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Klasse. Er spürte Schimssas ungeduldigen Atem hinter dem Rücken, wollte jedoch den Zauber des Augenblicks nicht zerstören. Er sah sie an, während sie noch immer Lízinka anschauten, ergriffen, erregt oder zumindest verwirrt wie jeder, der sie zum erstenmal erblickte.

František empfand seine Unförmigkeit geradezu physisch und schämte sich für die geflickten Jeans, mit denen er bislang geprahlt hatte. Den Zwillingen ging plötzlich auf, daß vollkommene Ähnlichkeit kein Vorteil ist, sondern ein Nachteil, der sie beide der Individualität beraubte. Albert sackte unter der Last seines Buckels zusammen wie schon lange nicht mehr; er begriff, daß Muskeln zwar Respekt, aber keine Liebe einflößen. Simon war weder mit Intelligenz noch mit Gefühl gesegnet, doch sein animalischer Instinkt sagte ihm, daß er, sofern dies wirklich kein Engel war, etwas ganz Außergewöhnliches vor Augen hatte. Und Richard erkannte sofort nach Gewahrwerden seines Errötens, daß er sich verliebt hatte.

Dann räusperte Schimssa sich zurechtweisend, und alle, einschließlich des Mädchens, schauten zur Tür. Sie erblickten den majestätischen Professor und den sehnigen Dozenten – beide hatten das karminrote Sakko gewählt, um durch das Staatswappen die Bedeutsamkeit des Aktes zu unterstreichen – und dahinter Karli im blauen Kittel des Schwunt, das hübsch eingebundene Klassenbuch in den Händen. Die zukünftigen Schüler beobachteten neugierig die künftigen Lehrer, die die meisten von ihnen nur bei der Aufnahmeprüfung gesehen hatten, und in ihren Augen, den achthabenden und den vertrauensvollen, standen deutlich lesbar die Fragen: Wer seid ihr? Wie werdet ihr sein? Was werdet ihr mit uns machen?

Ein Pedant und Perfektionist von Wolfs Format überließ einen Moment wie diesen natürlich nicht dem Zufall. Er hatte die Eröffnungsrede nicht nur schriftlich fixiert, sondern auch auswendig gelernt, um zu demonstrieren, welche Bedeutung hier selbständigem und spontanem Denken beigemessen werden würde. Da die Einführung in Plan und Chiffren sowie die Wahl des Klassensprechers Schimssa obliegen sollten, konnte er sich auf Grundsätzliches konzentrieren. Mit einigen suggestiven Sätzen, die an Profundität die entsprechenden Passagen de Maistres überboten, gedachte er ein allgemeines Porträt des Mannes zu skizzieren (»aus dessen Rippe«, wie es im Text geistreich hieß und zu Lízinka gesagt werden sollte, »erst heute die Frau erschaffen wurde»), der aus der dunklen Prähistorie in die Menschheitsgeschichte eintritt und hier wie dort ungeachtet seiner oft demütigenden Stellung zum wahren Gebieter (im Text treffend auf die etymologische Verwandtschaft zwischen den Wörtern »Exekution« und »Exekutive« hingewiesen) über menschliches Leben zu werden, da er es als einziger legal nehmen durfte. (Im Text eine großartige Passage über Herrscher, die zu Unrecht als Henker bezeichnet wurden, während ihren Henkern niemals das Prädikat Herrscher zuerkannt worden war.) Dann wollte er zum Metier als solchem übergehen. Um nachzuweisen, daß es sich hierbei mehr um Kunst als um Handwerk handelte und daß eine phantasievoll durchgeführte Vollstreckung auch die Wertschätzung des Kunden erlangt, hatte er die faszinierende Schilderung aus den Memoiren der Familie Sanson betreffs François Robert Damiens aufgenommen, der am 28. März 1757 wegen eines Attentats auf König Ludwig XV. auf dem Grève-Platz hingerichtet worden war.

»Sein Arm wurde auf einem Block derartig festgelegt, daß das Handgelenk über die letzte Planke der Plattform hinausreichte. Gabriel Sanson näherte sich mit der Kohlenpfanne. Als Damiens die bläuliche Flamme sein Fleisch erreichen fühlte, stieß er einen schrecklichen Schrei aus und biß in seine Fesseln. Als er erste Schmerz vorüber war, hob er den Kopf wieder und sah zu, wie seine Hand abbrannte, ohne seinen Schmerz auf eine andere Weise als durch das Knirschen seiner Zähne, die man klappern hörte, kundzugeben. Dieser erste Teil der Strafvollstreckung dauerte drei Minuten. Dann begann der Knecht André Legris Arme, Brust und Schenkel des Delinquenten mit der Zange zu reißen; jedesmal riß dieses fürchterliche Feuereisen ein Stück zuckenden Fleisches heraus, und Legris goß dann in die klaffende Wunde bald kochendes Öl, bald brennendes Harz, bald glühenden Schwefel oder geschmolzenes Blei. Man sah nun etwas, was die Sprache zu beschreiben unfähig ist, was der menschliche Geist kaum fassen kann, etwas Höllisches, was ich nur die Trunkenheit des Schmerzes nennen kann. Damiens, dessen Augen unverhältnismäßig weit aus ihren Höhlen getreten waren, dessen Haare sich sträubten und dessen Lippen sich fest ineinandergebissen hatten, verspottete die Henker, verachtete ihre Torturen und verlangte nach neuen Leiden. Als sein Fleisch unter den glühenden Flüssigkeiten aufzischte, mischte sich seine Stimme mit diesem häßlichen Ton, und diese Stimme, die nichts Menschliches mehr hatte, brüllte: ›Noch mehr! Noch mehr!‹ Und doch waren dies nur die Vorläufer der Hinrichtung. Man erhob Damiens von der Plattform und legte ihn auf ein Gestell, das drei Fuß Höhe hatte und ein Andreaskreuz bildete, dann befestigte man die Ziehstränge eines Pferdes an jedem seiner Glieder. Je ein Knecht hatte die Zügel eines jeden Pferdes ergriffen, ein anderer stand hinter jedem der vier Tiere mit der Peitsche in der Hand. Charles Henri Sanson stand auf dem Schafott, so daß er alle seine Leute überblicken konnte. Auf sein Signal setzte sich dieses schreckliche Viergespann in Bewegung. Die Anstrengung war ungeheuer, eines der Pferde stürzte auf das Pflaster nieder, aber die Muskeln und Sehnen der menschlichen Maschine hatten dieser furchtbaren Erschütterung widerstanden. Dreimal zogen die Pferde, durch Geschrei und Peitsche angetrieben, mit aller Kraft an, und dreimal riß sie der Widerstand zurück. Man bemerkte nur, daß die Arme und Beine des Delinquenten sich unverhältnismäßig verlängerten, aber er lebte immer noch, und man hörte seine Atemzüge, röchelnd wie der Blasebalg einer Schmiede. Die Scharfrichter waren bestürzt; der Pfarrer von Saint-Paul wurde ohnmächtig, der Gerichtsschreiber verbarg sein Gesicht in seinem Gewand, und in der Volksmenge vernahm man ein dumpfes Murmeln, wie der Vorläufer eines Sturmes. Als darauf Herr Boyer, der Wundarzt, nach dem Stadthaus hingeeilt war und den Richtern angekündigt hatte, daß die Zerreißung nicht würde stattfinden können, wenn man den Anstrengungen der Pferde nicht durch Zerschneiden der großen Sehnenstränge zu Hilfe käme, erfolgte die Genehmigung dazu. Man hatte kein Messer zur Stelle; André Legris hieb also mit der Axt in die Verbindungen der Arme und Schenkel des Unglücklichen. Fast in demselben Augenblick wurden die Pferde wieder angetrieben; ein Schenkel löste sich zuerst, dann der andere, dann ein Arm. Damiens atmete noch immer. Endlich, als die Pferde noch an dem einzigen gebliebenen Glied rissen, öffneten sich seine Lider, und seine Augen kehrten sich gen Himmel; der unförmige Rumpf war zum Sterben gelangt.«

Im Kommentar forderte Wolf die Schüler auf, die Beanspruchung und Mühsal bei der geschilderten Vollstreckung zu beachten und in der Annahme, die heutigen Exekutionen seien voll mechanisiert, nicht die physische Kondition zu vernachlässigen. Die Gesellschaft, sagte er, spare zwar nicht an Mitteln, um auch die Vollstrecker die Früchte der Technik genießen zu lassen, doch ein qualitativ noch so hochwertiger Strick und ein noch so durchdacht gestalteter »Aufhänger« ändere wenig an der Tatsache, daß der Kunde in der Regel aufsässig sei. (Im Text lapidar: »Der Henker siegt, aber es gibt Murks!«) Von da ab steuerte Wolf konkret Stellung und Aufgabe der Vollstrecker in der Welt im allgemeinen und in unserer Gesellschaft im besonderen an. Er führte aus, der Staat nehme sich ihrer sowohl während der produktiven Jahre an (Geheimhaltung, Prämien – das sogenannte »Halsgeld«, Erholung, Unfallversicherung), als auch im Alter (amtliche Namensänderung und besondere Rente, aus dem Halsgeld errechnet). Zum Schluß wollte Wolf an seine ersten Schüler appellieren, sich klarzumachen, daß sie durch Ablegen des Eides (einem Pendant zum hippokratischen), der sie verpflichte, jeden angelieferten Kunden ohne Ansehen von Hautfarbe, Sprache, Glaubensbekenntnis, Überzeugung und Position zu exekutieren, zu Hütern der besten Traditionen des Metiers werden würden, das sie aus schöpferischer Eigeninitiative zu neuer Blüte bringen sollten. Mit der Aufforderung, niemals zu vergessen, daß sie Vollstrecker neuen Typs seien, die der ganzen, bislang geteilten Welt eine lichte Perspektive zu geben hatten, schloß der Text.

Es war eine weise, gescheite, eindringliche und wirkungsvolle Rede. Trotzdem wurde sie nicht gehalten.

Er stand ihnen gegenüber, keines Wortes fähig, plötzlich wie von der Anstrengung des langen Weges ereilt, der damals, ja, er gestand es sich ehrlich ein, unter der Laterne mit dem schmorenden Körper begonnen hatte, und gleich darauf übermannte ihn – der unbewegt blieb, wenn er weinenden Schönen das Genick brach, Rührung, weil er sie zum erstenmal alle zusammen sah, nicht länger nur sieben unbekannte und unbedeutende Geschöpfe mit unterschiedlich banalem Schicksal, sondern jetzt schon seine Schule, eine Tat, die ihn endlich überleben würde, da den Zeugen der anderen – undankbare Kehrseite des Berufs! – seine eigene Hand das Lebenslicht ausgeknipst hatte; und da bedeutete ihnen Wolf, ohne Schimssas Befremden zu beachten, ihre Plätze einzunehmen.

– So, sagte er ungewohnt freundlich, fast zärtlich, während er Schimssa ein Zeichen gab, sogleich an die organisatorischen Dinge heranzugehen, so –

wiederholte er und räusperte sich seinerseits, um ihnen allen zu verbergen, daß die Programmänderung auf seine Ergriffenheit zurückging,

– Kinder, packen wir’s

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