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– warum nicht?

– Gott, sagte Schimssa plötzlich, Gott, sieh dir das an!

– Gott, wiederholte Wolf seinerseits, wo ist denn das ausgeschlüpft?

Direkt auf sie zu kam eine jener Schwarzhaarigen von spezifisch südländischer Provenienz, bei denen man kaum abzuschätzen vermag, ob sie fünfzehn oder dreißig sind. Ungeachtet der Tatsache, daß eben erst der letzte Schnee geschmolzen war und die Sonne den Bäumen nur mühsam die ersten Knospen entlockte, trug sie ein Sommerkleid aus bedrucktem Batist, das so viel enthüllte wie irgend möglich: lange, kräftige, unbestrumpfte Beine, braungebrannte Arme und vor allem prachtvoll gewölbte Brüste; durch das anschmiegsame Gewebe war deutlich auch das Dreieck des Schoßes auszumachen. Hinter ihr kreisten kreischend Möwengeschwader, und es schien, als näherte sich da der leibhaftige Frühling.

Es war früh am Nachmittag, aber Wolf und Schimssa saßen schon seit fast drei Stunden an ihrem Lieblingstisch im Café ›Sparta‹. Fast drei Jahre waren seit dem Sommerabend in dem stickigen Vorführraum vergangen, wo der Doktor die historische Frage artikuliert hatte. Seine Voraussage, allerdings von zuverlässigen Informationen gespeist, hatte sich bald zu bewahrheiten begonnen. Die goldenen Zeiten der Massenexekutionen waren bisher zwar nicht wiedergekehrt, weil die prüde Ablehnung politischer Prozesse immer noch anhielt, aber der kritische Punkt war überwunden, und die Stabilisierung zeigte sich in der härteren Beurteilung krimineller Delikte. Die verantwortlichen Funktionäre – Wolf und Schimssa witterten dahinter die ameisenhafte Pionierarbeit des Doktors – hatten endlich begriffen, daß Vollstreckungen sich auf die Bevölkerung heilsam auswirken: Der einfache Bürger spürt die feste Hand der Regierung sowie den Wert seiner eigenen Unbescholtenheit; die politische Opposition, und sei sie noch so legal, weiß aufgrund ihrer Intelligenz, daß über die Anwendung der Todesstrafe, solange sie gesetzlich verankert ist, eine Macht bestimmt, die dadurch den Preis der Loyalität diktiert.

Der Aufschwung des Metiers hatte zahlreiche andere Verbesserungen im Gefolge. Bei zunehmender Kundenzahl entfiel das Feilschen um Prämien, Dienstwagen, die Reste der Henkersmahlzeit oder gar um das traditionelle Recht auf den Verkauf des verwendeten Strangs. Es wäre nur natürlich gewesen, wenn Wolf und Schimssa sich nach so vielen mageren Jahren mit offenen Armen den Freuden des Lebens zugewandt hätten. Neunundneunzig vom Hundert ihrer Kollegen hätten das gewiß getan. Sie mitnichten. Wolfs wahre Beziehung zu seinem Beruf hatte ein Vierteljahrhundert zum Kristallisieren gebraucht; hatte ihn zu den Höhen der Professionalität und in die Tiefen der Philosophie geführt. Schimssa war zwar viel jünger, aber nicht umsonst sein Schüler.

Wolf hatte keine Kinder. Die einzige Frau, die er je geliebt hatte und von der er sich welche gewünscht hätte, erlitt eine Fehlgeburt, als er ihr im Austausch für ihr süßes Geheimnis das seine verriet; seither war Markéta unfruchtbar. Was Wunder, daß er seine brachliegende Vaterliebe frühzeitig auf Schimssa übertragen hatte. Und was Wunder, daß der Waisenknabe Schimssa, der nur die unpersönliche Fürsorge von Kinder- und Soldatenheimen gekannt hatte, ihm dies mit einer Zuneigung vergalt, die der Sohnesliebe in nichts nachstand und an Intensität nichts zu wünschen übrig ließ, weil sie nie von den üblichen familiären Querelen getrübt werden konnte und weil er für Wolfs Kunst und Vorhaben tiefste Bewunderung hegte.

Dieses Vorhaben, einst beim Herabstieben der Perseiden aufgekeimt und mit ihnen zusammen vorübergehend erloschen, bekam nun allmählich grünes Licht. Die ungeheure Chance brachte allerdings auch eine ebensolche Verantwortung mit sich. Wolf hatte seit jeher die ketzerische Ansicht vertreten, daß die vielgerühmte Guillotine das Metier in Wirklichkeit nur entwertete. Diesen überdimensionierten Krauthobel konnte jeder beliebige Primitivling bedienen, und jeder Primitivling nützte das auch weidlich aus. Ist es nicht bezeichnend, daß die Franzosen mit diesem famosen Patent nicht weiter kamen als bis auf die eigenen Teufelsinseln? Daß sogar die Nazis in ihrem Märchenreich, wo die Bürger in Scharfrichter und deren Kunden aufgeteilt wurden, Beil und Block vorzogen, bis es an fähigem Personal mangelte? Um wieviel großartiger als eine tote Maschine war das Projekt einer lebendigen Schule, nicht etwa eines Ausbildungskurses, der Serienhandwerker ausspie, sondern einer echten »alma mater carnificium«, deren Absolvent allem begegnet sein würde, was das Exekutionswesen aller Epochen und Kontinente der Menschheit gebracht hatte, und überdies gelernt haben sollte, seine gesamte schöpferische Individualität zu entfalten! Nur das konnte sich – Wolf zufolge – als Sprungbrett erweisen, von dem aus das Metier sich emporschwingen mußte, um sowohl der eigenen glorreichen Tradition, als auch den steigenden Bedürfnissen der Zeit gerecht zu werden.

Die Grundsatzentscheidung war bald gefallen. Schon gegen Ende des Herbstes konnte der Doktor seinen Freunden eine Nachricht übermitteln, die für sie eine ebenso epochale Bedeutung besaß wie ehedem für die amerikanischen Physiker die Zustimmung zum Bau der Bombe. Sie waren intelligent genug, nicht zu fragen, wer dieses Ja erteilt hatte, da sie sich schließlich auszurechnen vermochten, wer die Vollmacht, die Finanzen und auch die Möglichkeit hatte, die neue Institution sowohl nach oben, als auch nach unten zu verheimlichen; das war nämlich die erste conditio sine qua non, die der kluge Wolf freilich einkalkuliert hatte und von deren Notwendigkeit er auch den ehrgeizigen Schimssa zu überzeugen verstand.

Am selben Abend lud er ihn zum erstenmal in seine Wohnung ein, wohin er sonst niemanden mitbrachte, denn nie sollte der Trubel der Welt bis dorthin vordringen; wie bedauerte er, einmal nicht konsequent gewesen zu sein: andernfalls hätte er jetzt das Wunder der Verwandlung seiner Kleinen – der Embryo war schon so weit entwickelt gewesen, daß eine Geschlechtsbestimmung möglich war – in ein Mädchen miterlebt. Wolfs Frau, immer noch attraktiv, obwohl die Zeit und die Sehnsucht unerfüllter Mutterschaft ihr Gesicht gezeichnet hatten, hatte ihnen einen kalten Imbiß bereitgestellt. Sie tanzten ein bißchen, tranken etwas mehr und genossen das Beisammensein; Wolf machte Schimssa sogar das Angebot, ihn inoffiziell zu duzen.

Auf Feiertage folgen Wochentage. Sie waren um so trister, als eine zweite Bedingung die ursprünglichen Pläne grausam durchkreuzte. Der unbekannte, entscheidende Faktor – sie hatten sich zusammen mit dem Doktor angewöhnt, ihn Investor zu nennen – verweigerte strikt das Hochschulstatut und verlangte sogar, die komplette Ausbildung müsse in einem einzigen Schuljahr stattfinden. Ein paar Tage lang durchlebte Wolf eine Krise und war fast entschlossen, den schönen Traum einer verschandelten Wirklichkeit vorzuziehen; und erstaunlicherweise war es Schimssa, der mithalf, sie zu überwinden. Sei seine Ausbildung denn nicht, so argumentierte er, obwohl buchstäblich aus dem Ärmel geschüttelt, in weniger als drei Jahren erfolgt, bis auf ein paar Bücher ohne Requisiten, und dann gleich am Kunden? Es genüge ja, dozierte er mit dem Bleistift in der Hand, wie dem Doktor abgeschaut, den freien Samstag abzuschaffen und eine Intensivschulung vom ersten September bis zum letzten Juni zu organisieren, von morgens bis abends, und die Effektivität werde sich im Vergleich zu gängigen Schulen verdreifachen.

– Ja! sagte Wolf eines Tages und spürte gleichzeitig, wie ihn aller Zweifel verließ und das gewohnte Selbstvertrauen nachrückte, dieser unermüdliche Antrieb seiner heiteren Tatkraft. Dazu beigetragen hatten allerdings auch die Botschaften, mit denen der Investor die Einschränkungen kompensierte. Da war vor allem das Versprechen, die Lehranstalt werde außer den erforderlichen Mitteln für Gehälter, Stipendien und Gerätschaften auch ein anständiges Dach über dem Kopf erhalten, und zwar bei einer größeren Institution, damit sie sich, wie der Doktor sagte, in der Menge verlor. Und ferner das nicht minder wichtige Versprechen, daß trotz des nur einjährigen Studiums, notabene außerhalb des Ressorts des Ministeriums für Schulwesen, die Schüler nach erfolgreichem Besuch nebst erfolgreicher Meisterprüfung nicht nur den Lehrbrief, sondern auch das Abiturzeugnis erhalten würden.

Wolf und Schimssa waren sich vollauf bewußt, daß sie das dem Doktor zu verdanken hatten. Während er einerseits durch geduldiges Argumentieren ihre Forderungen herabschraubte, schien er andererseits alle unermüdlich zu überzeugen, die dem Projekt Segen und Geld geben mußten. Das Ergebnis war deshalb ungeachtet aller Einschränkungen kein jämmerlicher Torso, sondern ein respektabler und hoffnungsvoller Kompromiß, der die Tür zu weiteren Entwicklungen offen ließ. Jetzt, da Wolf sein Selbstvertrauen zurückgewonnen hatte, war er überzeugt, daß schon der Erfolg des ersten, eigentlich des nullten Jahrgangs, die Skepsis des Investors ausräumen und den Weg zum unverändert gesteckten Ziel ebnen mußte. Deshalb wählte er das Motto für das Schulwappen so, daß es später die große Aula einer Universität schmücken konnte: Ohne denken kein henken!

Damals spielte sich eine Episode ab, die in den Annalen der Schule weniger bedeutete als ein Scharmützel im Logbuch eines Schlachtschiffs, die jedoch dokumentierte, wie anspruchsvoll beide geistigen Väter an jedes Detail herangingen; man konnte ihr entnehmen, was für einen Typ von Absolventen sie der Gesellschaft zu liefern gedachten. Es war abermals Wolf, der auf die logische Idee kam, der Wahlspruch der künftigen »alma mater« müsse auch in der Muttersprache der Gebildeten formuliert werden.

– Ich würde allerdings nicht sklavisch übersetzen, sagte er zum Doktor, sondern einen der berühmten Leisten verwenden, für unseren Zweck nur leicht abgewandelt. Beispielsweise würde »Zuerst leben, dann philosophieren!« unter Verwendung von »denken« und »henken« die Wechselbeziehung zwischen beidem großartig folgendermaßen zum Ausdruck bringen: Primum est cogitare, deinde strangulare!

– Hübsch, sagte der Doktor, aber man merkte, daß seine Gedanken wie Radarstrahlen in jene Gehirnwindungen drangen, wo er seit seiner Studentenzeit die Zellen mit den Lateinbeständen eingelagert hatte, wirklich hübsch. Wäre indes das Muster »Wie du säst, so wirst du ernten« nicht präziser? Ut cogitaris, ita strangulabis!

– Großartig, freute sich Wolf, doch da arbeitete sein Gehirn bereits auf vollen Touren, unbestritten großartig! Mir fällt nur soeben die berühmte Weisheit ein: ›Wenn du Frieden haben willst, mußt du zum Kriege rüsten!‹; zwar verlieren wir die Wörter »para bellum«, die sogar zum Markenzeichen von Armeepistolen wurden, aber die Variante wird dadurch nur um so prägnanter: Si vis strangulare, cogita!

– Bravo! Gratuliere! applaudierte der Doktor, setzte das Duell jedoch fort, nicht etwa aus Eitelkeit, sondern weil er sich angewöhnt hatte, jedem Gedanken nachzuspüren wie ein Jagdhund, bis das Problem, wie er lächelnd zu sagen pflegte, »verbellt« war, wenn wir aber schon den Weg lapidarer Apostrophe einschlagen wollen, warum dann nicht gleich à la »Teile und herrsche!«: Cogita ut strangulares!

Und Wolf vermochte nur überwältigt zu nicken; dieser Vorschlag war phänomenal.

Gegen Ende des Frühlings konnte der Doktor dem Investor ausrichten, beide Bedingungen seien akzeptiert, und eine letzte, willkommene mitbringen: Gegen Ende des Winters Vorlage eines genauen Lehrplans für das Probejahr, Entwurf der Aufstellung des Lehrkörpers und Zusammensetzung der Klasse sowie Voranschlag des Etats. Deshalb saßen sie nun, wie täglich außer sonntags, hinter dem Panoramafenster des Cafés ›Sparta‹, das sie vor einem Jahr gewählt hatten, um sich in der freiwilligen Klausur nicht allzu isoliert zu fühlen. Einstweilen hatten sie jedoch sommerliche Platzregen herbstliches Nieselwetter und sämtliche Schneefälle des Winters unbeachtet vorübergehen lassen und ebensowenig Tausende von Straßenbahnen, Hunderttausende von Kraftfahrzeugen und Millionen von Gesichtern wahrgenommen, die während der ganzen Zeit auf dem riesigen Tierkreis des Lebens an ihnen vorbeidefiliert waren. Umgeben von Stößen von Büchern und Notizen, bewaffnet mit Lineal, Radiergummi und Farbstiften, erstellten sie, über steife Quartbögen gebeugt, den Lehrplan, der ihrer Überzeugung nach in die Lesebücher würde eingehen müssen.

Die Kellner hielten sie zunächst für Pädagogen der benachbarten Schauspielschule und titulierten sie dementsprechend: Wolf mit »Herr Professor«, Schimssa mit »Herr Dozent«; und sie übernahmen diese Funktionen aus einem gewissen Aberglauben heraus in die Aufstellung. Nachdem die Ober erst einmal begriffen hatten, daß die beiden nicht etwa aus Knauserigkeit tagelang bei einer einzigen Tasse Kaffee saßen, sondern aus Arbeitswut, hier in eine Debatte vertieft, dort ins intensive Verfassen von Übersichtsplänen, begannen sie sich selbst um sie zu kümmern; zunächst wie um komische Käuze, dann wie um Stammgäste und schließlich wie um Familienangehörige. Der Schichtdienst sorgte für Abwechslung auf der Speisekarte, und manchmal brachten ihnen die Serviererinnen sogar hausgemachte Leckereien.

Dank einer unglaublichen Selbstzucht gelangten sie noch vor dem Winter aus Nacht und Nebel – sie konnten sich ja an kein Vorbild, kein Muster halten – zur ersten Konzeption, und dann ging es mit Riesenschritten vorwärts. Da hatten sie sich bereits klargemacht, daß die tödliche Krankheit der Pädagogik »Uferlosigkeit« heißt, und beschlossen, ihr Gebäude auf vier Tragpfeilern zu errichten:

Der erste sollte das klassische Exekutionswesen sein. Dieser zweifellos theoretische Gegenstand wurde nicht nur deshalb aufgenommen, weil darin die Idee einer wissenschaftlichen Anstalt vorherrschte, sondern weil Wolf der Überzeugung war, daß ohne dessen Kenntnis kein Scharfrichter fachliche oder menschliche Dimensionen gewinnen konnte. Es verstand sich von selbst, daß er die einschlägigen Vorlesungen halten würde. Daran anknüpfen sollte das moderne Exekutionswesen, von Schimssa gelesen, ebenfalls mehr theoretischer Natur, unter Einbeziehung zwar zeitgenössischer, jedoch in anderen Regionen praktizierter Vollstreckungsarten; es versprach denjenigen Schülern eine solide Grundlage zu vermitteln, die – wie der Doktor es sich erträumte – im Rahmen kultureller Abkommen für den Export arbeiten würden. Als zwei Hauptfächer waren Hängen und Foltern vorgesehen. Hier sollten die Schüler eine allumfassende Vorbildung genießen, um bereit zu sein, sämtliche anspruchsvollen Aufgaben zu erledigen, die ihnen die Gesellschaft stellen würde. Das Fach Hängen wollte, seiner größeren Erfahrung halber, Wolf lesen. Um das Fach Foltern bewarb sich überraschenderweise Schimssa selbst. Im Rahmen der Qualitätsanhebung des Unterrichts, so kamen sie überein, sollte Wolf bei Schimssa Gastvorlesungen über peinliches Recht, Schimssa bei Wolf über Strangulation halten, also über ihr jeweiliges Steckenpferd.

Am Silvesternachmittag erblickte der »Übersichtsplan des Jahreslehrplans«*) das Licht der Welt. Im Kreuzworträtsel der Unterrichtsmonate und Lehrgegenstände erschien wie unter Röntgenbestrahlung das ideale Rückgrat des Gesamtprojekts. Ein Blick darauf mußte dem Fachmann verraten, daß es, trotz Wolfs Ablehnung der hellenistischen Kultur – für das Exekutionswesen eine finstere Epoche! –, aus dem Idealen der Kalokagathia erwuchs und einen harmonischen Akkord von Leib und Seele anschlagen sollte. Wolf war entschlossen, gegen das Fachidiotentum ins Feld zu ziehen, das in den Scharfrichterhäusern der Vergangenheit seinen Platz gehabt haben mochte, da es Amateuren erfolgreich den Zutritt zum Metier verwehrte, seither jedoch längst zur Beschwörungsformel der Konservativen geworden war: Gegen die gebildeten Vollstrecker neuen Schlages wetterten ja am lautesten jene Nichtskönner, die nie gelernt hatten, ordentlich ein Genick zu brechen. Wolf und auch Schimssa wollten den Schülern klarmachen, daß es ihnen zwar nichts nützen würde, den gesamten von Hentig (›Die Strafe‹, ›Über den Ursprung der Henkersmahlzeit‹, ›Der Gangsten‹) zu kennen wie das Einmaleins, wenn sie nicht henken konnten wie geschmiert; daß hinwiederum bei gleicher Leistung derjenige die bessere Note und deshalb auch eine bessere Plazierung erhalten würde, der den kompletten von Hentig auswendig kannte. Also wurde die Doppelreihe der Grundfächer um acht Nebenfächer erweitert, um das Rückgrat der Schule in ein nervliches und gastrisches System zu betten, damit aus der Schule ein lebendiger Organismus würde.


Tab. 1


Tab. 2

Der Jahresplan hatte zwar die meiste Mühe gemacht, war aber zugleich der bündigste. Als höchst kompliziert erwiesen sich die »Monatslehrpläne«*, insgesamt zehn, die sie gleich am Neujahrstag in Angriff nahmen, als ihnen wahrhaft nur noch eine Galgenfrist blieb. Hierbei genügte es nicht mehr, in das Kästchen am Schnittpunkt März/klassisches hinrichtungswesen nur Besondere vollstreckungsmethoden II – Exotica einzutragen, sondern man mußte das gesamte Pensum auf mindestens vier Blöcke aufteilen, damit für die einzelnen Wochen vorgeplant werden konnte. Es mußte entschieden werden, ob die »Exotica« einfach andere Kulturkreise erfassen oder auch die Problematik unterentwickelter Länder aufzeigen sollten.

– Falls wir die erste Alternative akzeptieren, hatte Wolf damals überlegt, während am Nebentisch die Studentinnen der Schauspielschule vor der Prüfung mutmaßten, welcher der Examinatoren sich am ehesten bezirzen ließe, dann fallen unter den Begriff »Kulturelles« auch ganz primitive Formen, wie etwa die Vollstreckung mittels des sogenannten Hinrichtungsbaumes, des Upasbaumes, von dem Kerl Petržílka in den ›Gärtnerblättern‹ anno 1907 sagt: »Wird nun –

zitierte Wolf, während am Nebentisch einige Rentner Mineralwasser bestellten, um gratis die Tagespresse lesen zu können,

– über jemanden, das Todesurteil verhängt, dann fragt ihn der Richter, ob er durch die Hand des Henkers sterben oder ein wenig Saft vom Upasbaum zapfen möchte. Der Verurteilte wünscht meist letzteres, da er eine gewisse Hoffnung auf Rettung darin erblickt. Mögen sie auch noch so vielfältige Vorkehrungen treffen, so fallen doch neun von zehn, sobald sie das Laub berühren, vom Baum –

fuhr Wolf fort, während vom Nebentisch die alten Männer von der Kellnerin vertrieben wurden, die dort Pädagogen der Schauspielschule unterbringen wollte,

– und sind tot.« Für einen Kulturmenschen ist die Wahl zwischen einem erfahrenen Vollstrecker und einem scheußlich klebrigen Gewächs einfach undenkbar. Wählen wir hingegen Alternative Nummer zwei –

fuhr Wolf fort, während am Nebentisch die Pädagogen darüber diskutierten, welche der Examenskandidatinnen sich am leichtesten herumkriegen ließe,

– berauben wir die Schülerschaft um die echten Exotica hochentwickelter Zivilisationen, die der Ausfeilung vollstreckerischer Finessen die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet haben wie der Gastronomie, ob ich als Beispiel nun die berühmte kaiserlich-chinesische Vollstreckung vermittels Wasser herausgreife, das in regelmäßigen Intervallen auf den fixierten Nacken des Kunden tropft, oder –

fuhr Wolf fort, während am Nebentisch alte Frauen Limonade bestellten, um billig über ihre Krankheiten plaudern zu können,

– die berühmt-berüchtigte Massenvollstreckung der Azteken, wobei die Spanier vor dem Altar Schlange standen, wo ihnen mit einem Steinmesser bei lebendigem Leibe das Herz herausgeschnitten wurde, oder –

fuhr Wolf fort, während am Nebentisch die Greisinnen vom Kellner vertrieben wurden, der dort eine lustige gemischte Gesellschaft aus der Schauspielschule installieren wollte,

– um auch unser, die Früchte der technischen Revolution nutzendes Jahrhundert zu erwähnen, die in Japan beliebte Vollstreckung mittels Lokomotive, in deren Heizkessel nicht nur Kohlen verfeuert wurden, sondern auch –

beendete Wolf den vielstündigen Vortrag, während auf dem Nebentisch schon die Stühle lagen und Pädagogen und Studentinnen aufbrachen, um sich von der Richtigkeit ihrer Tips zu überzeugen,

– Bolschewiken.

Dabei waren weder Wolf noch Schimssa Schwätzer. Jede ihrer Diskussionen, übrigens der Keim zu Skripten, ergoß sich zwar wie ein vom Monsunregen geschwellter Fluß über die gesamte Problematik, kehrte dann aber gehorsam ins Bett des Plans zurück. Das Dilemma war gelöst, noch bevor abkassiert wurde: Um die Grenze zwischen den Entwicklungsstufen sichtbar zu machen, sollten die ersten drei Märzwochen den echten Exotica aus anderen Zivilisationssphären gewidmet sein, und in der letzten die »Anomalia«, womit Wolf diplomatisch das Wort »Primitiva« ersetzte, durchgenommen werden. So sollten die Studenten auch etwas über das unendlich anstrengende, in Asien geübte Schinden erfahren, wobei die Haut unbeschädigt bleiben mußte, sowie über die einfachen afrikanischen Vollstreckungen mittels Elefant, Termiten, hochschnellender Palme oder herabschnellendem Bambus.

Bei dieser Gründlichkeit benötigten Wolf und Schimssa für einen Monatslohn mehrere Tage, und dabei bedeutete jede noch so geringe Verspätung, daß der Start sich um ein volles Jahr hinauszögern würde. Daher waren sie ehrlich verzweifelt, als sie Ende Januar einen Anweisungsschein für gleich zwei Kunden erhielten. Da benützte Wolf zum erstenmal die Geheimnummer und rief am Abend den Doktor an. Trotz der späten Stunde meldete sich eine äußerst strenge Sekretärin, und Wolf mußte sich erst mit dem verabredeten Codewort als »Vorsitzender« deklarieren, ehe sie ihn weiterverband. Falls er es einrichten könne, brachte Wolf sein dringendes Anliegen vor, daß die zwei warteten, bis das eine fertig war, seien er und Schimssa gewillt, für deren verlängerten Aufenthalt in der Todeszelle aus eigener Tasche aufzukommen. Ein so selbstloses Angebot konnte der Doktor nicht ungehört verhallen lassen, und infolgedessen gelang es ihnen, die Monatslehrpläne sogar früher fertigzustellen als vermutet: schon am 20. Februar.

Demgegenüber klappte es mit den Wochenlehrplänen*, vor denen sie sich am meisten gefürchtet hatten, wie am Schnürchen. Zu verdanken war dies der perfekten, in den vorangegangenen Etappen so sorgfältig ausgearbeiteten Themenaufteilung. Idee und Arbeitsmethode der Schule erfüllten bereits die Funktion einer selbsttragenden Konstruktion, an der man risikolos verschieden schwere Fertigbauteile aufhängen konnte. Zweiundvierzig Bogen füllten sich erfreulich. Den überzähligen mit der laufenden Nummer 17 behielt Wolf großzügig den Weihnachtsferien vor, nachdem Schimssa ihn überzeugt hatte, daß es der Sache nur förderlich sein würde, wenn die Kinder, wie sie sie schon vertraulich nannten, ohne sie zu kennen, das schöne Fest der Menschlichkeit genauso genießen durften wie ihre Altersgenossen. Er überredete Wolf sogar, das gesamte Schüler- und Lehrerkollektiv eine Silvesterfahrt ins Gebirge unternehmen zu lassen, am besten gemeinsam mit irgendeiner normalen Schule. Sei es etwa nicht gut, den Kindern das Elitegefühl auszutreiben, das die Studenten der Schauspielschule zur Schau trügen? Sei es etwa nicht nötig, in ihnen Generationszusammengehörigkeitsgefühl heranzuzüchten, damit sie ihren künftigen Kunden mehr Verständnis entgegenbrachten?

Wolf gefiel dieser Enthusiasmus, der verriet, daß Schimssa mental mehr zu den Jungen gehörte. Er tat ihm den Gefallen gern, weil der Planungsverlauf seine Zweifel zerstreut und ihm sogar beachtliche Reserven aufgedeckt hatte. Und so verblüffte er Schimssa durch den Vorschlag, die Wiederholung des wöchentlichen Lehrstoffs schon in den Freitagsblock einzubauen und den Samstag Ausflügen vorzubehalten. Studienfahrten, fügte er lächelnd hinzu, als er sah, wie Schimssa in die Knie ging, und erläuterte ihm, wie er sich das vorstellte: Die Klasse fährt an einen der mit dem durchgenommenen Thema verknüpften Orte, von denen es in der Heimat nur so wimmelt, sei es nun ein berühmter Galgenberg, der moderne Vollstrekkungsraum einer Bezirksstrafanstalt oder eine andere interessante Lokalität. Unterwegs können die Kinder Sport treiben, und die Pädagogen erhalten Gelegenheit, sie aus einer anderen Perspektive kennenzulernen als ex cathedra. Schimmsa war begeistert, und seine Beziehung zu Wolf wurde inniger, ohne daß sie allerdings die Grenzen überschritt, die sowohl Respekt als auch Subordination diktierten.

Sie waren einfach glücklich und fruchtbar, diese Tage Ende Januar, und das Kaffeehauspersonal, das längst zu der Erkenntnis gelangt war, daß diese fleißigen Männer nicht zu den Müßiggängern aus der Schauspielschule gehörten, sondern zu den führenden Vertretern der benachbarten Akademie der Wissenschaften, spürte das und bemühte sich, ihnen Störungen fernzuhalten. Es errichtete um sie einen Wall aus Tischen mit Reserviert-Schildern, was ebenso rührend wie überflüssig war: Sie nahmen die Welt, in der sie lebten, längst nicht mehr wahr; sie weilten mit sämtlichen Sinnen bereits in der Welt, die aus diesen beschriebenen Papieren erst erstehen sollte. Sie planten Exkursionen, diskutierten über die Einrichtung von Kabinetten, ersannen kulturelle und sportliche Unternehmungen, stießen auf die Frage der Mittagspause und somit der Verpflegung, lösten hundert und ein Problem, hatten aber bei alledem das Gefühl, über den Berg zu sein. Das zweiundvierzigste Blatt duftete nach dem Heu des nächsten Sommers und trug die Überschrift Abitur- und meisterprüfungen. Sie paraphierten es am 1. März.


Tab. 3

Anschließend machten sie sich an die »Tagespläne«. Selbst nach Abzug von Exkursionen, Sonntagen, Weihnachten und Prüfungszeit verblieben noch 279 Unterrichtstage und zehnmal so viele Unterrichtsstunden; jede davon mußte mit genau dosiertem Inhalt ausgefüllt werden und garantiert erfolgreich ablaufen. Das bedeutete, 2790mal Fragen fast detektivischen Charakters zu beantworten: was, wie, wer und wo, woher und wohin, desgleichen womit. Diese zwar mechanische Aufgabe – die, wie Wolf es nett ausdrückte, eher gutes Sitzfleisch als einen guten Kopf erforderte – erwies sich jedoch als recht kompliziert, da die ersten Unbekannten dem Projekt ihre Aufwartung machten: die externen Mitarbeiter.

Der Doktor hatte sich schon früher ihren Vorschlag zu eigen gemacht und beim Investor durchgesetzt, den Schülern einige marginale Spezialgebiete per Fernstudium nahezubringen. Davon versprach man sich vor allem eine Beschränkung des Kreises der Eingeweihten, denn die Pädagogen der zuständigen Fachschulen, die in der Freizeit auf eigenem Boden unterrichteten, würden für ein angemessenes Honorar ihre Routinearbeit verrichten, ohne die Zusammenhänge auch nur zu ahnen. Es war bereits ausgemacht, daß zur Bedingung für die Aufnahme in die Höhere Lehranstalt für Exekutionswesen – so der endgültige Name der Schule – ein schriftliches Schweigegelübde seitens der Schüler und Eltern abgelegt werden sollte, die bei Nichteinhaltung eine strenge Bestrafung zu gewärtigen hätten. Zwecks völliger Geheimhaltung mußten jedoch auch organisatorische Voraussetzungen geschaffen werden: Als ebenso gefährlich wie Indiskretion mochte sich simple Unachtsamkeit erweisen. Der Name der Schule wurde deshalb so gewählt, daß die Abkürzung Höhle auch »Höhere Lehranstalt für Ernährungswissenschaft« bedeuten konnte. Unter diesem Decknamen sollten die Schüler ambulant Nebenfächer studieren und sich Verwandten, Freunden, Behörden und dergleichen präsentieren. Der wachsame Doktor kalkulierte sogar mit ein, daß man sie früher oder später irgendwo auffordern würde, etwas zu kochen, und er setzte durch, daß Wolf unter »Sonstiges« auch ein kulinarisches Minimum einplante.


Tab. 4

Noch ein Problem erhob sich. Da Wolf und Schimssa die ideelle, juristische und materielle Verantwortung für das gesamte Institut tragen, in zwei Hauptfächern unterrichten und zudem ihren Beruf ausüben sollten, um nicht das Schicksal jener Wissenschaftler erleiden zu müssen, die den Kontakt mit dem Leben verloren haben, konnten sie nicht noch zusätzlich Requisiten aus den Kabinetten herbeischaffen oder das Gelände abschließen. Die Tagespläne mußten also unbedingt zumindest dem Schulwart und den eingeweihten qualifizierten Mitarbeitern ausgehändigt werden. Hierbei drohte nun die reale Gefahr des Verlustes, und sei es durch höhere Gewalt. Vorbeugen konnte man nur mit Hilfe von Chiffren.*) Als sie die erste, für den Doktor, suchten, nahm Schimssa einen Bleistift und begann Umstellungen vorzunehmen. Dabei kam zunächst Rot heraus, gleich beim nächsten Versuch aber Kord. Nach wochenlanger intellektueller Plackerei stellte sich eine spontane Reaktion ein: Schimssa lachte wie ein Kind, und Wolf sekundierte ihm fröhlich. Der aufgeschreckte Kellner, gewöhnt, ihnen in regelmäßigen Intervallen Kaffee oder Grenadine zu servieren – zu ihrer Klausur gehörte auch Abstinenz – eilte herbei, um zu fragen, ob die Herren etwas wünschten.

Sie wünschten französischen Cognac und wünschten ferner, dieser möge für immer das ekelhafte rosa Wasser ersetzen, woraufhin das Personal überzeugt war, sie hätten eben eine Entdeckung gemacht, die ihnen den Staatspreis eintragen mußte. Von Stund an war es, als hätten sie eine anstrengende Fußwanderung beendet und glitten auf den Flügeln des Erfolges dahin. Unter Lachsalven führten sie die Liste der Abkürzungen zu Ende und stürzten sich auf den Stundenplan. Obwohl es sich um komplizierte Verknüpfungen der einzelnen Stoffe, um Übergänge zwischen den Objekten und Verschiebungen der Pädagogen und Lehrmittel handelte, bewältigten sie spielend bis zu dreißig Tagen pro Tag, so daß sie am 20. März zur Mittagsstunde buchstäblich einen Eisenbahnfahrplan vor sich hatten, der gewährleistete, daß sie mit ihren Schülern auf die Minute pünktlich und auf den Zentimeter genau die Endstation erreichen würden.


Wie Läufer, die ungeachtet ihrer Erschöpfung aus Freude über den Sieg noch eine Runde laufen, nahmen sie sich unverzüglich die letzte Folge vor: Wen sie eigentlich ausbilden und woher sie die Auszubildenden nehmen sollten. Sie spürten, daß sie einen jener kostbaren Lebenstage durchlebten, da kein Maler den Pinsel und kein Dichter die Feder weglegt, um Gott nicht zu versuchen. Sie waren bereits früher übereingekommen, daß die Klasse keine Serienprodukte, sondern verschieden profilierte Persönlichkeiten hervorbringen sollte. Sieben, ergänzten sie nun. Diese Zahl, weder zu groß noch zu klein und darüber hinaus mit einer gewissen magischen Tradition behaftet, repräsentierte ein leicht zu handhabendes Kollektiv und versprach schlechtestenfalls ein brauchbares Fünfergespann. Danach gingen sie von beiden Richtungen aus: von idealen Typen und von konkreten Namen.

Der erste war derjenige Alberts. Wolf führte das Argument ins Treffen, einer der künftigen Vollstrecker sollte widerspenstigen Kunden schon durch sein Aussehen Schrecken einflößen. Insgeheim rechnete er jedoch damit, daß gerade dieser Albert dereinst seine Nachfolge antreten würde, vielleicht sogar als Inhaber eines Universitätslehrstuhls für klassisches Hinrichtungswesen. Schimssa wußte um Wolfs Schwäche für den Jungen, er war ja bis heute insgeheim eifersüchtig darauf. Klug wie er war, besann er sich wieder einmal auf seine Überlegenheit und stimmte um so wärmer zu, als er dadurch eine günstige Atmosphäre für seine Kandidaten schuf. Es gab nämlich zwei.

Es sei ausgesprochen inhuman, sprach Schimssa, wenn bei der gemeinsamen Vollstreckung für ein und dieselbe Tat einer der beiden Kunden benachteiligt werde, weil er entweder früher drankomme, wodurch seine Chance auf Begnadigung schrumpfe, oder später, so daß seine Angst wachse, wie Truman Capote in seinem Buch ›Kaltblütig‹ nachweise. Warum sollten nicht beide, fragte Schimssa, parallel von zwei Doppelgänger-Vollstreckern drangenommen werden? Wolf gefiel der originelle Einfall, aber eines Zweifels vermochte er sich doch nicht zu erwehren: Häufige Zeitungsinserate zeugten davon, wie schwierig es ist, geeignete Zwillinge selbst für den unbedarftesten Film aufzutreiben! Darauf zückte Schimssa die Trumpfkarte: Er kenne zwei anstellige Buben und habe auch schon erfolgreich deren Mutter sondiert. Auf Einzelheiten ließ er sich lieber nicht ein, denn die Sphäre des Gefühlslebens war die einzige, wo er als Epikuräer sich mit dem Moralisten Wolf nicht verstand. Er konnte ihm schwerlich von der sengenden Sehnsucht nach der schwarzhaarigen Frau erzählen, die trotz all seines Drängens seit Jahren nicht nur ihrem Mann die Treue hielt, sondern auch ihrem Geliebten.

Der vierte Name tauchte in Wolfs Gedächtnis auf, als sie übereinkamen, daß sie beide einseitig zum Typ des intellektuellen Vollstreckers neigten. Wenn sie die Hauptforderung von Kord und Nestor – wie sie Doktor und Investor nunmehr ausschließlich nannten – erfüllen wollten, dann mußten sie auf die Erfordernisse des Exportes in Gebiete großer Exekutivität Rücksicht nehmen. Darum planten sie einen Platz für einen »robusten, emotionsarmen Typ mit niedrigerem IQ, unbegrenzt einsatzfähig« ein. Der Kandidat war ihnen noch unbekannt, aber sie wußten, daß ihnen das Reservoir von Besserungsanstalten und Hilfsschulen zur Verfügung stand. Wolf nahm sich unverzüglich vor, festzustellen, was aus den letzten Nachkommen des berühmten Karl Huß geworden war.

Den fünften Platz reservierten sie, der Abwechslung halber, einem »Vollstrecker fröhlicher und geselliger Natur für Kunden mit Angstzuständen«. Auch hier sahen sie kein konkretes Gesicht, glaubten jedoch unter den Sprößlingen von Beamten der Justiz, des Strafvollzugs und so weiter erfolgreich herumhorchen zu können.

Der sechste Vorschlag bewies, daß sie ihre Aufgabe nicht wie alte, engstirnige Schulmeister auffaßten, sondern wie fortschrittliche Technokraten. Mit Rücksicht auf den zivilisatorischen Trend beschlossen sie, wenigstens einen Schüler mit Vorbildung auf dem Gebiet Chemie (Gas) – Physik (Starkstrom) aufzunehmen. Hier verfügten sie über keine Beziehungen und gedachten sich demzufolge über Kord an die Berufsberatungskommission zu wenden. Sie setzten sofort einen Text auf, der trotz unerläßlicher Wahrung des Geheimnisses das erforderliche Interesse wecken sollte:

Für spez. Fach humanit. Richtg. M. Abit.: Absolv. D.9.JG. Chem-Phys. Grundschule (m) – Verlässl. U. Energ.-Eign. F. Öff. Auftr.-Gutes Nerv. Syst: Darunter eine Anmerkung in Klammern: (Der den duft von mandeln und verschmortem braten liebt!)

Und damit schienen sie die Inspirationsquelle, die sie monatelang getränkt hatte, bis zum letzten Tropfen ausgeschöpft zu haben; bei der Definition des letzten Platzes kamen sie nicht über die 7 hinaus. Die Zeiger der elektrischen Uhr an der Ecke hinter dem Panoramafenster beschrieben Kreis um Kreis, aber das leere Papier vor den beiden Männern war eine getreues Abbild ihrer Gehirne. Sie begriffen, daß die Feiertage vorbei waren und sie einen jener unzähligen Wochentage erlebten, an denen die Maler den Pinsel und die Dichter die Feder zerbrechen, weil Gott sie verlassen hat. In einem der Momente, da Schimssa wieder einmal verzweifelt den Blick aufs Flußufer richtete, um – wie ein Ertrinkender nach Luft – nach einem Gedanken zu schnappen erstarrte er.

– Gott, sagte er, Gott, sieh dir das an!

– Gott, wiederholte Wolf seinerseits, wo ist denn das ausgeschlüpft?

Dann wußten sie nichts mehr von Chiffren und Übersichtsplänen, verspürten weder Schöpferfreude noch -qualen, hörten weder das Geschrei der Möwen noch das der Kellner, sie sahen nur das Haar von spezifisch südländischer Provenienz, die unbestrumpften Beine, die nackten Arme, die schwellenden Brüste und vor allem das Dreieck des Schoßes, das selbst durch das bedruckte Gewebe hindurch herausfordernd wirkte. Mit dem Lächeln der Mona Lisa, aber mit dem Schritt einer hungrigen Raubkatze näherte sich ihnen der leibhaftige Frühling, riß ihnen den Panzer des Intellekts herunter und entblößte ihre pure, frohgemute Mannheit, die sie vor lauter Problemen längst vergessen hatten. Der Zölibat hatte das seine getan:

– Die Henkerin! hauchte Wolf unwillkürlich; zum erstenmal nach langjähriger Ehe sehnte er sich nach Hingabe an eine andere als die eigene Frau.

– Die Sieben! stöhnte Schimssa unbeabsichtigt; zum erstenmal nach monatelanger Arbeit sehnte er sich nach all den Schwarzhaarigen, die er je umarmt hatte.

– Wie bitte? riefen beide wie aus einem Munde, als ihnen gleichzeitig der Zusammenhang aufging.

Sie sahen einander scharf und geistesabwesend, triumphierend und fassungslos an wie Männer, die soeben ein altes Gemälde oder einen neuen Kometen entdeckt haben und es sich nicht eingestehen wollen.

– Aber das, flüsterte Schimssa, und diesmal mußte er sich anstrengen, damit seine männlich selbstsichere Stimme nicht versagte, das wäre dann die erste der Welt ...

– Na, und warum nicht? fragte Wolf feierlich, als überreichte er ihr schon Abiturzeugnis und Lehrbrief.

Er verlagerte seinen Schwerpunkt, setzte den rechten Fuß auf und stand endlich in seiner

Die Henkerin

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