung freuen dürfen, auskosten und vergleichen zu können, wie sich der große und einzige Führer der irakischen Revolution Abd Al Karim Kasim, sein berühmter Mitkämpfer, Präsident des höchsten Militärgerichtshofs, Oberst Mahdavi, und der hervorragende Soldat und Patriot, Kommandeur der Operationstruppen, Scheich Taha, mit ihrer Hinrichtung abfinden. Indes, der Mensch denkt, und irgendein Trottel lenkt!
Ein Geräusch ertönte, das wie Osterrasseln klang. Die drei Männer stützten das Kinn aufs Schlüsselbein. Wäre das verspätete Projektil nicht gewesen, das Tahas Schädel durchschlug, so daß Blut hervorsprudelte wie ein Rinnsal im Rasen, dann hätten selbst Wolf und Schimssa nicht begriffen, was da eigentlich geschehen war.
– Eine derartige buchstäblich historische Gelegenheit zu haben und sie dann so, mit Verlaub, rief der Doktor, und in seiner Stimme schwang die Empörung des betrogenen Fans mit, zu verscheißen! Alle auf einmal abzufertigen, ohne Kommando oder wenigstens einen Hinweis des Ansagers, sich die Überblendung auf das Erschießungspeloton entgehen zu lassen, sich ein so attraktives Milieu auszudenken und sie dann anzuschnallen, daß sie nicht einmal zucken, auch den Ton durch schlecht eingestellte Mikrophone zu verhunzen und den Trick nicht anzuwenden, ohne den heutzutage nicht einmal die Übertragung des Fußballspiels AC Dunghausen gegen FC Katzenhofen auskommt, die Wiederholung in –
fuhr der Doktor fort, in den Lichtkegel über seinem Kopf die senkrecht aufragende gestreckte Rechte und die waagerecht darangelegte Linke hochhaltend, um vermittels des Schattenkreuzes auf der Leinwand dem Vorführer mitzuteilen, er sei entlassen,
– Zeitlupe, das ist eine skandalöse Unterschätzung sowohl des Mediums Fernsehen als auch des Exekutionswesens. Wen nimmt es dann wunder, daß dieses schöpferische Experiment nie mehr wiederholt worden ist, obwohl weltumspannende Fernsehgesellschaften gleichzeitig ein Heidengeld für alle möglichen künstlerischen Surrogate zahlen wie etwa die Guillotinage in Lelouchs Film ›La vie, l’amour, la mort‹. Womit –
fuhr der Doktor fort und schenkte Wolf noch einen Whisky ein,
– wir bei dem Paradoxon angelangt wären, daß das Prachtwerk der Filmproduzenten, das Rekordeinnahmen erzielen und sämtliche Preise kassieren würde, unter sieben Siegeln liegt, während ein dilettantisches Machwerk vermittels anderer Verleihe um die Welt geht. Welches Wasser auf die Mühlen all jener, die mit ihrem Geschrei über die Wirkungslosigkeit der Todesstrafe dauernd die Luft verpesten und auf diese Weise niedrigste Triebe von der Kette lassen, die oftmals zu ihrem Verbot führen, was –
fuhr der Doktor fort und schenkte Schimssa noch einen Saft ein,
– uns summa summarum verdrießen kann, aber nicht deprimieren darf, wenn wir erst einmal begriffen haben, daß hier gemeinsam mit Irrtümern etwas völlig Neues entsteht, das uns einmal genauso beeindrucken wird wie das erste Auto oder das erste Grammophon!
Stille trat ein, in der nur der Motor des Vorhangs ertönte, der die Leinwand wieder verhüllte. Der Doktor schaute jedoch noch immer vor sich hin, wie gebannt von einem Anblick, der den anderen verborgen blieb.
– Aber, wandte Wolf ein, was vermögen ein paar vereinzelte Raufbolde in einer Zeit, in der in Europa das Gespenst des Humanismus umgeht? Was vermögen aufgeklärte, aber isolierte Eliten, wenn kein Jahr vergeht, ohne daß wieder eine Regierung dem moralischen Terror von Schriftstellern und anderen deklassierten Elementen nachgibt und die Top-Strafe abschafft, obwohl gerade sie die treibende Kraft der Geschichte ist und ohne sie selbst die fortgeschrittensten Nationen noch wie die Affen auf den Bäumen hocken würden?
– Nur nicht, der Doktor erwachte zum Leben, so daß aus dem meditierenden Philosophen wieder der begeisterte Diskutierer und unermüdliche Organisator wurde, das Kontinuitätsbewußtsein verlieren, also vor allem nicht den Glauben an die erneuernde Kraft unverdorbener Kommunen! Was tut’s, daß ein paar degenerierte Regierungen ihre besten Scharfrichter zu Frührentnern machen, wenn gleichzeitig die neue Regierung eines wenig entwickelten, jedoch offensichtlich progressiven Landes ihre Vorgänger im Fernsehen hinrichtet? Wenn eine andere Regierung innerhalb eines noch weniger entwickelten, aber offensichtlich progressiveren Archipels eine Million schuldbeladener Bürger auf einen Schlag hinmachen läßt, wenngleich, zugegeben, auf ziemlich primitive Weise nach dem System »kill as kill can«? Siehe, ex oriente lux, das die europäische Finsternis erhellt. Und wir sind verpflichtet, schon heute alles zu tun, um es mit unseren Erfahrungen für weitere Aktionen von morgen zu kultivieren!
– Wie, fragte Wolf verständnislos, können wir in dieser Misere, da wir selbst auf dem letzten Loch pfeifen, die Verhältnisse am anderen Ende der Welt verbessern?
– Bier, sagte der Doktor lächelnd.
Wolf und Schimssa schauten ihn voll unverhohlener Befürchtung an.
– Bier, wiederholte der Doktor mit ausgeglichener Stimme, die bewies, daß er nicht an Geistesgestörtheit litt und ihnen weiterhin erhalten bleiben würde, war jahrhundertelang das traditionelle Erzeugnis zweier europäischer Regionen. Ist es gegenwärtig ein Getränk, das Buschmänner wie Eskimos trinken, dann keineswegs durch Verdienst irgendwelcher Regierungen oder der UNO, sondern einiger böhmischer und bayerischer Bierbrauer, die ihre Liebe zum Bier, ihr Talent und ihre Kräfte in den Dienst der durstigen Menschheit gestellt haben. Na schön, Sie haben neuerdings weniger Kunden. Dafür um so mehr Zeit und Energie! Nun denn: Weiht beides einstweilen dem großen Werk der Propagierung! Wir brüsten uns mit Landsleuten, die unser Glas oder unsere Käselaibchen in der Welt berühmt gemacht haben. Aber unsere Heimat ist vor allem eine Wiege der Pädagogik. Warum sollten es nicht abermals unsere Leute sein, von uns in fachlicher und ideeller Hinsicht präpariert, nach deren Know-how die Führer schwarzer, gelber und vielleicht auch gesprenkelter Revolutionen auf allen Kontinenten rufen werden! Wer will uns heute noch ein Volk von Musikanten nennen, da Musikfestivals in jedem, mit Verlaub –
rief der Doktor, und in seiner Stimme schwang der Enthusiasmus des unerschütterlichen Parteigängers mit,
– Scheißloch veranstaltet werden? Warum soll man uns nicht das Volk der geschicktesten, gebildetsten und humansten Scharfrichter nennen?
– Aber da, flüsterte Wolf und mußte erstmals nach vielen Jahren dagegen ankämpfen, daß seine metallische Stimme nicht vor Aufregung versagte, müßten wir eine Schule eröffnen ...
– Na und, fragte der Doktor, als überreichte er ihnen bereits die Schlüssel zum neuen Schulgebäude,