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6. Kapitel

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Evangelisch sein

Es ist an der Zeit, jene Hartnäckigkeit zu feiern, mit der die Mutter sich entschieden hatte, nicht zuzulassen, dass eine wie auch immer geartete Zwangsorganisation von Okkupanten oder Kollaborateuren den Jungen beschlagnahmte. Seine nur wenige Stunden andauernde Mitgliedschaft im »Kuratorium zur Jugenderziehung«, in welches ihn der Vertrauensmann der Tertia ohne zu fragen aus Beflissenheit eintrug, beendete sie mit einem fürchterlichen Auftritt in der Amtsstube der jungen tschechischen Nazis, wieder einmal auf jenem runden Platz von Dejvice, indem sie mit einem ärztlichen Attest winkte und sie beschuldigte, mit der Wehrerziehung ihren kränklichen Schatz töten zu wollen. Weil sie gleichzeitig das Sonderrecht der Protektoratskirchen entdeckte, wonach diese eine begrenzte Zahl an eigenen Religionsgruppen haben durften, machte sie sich die einstige Taufe ihres Sohnes zunutze, welche ihn vor dem Kuratorium bis zur Konfirmation abschirmen sollte.

Die evangelische Zeitspanne war verhältnismäßig kurz, aber sie brachte den ersten entscheidenden Umbruch im Leben des Jungen: Ein für alle Mal warf sie die bisherige Einsamkeit und nach und nach auch das Gefühl der Minderwertigkeit von ihm ab. In der Böhmisch-brüderlichen Evangelischen Kirche nahmen ihn auf einmal alle ernst, sie nannten ihn sogar Bruder! Welch eine Musik für die Ohren eines Einzelkinds. Herr Pfarrer Čapek von der Salvatorkirche und der junge Vikar Foltýn verstanden es, ihren Nachwuchs durch bezwingende Lektüre und die Auslegung der Bibel für sich zu gewinnen. Außerhalb der sonntäglichen Gottesdienste unternahmen sie mit ihnen manchmal Radtouren in die Prager Umgebung, wo sie in den Wiesen eine bescheidene Kriegsbrotzeit auf einem Tuch ausbreiteten und ihre Feldflaschen mit Tee-Ersatz öffneten. Dann erzählte man etwas zu den biblischen Gleichnissen. Den literarischen Lehrling faszinierten starke dramatische Geschichten mit versteckten Hinweisen, die viele Auslegungen möglich machten. Für die wöchentlichen Treffen im Bethaus vom Stadtviertel Dejvice verfassten Freiwillige zu einem selbstgewählten Thema Referate. Der erste vom Vater archivierte Versuch trägt den Titel »Zeig mir deine Bibliothek und ich sage dir, wer du bist!«. Der Autor überzeugt darin die gleichermaßen pubertierenden Mitbrüder und Mitschwestern, dass sie sich mit Hilfe von Büchern schneller eine eigene Persönlichkeit aufbauen können. Und weil er keinen Fotoapparat hat, speichert er sich die wichtigsten Erlebnisse der gemeinsamen Ausflüge in Versform ab. In ihnen glaubt der Fünfzehnjährige hartnäckig an die Schönheit, die Liebe und das Glück, aber dann gewinnt fast jedes Mal wieder das Memento mori die Oberhand über seine Hoffnungen, welches ihm den alles durchdringenden Krieg unaufhörlich in Erinnerung ruft.

Ein komischer Exkurs: Als das Gymnasium in Dejvice, dessen wunderbares modernes Gebäude die Firma Junkers für die Zeichenbüros ihrer Flugkonstrukteure requiriert hatte, in die Dušní-Straße übersiedelte, setzten die katholischen Eltern eine religiöse Erziehung ihrer Sprösslinge durch. Den evangelischen fehlte sie offenbar nicht, und so lief das glückliche protestantische Häuflein einmal in der Woche eine Stunde früher aus der Schule und steuerte traditionell den Bootsverleih neben der Svatopluk-Čech-Brücke an, die während des Krieges Mendelejew-Brücke hieß. Die Katholiken ärgerte dies umso mehr, je wärmer es draußen war. Einmal nutzten sie die Gelegenheit, dass sich der Katechet verspätet hatte, liefen weg, und die ganze Quarta vergnügte sich in den kleinen Booten, als dort auf der Brücke wie ein Riesenvogel ein großer Mann in einer Soutane erschien, der durch den Trichter seiner Handflächen den unvergesslichen Satz wetterte: »Alle Katholiken aus dem Wasser!« Erschrocken sprangen auch die Evangelischen aus den Booten, und unser Junge machte dabei seine erste Nickeluhr zunichte, die sein ganzer Stolz war.

Die fröhlichen Augenblicke verloschen beizeiten wie einsame Fackeln, und die Polarnacht des Protektorats war umso dunkler. Und es war bestimmt jene tödliche Bedrohung, die seit dem Attentat auf Heydrich unaufhörlich über der Familie des Jungen hing, die seinen Glauben an Gott intensivierte; er war bis Stalingrad die einzige Macht, die den Untergang abwenden konnte. Bloß Seine Sprecher und Mittler und Vertreter fingen an, dem Knaben immer mehr im Wege zu stehen, und verhielten sich so, als hätte Er sie geradezu beauftragt. Nach der Befreiung werden die Kirchen schon wie politische Parteien offen zu handeln beginnen, sogar seine eigene, die ihm wegen Hussens Nein beim Konzil in Konstanz besser zu sein schien! Und so wird er sich bald ohne Umschweife die Partei der Kommunisten aussuchen, welche verspricht, die höchsten Menschheitsideale seit dem Christentum bis zur französischen Kommune zu verwirklichen. Aber nicht einmal in seiner materialistischsten Zeit wird er jemals mit Spott oder Hass dem Höheren Prinzip gegenübertreten, welches der Herrgott der tschechischen Protestanten ihm unentwegt vor Augen führt; viele von ihnen opferten während der habsburgischen Rekatholisierung auch ihr Leben, um sich ihren Glauben und damit auch ihre Sprache zu bewahren. Diese hat das ganze Volk seiner späteren Meinung nach dem ersten heimischen Samisdat zu verdanken, den geheimen Abschriften der tschechischen Bibel, die so oft mitsamt ihren Besitzern verbrannt wurden.

Am Tag seines sechzigsten Geburtstags, als ihn seine späte Schwester Gerda Neudeck aus Wien mit einem Überraschungstreffen beinahe aller Exilfreunde beschenkt, die sternförmig im österreichischen Geras unweit der mährischen Grenze zusammenkommen, wird er die Messe, die sein Freund Karel Schwarzenberg im dortigen Prämonstratenserkloster für ihn abhalten lässt, als größtes Geschenk empfinden. Von der ersten Bankreihe aus wird der Jubilar die Bewegungen der praktizierenden Christen aus den Augenwinkeln heraus verfolgen und gehorsam nachmachen, wortlos die ihm bekannten Melodien singen und im Geist mit irgendjemandem oder irgendetwas über den Zustand seiner Existenz kommunizieren. Und das behält er auch so bei, weiterhin ohne Dolmetscher. Bei den immer zahlreicheren Begegnungen mit Geistlichen, vorwiegend katholischen, wird er sie aufrichtig seiner wachsenden Solidarität mit den Kirchen versichern, auch wenn sie die Begründung nicht allzu sehr begeistert: dass er an jedem Menschen Freude habe, der beschließt, sich aus dem weltlichen Chaos hinweg in die Kirche oder ins Theater zu begeben, weil die Hoffnung bestehe, seine Seele hier wie dort reinigen zu können.

Aber jetzt wütet noch der Wirbelsturm des Krieges, und in seinem Auge, verkörpert durch den protestantischen Nachwuchs, holte den erwachenden Verseschmied schließlich auch die volle Pubertät ein, und sein poetisches Schaffen fand die erste Adressatin. Ihr Name war Olga Marková, sie war ein Jahr älter, und er erlebte zum ersten Mal das katastrophenartige Gefühl, dass selbst der unabhängigste Geist ein machtloser Knecht seines Körpers ist, der ihn zudem lebenslänglich gefangen hält. Bei seiner Madonna, die sich wohl für ihn genauso wie für ihr Hündchen interessierte, erntete er für seine Verse nicht mehr als eine Danksagung. Auf die ersehnte Berührung einer Mädchenhaut musste er bis zum Prager Aufstand im Mai 1945 warten, als seine reizende Freundin Eliška Žaloudková aus dem Rundfunkensemble während der Kämpfe in der Wohnung in Bubeneč zwei Tage lang festhing. Ihre Jungfräulichkeit wird die Mutter des jungen Mannes unnötig bewachen; der Sohn kennt sich bei all seiner Sehnsucht mit Frauen genauso wenig aus wie mit Waffen. Er schafft es aber noch, sie zu streicheln, als die nächtliche Bürgerwache plangemäß auf die Eltern fällt, die das Haus aus dem Schlaf zu reißen haben, falls die Deutschen oder die Alliierten kämen. Als Begleitmusik zu diesem sanften Vorfühlen dröhnt von der einzigen Platte, die nach dem Lufttorpedoeinschlag im Funkhaus übriggeblieben ist, die revolutionäre Kennmelodie, ein schmetternder Marsch.

Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel

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