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Lízinka Tachecí.

Der Zufall, der auf dem Welttheater und im privaten Bereich so oft Regie führt, war auch der Urheber einer Begegnung, die viele Jahre nach dem Erlöschen des nächtlichen Lagerfeuers vor dem Jagdschlößchen stattfand. Die Kunden, damals von Wolf am Vorabend exekutiert, waren längst für unschuldig befunden und posthum rehabilitiert worden. Falls er zu Recht erwartet hatte, sich auch jene vornehmen zu dürfen, die den Irrtum verschuldet hatten, so wurde er schmerzlich enttäuscht; sie hatten sich einfach aus dem Staub gemacht, und niemand – höchstens die Hinterbliebenen – forschten ihrem Verbleib nach. Die Welt – wie auch Meldungen aus dem Ausland vermuten ließen – war mit einemmal geradezu pedantisch engstirnig, von der Todesstrafe wurde nachgerade im gleichen Ton gesprochen wie von Geschlechtskrankheiten; da mußte einer schon Weib und Kinder zu Tode prügeln und deshalb unter der arbeitenden Bevölkerung des Bezirks einen Aufruhr entfesseln, damit man ihm widerstrebend die Hanfkrawatte verordnete. Wolf, Schimssa und Karli arbeiteten mitunter nur einmal im Quartal, und daß sie ihren Platz im System weiterhin behaupten konnten, verdankten sie ausschließlich der Unterstützung geheimer Sympathisanten im Justiz- und im Polizeiapparat. Aber wie lange noch? Vor Augen stand ihnen der eben erfolgte Rücktritt von Albert Pierrepoint, der einst mit vierundzwanzig Jahren nach seinem Vater und seinem Onkel königlicher Scharfrichter von Großbritannien geworden war. Obwohl er 433 Kunden und 17 Kundinnen auf dem Konto hatte – davon siebenundzwanzig an einem einzigen Tag abgefertigte Kriegsverbrecher –, mußte er mit seiner Demission einer schmählichen Entlassung im Gefolge des geplanten Gesetzes über die Abschaffung der Todesstrafe zuvorkommen. Es ist deprimierend, lesen zu müssen, wie dieser Gigant, der »lächelnde Gentleman«, der die Zigarre nur während einer Vollstrekkung weggelegt und auch dem achtfachen »Säuremörder« John Haigh das Genick gebrochen hatte, plötzlich eifrig verkündete: »Die Todesstrafe schreckt niemanden ab«, und »die innere Stimme, eine Stimme von oben, die mir einst gebot, diese Arbeit zu verrichten, sagt mir nun – genug!«

Über all dies sann Wolf in der Straßenbahn nach, die ihn zu einem der treuesten Freunde fuhr. Wolf kannte weder dessen Beruf noch richtigen Namen, doch daß er seit Jahren mit Sondergenehmigung indes ohne Sonderauftrag, immer wieder auf dem Hängeboden erschien, zeugte von der Wichtigkeit und Stabilität seiner Position. Eine von Wolfs Maximen lautete, nie Dingen nachzuforschen, die geheim bleiben wollten; seine Hand hatte schon so manchen Hals stranguliert, dessen Besitzer zuviel gesprochen hatte. Privat vermutete er in dem von allen ›Doktor‹ genannten Mann den Sekretär einer bedeutenden Persönlichkeit, und somit bedeutender als diese, denn Persönlichkeiten lösten einander damals so häufig ab wie die Figuren einer Turmuhr, während er blieb. Oft verschafften sich durch Protektion oder Bestechung potentielle Nekrophile Zutritt zu den Vollstreckungen. Wolf hatte begonnen, den Doktor in anderem Licht zu sehen, als dieser einmal an ihn herangetreten war.

– Wissen Sie, Meister, hatte er zu Wolf gesagt, ich bin für den Fortschritt und deshalb ein Anhänger der reinen Strangulation; Schimssas Schlinge kommt meiner Ansicht nach eine ebenso elementare Bedeutung zu wie einst der Dampfmaschine im Verkehrswesen. Aber Ihr Ruck-Zuck, das ist schlankweg etwas so Einfaches und Geniales wie das Rad selbst.

Solche Rede konnte freilich nicht unerwidert bleiben. Wann immer der Doktor erschien, durften die Kunden sicher sein, von Wolf persönlich bedient zu werden und rascher abgefertigt zu sein, als sie gewahr wurden, wie ihnen geschah. Der Doktor geizte nicht mit Bewunderung, und die Beziehung der beiden Männer vertiefte sich. Schimssa, mit Leib und Seele dem Sport ergeben, hatte glücklicherweise eingesehen, daß es, wie im Fußball, auch bei den Hängern keine Schande ist, die Ersatzbank zu drücken, wenn der Stammspieler, dem er außerdem so viel verdankte, ein solches Format besaß. Denn dieser hatte selbstlos durchgesetzt, mit Schimssas Aus- und Fortbildung amtlich betraut zu werden. Dieser Aufgabe hatte er sich mit solcher Akribie gewidmet, daß der strebsame Junge so rasch wie den Kinderschuhen der Psychologie des primitiven Henkers entwuchs – zu dem er sich vor seiner Bekanntschaft mit Wolf gut und gern entwickelt hätte –, und an die Grenze des Denkens vorstieß, hinter der sich die weite Geisteswelt wahrer, dieses Namens würdiger Scharfrichter öffnet. Er begriff, daß jemanden am Hals aufzuhängen recht oder schlecht fast jeder fertigbringt, ausgenommen vielleicht ein paar Intellektuelle; die Kunst beruhte darin, jemanden so aufzuhängen, daß dabei die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit bis hin zur wissenschaftlich-technischen Revolution aufschien, denn andernfalls hätte der Kunde berechtigt fragen können, warum er zur Strafe nicht gleich gebraten und aufgefressen wurde.

Bald zeigte sich, daß der Doktor über genauso weitreichende und fundierte Kenntnisse verfügte wie Wolf. Zwar fehlte ihm Wolfs ungeheure Praxis, was allerdings von seiner Kenntnis pönologischer Statistiken aufgewogen wurde, für die sich selbst ein Computer nicht hätte zu schämen brauchen. Wolf, der sich jede Jahreszahl laut vorsagen mußte, um sie zu behalten, bewunderte und beneidete den Doktor aufrichtig wegen der Bravour, mit der er, seine Worte mit den schnellen Zügen einer Füllfeder begleitend, wie ein Fernschreiber Ziffern und Prozente auswarf.

– In Frankreich, diktierte und schrieb er, als sie darüber diskutierten, wie oft die Nachfrage nach Scharfrichtern das Angebot überstieg, was sich Dilettanten zunutze machten, wurden allein 1944 wegen Kollaboration 10519 Personen hingerichtet, davon 8348 ohne ordentlichen Prozeß. Angaben aus der Erklärung des Justizministers Martinaud-Delplas.

– Schrecklich, sagte Wolf, aber es muß darauf hingewiesen werden, daß ein solcher Bedarf auch Talente weckt, die andernfalls verschüttet blieben ...

– In den USA, diktierte und schrieb der Doktor, als sie darüber diskutierten, wie umgekehrt ein Plus an Scharfrichtern die nationale Disziplin festigt, betrug der Anteil der Lynchjustiz an der Gesamtheit der Hinrichtungen noch im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts 92,5 Prozent, erst danach ist die Tendenz fallend. Fortlaufende Tabellen führen nichtsdestoweniger an, daß in den Jahren 1900 bis 1944 in den Staaten nur wenig mehr Personen gelyncht als von fachmännisch geschultem Personal gesetzmäßig hingerichtet wurden. Die Angaben entstammen von Hentigs Buch ›The Criminal and his Victim‹, New Haven 1948.

– Abstoßend, hatte Wolf damals gesagt, besonders dann, wenn man sich vorstellt, daß dieses fachmännisch geschulte‹ Personal nur einen Schalter betätigt. Ich möchte wissen, was geschieht, wenn der Strom ausfällt!

– Gewiß, hatte der Doktor damals lebhaft gesagt, aber stellt das Problem sich nicht umgekehrt? Hat man eine so primitive Vollstreckung nicht etwa deshalb gewählt, weil nicht einmal die Massenbasis der Lynchjustiz dem Land ein Talent geschenkt hat, das mit Ihrem vergleichbar wäre? Mein Gott, was ist das für ein Niveau, wenn der New Yorker Elliot vor der Elektrokution die Spannung so bemißt, daß auf dem Stuhl ein Klumpen Rindfleisch gebraten wird? Siehe Seite 42 seiner Memoiren!

Das einzige Gebiet, auf dem die Kenntnisse beider Männer gleichwertig waren und zweifellos die Grenzen des Menschenmöglichen erreichten, war die pönologische Belletristik. Später, als auch Schimssa am geselligen Beisammensein teilnahm, bedauerte dieser immer wieder, daß er die Diskussionen nicht auf Band aufnehmen konnte. Diese Duelle hätten jedem Fernsehquiz mehr Glanz verliehen als das ewige fade Gefasel über Perlen der Architektur oder Opernarien.

– »Hier ist«, zitierte der Doktor aus dem Gedächtnis, »das Schafott. Seine Beine werden schwach und steif, ihm ist übel. Ringsherum Menschen. Geschrei und Lärm. Tausende von Gesichtern und Augen. Er muß das ertragen und vor allem den Gedanken: Da sind Tausende, die nicht umgebracht werden, du aber wirst hingerichtet.« Autor, Werk und Held?

– Wie, entgegnete Wolf lächelnd, soll man nicht den Autor kennen, der das teuflische Glück hatte, eine ähnliche Szene persönlich zu erleben, wenngleich nicht bis zum Ende: Dostojewski, ›Der Idiot‹, Fürst Myschkin.

– Touché! rief der Doktor.

– Aber welcher Träger des Nobelpreises für Literatur hat in Versform den Verlauf einer öffentlichen Hinrichtung in Indien eingefangen? fragte Wolf.

– »They are hangin’ Danny Deever«, zitierte der Doktor lächelnd, »they are marchin’ of ’im round, they ’ave ’alted Danny Deever by ’is coffin the ground!« Wer sollte den Nobel-Laureaten des Jahres 1907 nicht kennen, den Verfasser des ›Dschungelbuches‹, Rudyard Kipling?

– Touché! rief Wolf.

Manchmal waren die Fragen so raffiniert, die Antworten aber trotzdem so genau, daß der Junge sich die gleiche Frage stellte wie ein Theatereleve, der Sir Laurence Olivier aus nächster Nähe betrachtet: Soll ich nicht lieber Briefträger werden?

– Was ist, fragte Wolf listig, ein Schwedentrunk?

– Ihre Frage, sagte der Doktor lächelnd, könnte ich mit dem Hinweis ablehnen, daß das Wüten der Soldateska des schwedischen Generals Banér nicht ins Gebiet des Exekutionswesens fällt. Weil aber der Schwedentrunk zur Zeit der Hexenprozesse dann ins peinliche Recht einging, soll Ihnen der Chronist antworten: »Sie banden –

zitierte der Doktor und schrieb diesmal mit dem Finger in die Luft,

– alsdann die armen Sünder, von welchen sie wollten deren verstecktes Geld herauslocken, und warffen selbige auf den Rücken und flößten selbigen mit eyn Trichter Jauche inn Mund, bis zalreych daran ersticket seyn und eyn gräßlich Tod fannden.«

– Touché! rief Wolf.

– Exempla, ergänzte der Doktor nur noch bescheiden am Rande, trahunt: Unter den Urteilen der böhmischen Stadt Nimburg findet man anno 1606 eine unglaubliche Strafe, die »erlitten der Mensch Jan Špička alldieweil er sich an einer Mähre vergangen«, was nicht näher erläutert wird. Dafür wurde er »bei lebendigem Leibe ausgeweidet, das Gemächte ihm ums Maul geschlagen, die Eingeweide all ins Hemd geknotet und sämtlich an den Galgen gehänget.« Der schlichte Leser kann Beifall klatschen, aber der Wissenschaftler muß sich wundern, wie es in einem Nest wie Nimburg so viel Phantasie geben konnte; dann liest er Janssens ›Geschichte des deutschen Volkes‹, II. Teil, Seite 506, und siehe da: die gleiche Strafe ereilte zwei Jahre früher in Braunschweig den Juristen Brabant, der beschuldigt worden war, es mit dem Teufel zu halten. Irgendein Schlaumeier aus Nimburg kam offenbar des Weges und verkaufte die Idee dann zu Hause als eigenen Einfall. Aber –

fragte der Doktor verschmitzt,

– wo findet man in der klassischen Literatur den kuriosesten letzten Wunsch eines Kunden vor der Vollstreckung?

– Plutarch schreibt in seinem ›Sulla‹ über den römischen Feldherrn Carbo, der von Pompejus zur Enthauptung verurteilt worden war. Der Scharfrichter hob schon das Schwert, als Carbo bat, noch einmal rasch –

ergänzte Wolf und entblößte lächelnd sein prachtvolles Gebiß,

– Wasser lassen zu dürfen.

Auf diese erhebende Erinnerung richtete Wolf nun sein ganzes Sinnen, um seine Wut zu bändigen. Er war wütend, weil er den Sommersonntag in der glühenden Stadt verbringen mußte, da man das Schlößchen längst in ein Erholungsheim für Werktätige und dann in ein exklusives regierungseigenes Jagdschlößchen verwandelt hatte, und weil die Hitze in der Straßenbahn ihn beinahe umbrachte, denn Anspruch auf einen Wagen hatte er nur am Tag einer Exekution und nachts darauf. Und so gab ihm allein der Umstand, daß der Doktor nach langer Zeit wieder einmal in den Vorführraum der Zeichentrickfilmer geladen hatte, den er – offenbar kraft seiner Funktion – sonntags öfter benutzen durfte, etwas von seiner guten Laune zurück.

Als ihm jemand auf die Schulter klopfte, wurde er sich augenblicklich bewußt, daß er vergessen hatte, einen Fahrschein zu lösen. Als sei eben dies der sprichwörtliche Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt, erfaßte ihn tiefe Depression. Zu seinem Erstaunen stand hinter ihm aber ein kahlköpfiger, zahnloser Greis in durchgeschwitztem Hemd, einem Kontrolleur völlig unähnlich.

– Verfeihung, fragte er stark mümmelnd, find Fie nicht fufällig der Friedrich?

– Ja, antwortete Wolf verwirrt.

Er hatte sich sofort gefaßt und wollte sich gegen diese Vertraulichkeit verwahren, aber der Gnom verbaute ihm jede Chance.

– Friedrich! rief er aus, und umarmte ihn stürmisch, was treibft du denn die ganfe Feit?

Die anderen Passagiere, halbtot vor Hitze, beachteten sie kaum, aber Wolf kam sich trotzdem vor wie im grellen Scheinwerferlicht einer Bühne. Es deprimierte ihn zusätzlich, daß er außerstande war, diesen Menschen irgendwo einzuordnen. Ein ehemaliger Mitschüler? Ein Kamerad aus seiner Militärzeit?

– Allef in fönfter Ordnung? fragte der Mann und mußte es zweimal wiederholen, bevor Wolf begriff, daß der Konsonant »f« den Reibelaut »s« sowie manch anderen Laut ersetzte.

– Danke, antwortete Wolf vorsichtig, es geht. Und bei dir.

– Ich bin fon in Rente, antwortete der Mann, du nicht?

– Leider, antwortete Wolf ausweichend, fehlt es mir noch an Jahren.

– Wiefo? wunderte sich der Mann. Dir rechnet man ’f doch doppelt, nicht? Oda haben die Feine auch daf fon geftrichen?

– Na ja, antwortete Wolf unbestimmt; er wußte schon, daß der Mann ihn aus der Branche kennen mußte. Ein Aufseher? Den hätte er sich gemerkt. Vielleicht ein Sargträger, die beachtete er kaum.

– Und die Frau Gemahlin? erkundigte er sich, um dem dünnen Eis zu entrinnen.

– Diefe Hure? fragte der Mann, die hab’ ich hinaufgefmiffen! Dafür ift die Flávinka ihrem Vata nachgeraten.

– Wer? fragte Wolf.

– Na, meine Tochta, mümmelte der Mann stolz. Ef hat fwar einige Frierigkeiten gegeben, aba flieflich ift fie doch auf die Uni gekommen.

– Welche Fakultät? fragte Wolf.

– Juf, natürlich! mümmelte der Mann glücklich, während die Straßenbahn kreischend bremste. Fie ift auch fon bei Gericht, vielleicht winken ja glücklichere Feiten!

– Ich muß leider schon aussteigen, sagte Wolf, entschlossen, die zwei noch verbleibenden Stationen lieber zu Fuß zurückzulegen.

– Fade, sagte der Mann bedauernd, wer weif, wann wia unf wiedafehen. Haben fie dir wenigftenf die Fule gegeben?

– Welche Schule? rief Wolf jäh erleuchtet.

– Na, die Ekfekufionffule! rief der Mann, während die Straßenbahn ruckhaft anfuhr.

Im selben Moment schienen seinem kahlen Schädel schwarze, fettige Haare zu entsprießen, ein Raubtiergebiß füllte die eingesunkenen Wangen auf, und zwischen den Lippen, sinnlich wie eh und je, zuckte die eroberungslüsterne Zunge, die so freigebig Liebe und Tod ausgeteilt hatte.

– Willi! rief Wolf, aber der ehemalige Richter hörte ihn nicht mehr.

– Quidquid agis, prudenter agas, sagte der Doktor, als er ihm Black

Die Henkerin

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