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12. Kapitel

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Scheidung von Disman und Verlobung mit der Revolution

Ich trete aus der Erzählerrolle mit einer Überlegung heraus, die ich persönlich erörtern möchte. So wie ich die eigene Geschichte nicht schreibe, um etwas zu verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gibt, so tue ich es auch nicht, um darin die Rolle des Rattenfängers zu übernehmen. Die Vorstellung, dass der zwanzigjährige Versschmied – passender kann man sein damaliges Schaffen auch nicht charakterisieren – Hunderttausende von Angehörigen seiner Generation zum Massenwahnsinn verführt hat, wird zur Karikatur jener Vorstellung, mit der sich viele Deutsche beschwichtigen lassen wollen: nämlich, dass der Kitschmaler Adolf Hitler sie aufhetzte, damit sie dann wie am Fließband mordeten. Aber wie war nun der seelische und körperliche Zustand unseres Poeten, der der Wahrheit am nächsten kam, als kurz nach dem Krieg schon wieder »die Zeit den Vorhang fallen ließ und die Welt verändert ward«?

Zwischen dem siebzehnten und neunzehnten Lebensjahr häuften sich die Erlebnisse derart, dass sie manch einem für ein ganzes Jahrzehnt reichen könnten. Zu den nachhaltigsten gehörte eine dreimonatige Konzertreise von etwa hundert Mitgliedern des Disman-Ensembles nach England, Schottland und in die Niederlande.

Ihre Zugreise, die mehrere Tage in Anspruch nahm, führte ihnen das zerbombte Deutschland wie eine Mondlandschaft vor Augen, die sich verdientermaßen nicht einmal nach hundert Jahren erholen sollte. Die Aufzeichnungen und Briefe des jungen Mannes dokumentieren seine spätere Behauptung, dass die Deutschen nicht ein halbes Jahrhundert später anfangen können, die Kriegsführung der Alliierten mit ihrem Barbarentum zu vergleichen.

28. XI. 1946

Um vier Uhr morgens kann man den Rhein durch den schmutzigen grauen Nebel sehen. Und sobald er sich verzieht, immer deutlicher auch versenkte Schiffe, gesprengte Häuser und finstere Mienen. Vielleicht ist es nicht angebracht, aber bei der Erinnerung an die Kriegsjahre empfinden wir eine klare Genugtuung darüber, wie die Alliierten den wilden Gesang der Loreley vergolten haben. Die wenigen Haltestellen mit dem Zug haben gereicht! Erneut haben wir gehört, dass die Juden eine Geißel der Menschheit sind und dass das Morden in den besetzten Ländern nur ungewollt geschehen ist. Und dass Hitler ein »Sauhund« ist, klingt nicht wie eine späte Reue, vielmehr ist darin die ohnmächtige Wut herauszuhören, dass sie nicht gesiegt haben, und auch der Hoffnungsschimmer, dass es für Deutschland tatsächlich noch einmal heißen könnte »Es kommt der Tag«. Nur ein ausgesprochener Idealist dürfte die Deutschlandfrage für erledigt betrachten. Die ganze Welt muss sich darüber im Klaren sein, dass der Nationalsozialismus weiterhin lebendig ist und dass man ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Leuten und vor allem aus den Jugendlichen herausprügeln muss!

Nur: Die Briten, obwohl sie selbst noch unter den Folgen der Kriegsnot zu leiden hatten, verblüfften die siegestrunkenen Tschechen mit unbegreiflicher Toleranz und, von außen betrachtet, auch mit sträflicher Naivität, als sie die Besiegten so schnell wie möglich an ein normales Leben heranführen wollten, indem sie sie zur Demokratie erziehen und ihnen gemeinsam mit den Amerikanern wirtschaftlich helfen wollten. Schon in ein paar Jahren wird sich zeigen, dass gerade diese Großzügigkeit zum Grundstein des vereinten Europa werden würde.

Die mehrwöchige Wanderfahrt wurde für ihn noch zu einem Schlüsselerlebnis von ganz anderer Art. Auf britischer Seite leiteten eine knochige, altjüngferlich wirkende, zugeknöpfte Miss Sheffield und ein umso freundlicher wirkender eleganter Vierziger mit dem klassischen Namen Smith die Reise. Weil der Junge einer der Ensembleleiter war und immer passabler Englisch sprach, war es kein Wunder, dass er bei Herrn Smith in besonderer Gunst stand. Diese kam erkennbar zum Vorschein, als der junge Sänger in London stark heiser wurde und die tschechische Krankenschwester, die sie auf der Tournee begleitete, bei ihm eine erhöhte Temperatur gemessen hat. Auf dem Programm stand gerade eine zweitägige Weiterfahrt ohne Konzerte nach Mittelengland, und Herr Smith konnte Frau Sheffield leicht davon überzeugen, den Jungen während dieser Zeit in ein anständiges Hotel mit sich zu nehmen und dann wieder auskuriert zur nächsten Haltestation zu bringen.

Das Doppelzimmer war durch ein Badezimmer getrennt, und unser Tscheche wachte nachts auf, als er spürte, wie ihn eine Hand streichelte. Zum Glück verstand er, was um ihn herum geschah, noch bevor er seine Augen aufmachen konnte. Sein Mitschüler Richard hatte nämlich im letzten Kriegsjahr vor allen Mädchen für seine erste erotische Erfahrung gesorgt. Er hatte ihn an einem frostklirrenden Samstag in die Sommervilla seiner reichen Eltern eingeladen. Um sich noch aufzuwärmen, bevor der Trommelofen das eisig kalte Zimmer bewohnbar machte, hatten sie eine Flasche Wein getrunken, aber auch danach beschlossen sie, sich die noch fehlende Wärme gegenseitig unter aufgeschichteten Decken zu spenden. Unser Junge war zwar durch das Buch Der Hausarzt und vor allem durch die Ausflüge in das Vorstadtwäldchen und die Unterweisungen des Cousins Jiří sexuell aufgeklärt, aber über erotische Beziehungen zwischen Männern hatte er nur verschwommene Informationen aus der Antike; passiv beobachtete er neugierig und angespannt zugleich, um sich vor ihm auch keine Blöße zu geben, wie der Freund mit der Hand herumirrend seinen Körper abtastete. Bis ihn plötzlich ein starker Schmerz im Unterleib befiel und unmittelbar darauf unbekannte Erscheinungen eintraten. In völliger Dunkelheit verharrte er sogar eine Weile in der schrecklichen Annahme, er sei gebissen worden und aus der Wunde triefe klebriges Blut in seinen Schoß, bis ihm der Schein der Taschenlampe half, alles nach und nach zu verstehen.

Als eine ihm vertraute Stimme nun in London anfing, ihn genau mit den Worten schmeichelnd zu umwickeln, die er auf Tschechisch in seiner eigenen Liebespoesie gebrauchte, erstarrte er, er wird nie vergessen, wie er mit angespannten Muskeln unter der nach englischer Art im Bettlaken gewickelten Decke fieberhaft überlegte, ob er hochschnellen, diesem Menschen, der ihm plötzlich zuwider wurde, einen Schlag verpassen und auf den Gang hinauslaufen und um Hilfe schreien sollte. Irgendetwas veranlasste ihn allerdings, sich nicht zu bewegen, den Atem anzuhalten und krampfhaft die Augenlider geschlossen zu halten. Der Besucher musste die leblose Starre des warmen Körpers richtig gedeutet haben, da er nach einer Weile still wurde, und bald hörten auch seine Finger auf, ihn zu berühren. Weil er nicht hörte, wie die Tür zuschlug, blieb der Junge weiter in seinem Abwehrkrampf liegen, bis er irgendwann später wahrscheinlich vor Erschöpfung einschlief.

Als Mr. Smith am nächsten Morgen an der Tür des kleinen Schlafzimmers klopfte, um zu verkünden, dass in seinem Zimmer das Frühstück wartete, fand er ihn bereits angezogen vor. Und als er erfahren hatte, dass sein Schützling die zwei freien Tage trotz der Erkältung zum selbständigen Familienbesuch eines Fräuleins mit dem Namen Barbara Hope nutzen wollte, in die er sich im Kurortstädtchen Blackpool verguckt hatte, traute er sich nicht, ihm zu widersprechen. Sie trafen erneut in der nächsten Stadt aufeinander, in der der Knabe rechtzeitig und wieder gesund ankam; er hatte den Ausflug zwar im Bett verbracht, leider aber allein, in der Obhut einer englischen Mutter, während das erkrankte Mädchen das Bett im anderen Zimmer hütete. Mr. Smith blickte ängstlich drein, aber dem Tschechen wurde bei diesem kleinen Abstecher etwas bewusst, was ihn sein Leben lang begleiten sollte: das Verständnis dafür, dass es auch eine andere Art von Liebesverhältnis gibt als die, die er bisher kennengelernt hatte. Da ein solches zu jener Zeit noch strafbar war, sah er sich Gott sei Dank zu keiner weiteren Reaktion veranlasst, vielleicht setzte gerade damals seine spätere allgemein menschliche Toleranz ein; Männer, die geschlechtlich anders orientiert waren, die ihm immer wieder eindeutige Signale zusenden sollten, werden seine Haltung respektieren und durchwegs verlässliche künstlerische Partner sein.

Als der Poet von der Reise zurückgekommen war, musste er den Lernvorsprung seiner Mitschüler einholen, um gemeinsam mit ihnen das Abitur ablegen zu können. Er hatte aber nicht die Absicht, deswegen seine Tätigkeit im Ensemble und in der Jugendredaktion des Rundfunks aufzugeben. Und er konnte auch nicht aufhören, an der ersten und gleich vergeblichen Liebe schwer zu tragen. Zum ersten Mal seit der Zeit, in der er die Kette fast aller Kinderkrankheiten überlebt hatte, machte er starke gesundheitliche Beschwerden durch, sein heftiges Herzrasen bei größerer Aufregung führte dazu, dass er zweimal erst wieder in einem Krankenwagen zu sich kam. Eine vegetative Neurose psychosomatischen Ursprungs, lautete die Diagnose, die ihn auch noch ein paar Jahre danach häufiger in Sanatorien bringen wird. Damals wurde er vom zuständigen Arzt im Rundfunk in eine Berghütte geschickt, die dem Sender gehörte, um wenigstens ein paar Tage frische Gebirgsluft schnuppern zu können.

Er packte sein Lernzeug und die Skier ein, fest entschlossen, wie schon einmal, seine körperliche Krise kraft seines Willens zu durchbrechen. Nach drei Tagen voller strapaziöser einstündiger Aufstiege, mit denen nach wie vor der Genuss einiger weniger Minuten der Abfahrt bezahlt werden musste, entdeckte er hinter dem Wald eine große Sprungschanze und entschied sich, seinen Mut auf die Probe zu stellen. Als er die halsbrecherischen Treppen bis zum Scheitelpunkt des Anlaufs erklommen hatte, meldete sich sein angeborenes Schwindelgefühl wieder, und ein Sprung kam ihm wahnsinnig vor, aber noch viel riskanter und zudem peinlicher schien es ihm, die vereisten Stufen wieder hinabzuklettern. Während des Kriegs hatten überall Gefahren gelauert, die er sich nicht ausgesucht hatte, jetzt entschied er sich freiwillig für das Risiko, zu dem ihn niemand und nichts zwang. Als er dann unten wieder zu Bewusstsein kam, hatte er weder Skier noch Stöcke, seine Mütze, seinen Schal, auch seine Handschuhe nicht. Die verhältnismäßig kurze Dauer seines freien Falls hatte ihm einen Aufprall erspart, bei dem er zum Krüppel geworden wäre, und er hatte sich nur ein halbes Dutzend blauer Flecken eingehandelt. Der Hüttenwirt erzählte abends, dass er einen Selbstmordaspiranten beobachtet hätte, der versucht hatte, die große Schanze auf bloßen Füßen hinunterzufahren, aber als er hingekommen war, hatte er keine Leiche vorgefunden. Noch mehrmals wird den überlebenden Springer das Gefühl befallen, er stünde erneut über der steilen vereisten Rinne. Aber dann beginnt er jedes Mal zu glauben, dass er wieder Glück haben wird.

Als er nach Prag zurückgekehrt war, gesellte sich zu den Sorgen um die Gesundheit und die Schule auch der einzige ernstere Zank mit seinem Vater. Der Sohn stellte ihm ein Ultimatum, damit er aufhörte, die Mutter mit Seitensprüngen zu betrügen, andernfalls würde er von zu Hause weggehen. Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, versteckte er sich für ein paar Tage in einem Stundenhotel, das sich damals am Hauptbahnhof befand, und bedrängte den Vater so lange mit mahnenden Telegrammen, bis er dessen Kapitulation erreicht hatte. Als erwachsener Mann wird er sich für diese peinliche Erpressungsgeschichte noch mehr schämen als für seine schlechten Verse. Sein Vater hatte nämlich das bewiesen, was ihm selbst nicht gelungen ist: Er blieb wegen seines Sohnes, auch als dieser schon längst erwachsen war, in einer nicht mehr gut funktionierenden Ehe. Und es waren insbesondere die starken Seiten seiner Persönlichkeit, die den Charakter des Sohnes prägten. Bei all den Gefühlsperipetien seiner Eltern hatte er nie das Gefühl, dass ihm auch nur im Geringsten der Stempel aufgedrückt worden war, ein Kind aus zerrütteten Familienverhältnissen zu sein, womit sich Räuber und Mörder so gerne vor Gericht herausreden. Gleichzeitig wird er sich aber auch dessen bewusst, dass sein rabiates Eingreifen in das Leben des Vaters, womit er so dramatisch sein Mitgefühl der Mutter gegenüber demonstriert hatte, jenen gefährlichen Charakterzug dokumentierte, der ihn noch einige Jahre zu seinen allzu schnellen Urteilen und daher überhasteten Handlungen verleiten sollte.

Sein Leben lang werden ihn die Aussagen derjenigen Leute einholen, die ihren Otomar in den verschiedenen Zeitabschnitten seines Lebens kannten, und auch in den kritischen Meinungen wird die Achtung vor ihm deutlich spürbar. Wenn es um Frauen ging, so wollte seine Gunst bei ihnen nicht vergehen! Zum Beispiel wird ihn die Gattin eines bekannten Publizisten und Dichters nach dem Tod des Vaters im August des Jahres 1959 bitten, er möge versuchen, ihren Ehering, den sie seinem Vater als Pfand gegeben hat, im Nachlass zu finden; als er ihn schließlich entdeckt und ins Café Slavia mitbringt, darf er sich einen Nachruf anhören, um welchen er den Vater nur beneiden musste. Und es geht ihm nahe, als ihm die Nestorin der tschechisch-deutsch-jüdischen Literatur Lenka Rainerová erzählt, wie sein Vater Otomar ihr eine Stellung verschaffte, obwohl sie gerade aus dem Gefängnis kam. Noch im Jahr 2005 wird sie sich daran erinnern, wie man sie später erneut entlassen wollte:

Da bin ich also zum Chef gegangen, der eben der Vater von Pavel Kohout war, ein wunderbarer Mensch. Und der sagte mir, Bleib ganz ruhig, solange ich auf diesem Stuhl sitze, wirst du auf deinem sitzen können! Und er sollte Recht behalten, schließlich wurde ich dort die Chefredakteurin!

Und weil der Sohn dann zwei tiefe Freundschaften seiner Mutter aus allernächster Nähe erleben durfte, Fundstücke, die ihre Verluste kompensierten, wird er zu der Überzeugung gelangen, dass beide Eltern ihr Leben in Würde gelebt haben. Dass die beiden sich auseinandergelebt haben, ändert wenig an ihrer famosen Art, Eltern zu sein; übrigens erlebte er, dass sie häufig glücklich waren, und er hat das Gefühl, dass sie es auch ihm beibringen konnten. Als beide, er Raucher, sie Nichtraucherin, im Abstand von vier Jahren an Lungenkrebs erkranken, gibt er sich Mühe, dies ihnen in der knappen Zeit zurückzugeben: Er wird fast immer bei ihnen sein, und mit Hilfe seiner Schwägerin, einer Internistin und damaligen Chefärztin, wird es ihm gelingen, ihnen bis zur letzten Minute das wahre Stadium ihrer Krankheit zu verheimlichen. Schade, dass es deshalb nun niemandem mehr bei ihm gelingen wird ...

Aber jetzt ist die Geschichte des Poeten immer noch jugendfrisch, und er hat eine Reihe weiterer widerspruchsvoller Taten vor sich. Mit der Absicht, sie erhellen zu wollen, was der erwachsene Mann in diesem Buch zu tun gedenkt, wird er alle drei Teile von Carlyles Geschichte der Französischen Revolution lesen. Was ihn einst – in seiner Art ein Politthriller – daran begeisterte, erhält eine neue, schockierende Bedeutung: Er sieht das Spiegelbild seiner eigenen Verblendung. Es ist gerade die grundlegende ›Modellsituation‹, der wohlbekannte Pfad, den Gestalten beschreiten, die sich vom Poeten und seinen Altersgenossen nur in der Dekoration und in den Requisiten ihrer Zeit unterscheiden:

Die Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit befreit langsam, aber sicher die Untertanen eines entmenschlichten Absolutismus, nach der Elite des Geistes durchdringt sie auch die größte und gleichzeitig niedrigste Gesellschaftsschicht so weit, dass sie zu einer realen politischen Kraft aufsteigt, die zusammen mit der Bastille die Tyrannei niederreißt und die Hoffnung hegt, ans Ziel in der Form einer konstitutionellen Monarchie zu gelangen. Von dieser gewaltigen, durch diesen Prozess freigesetzten Energie ist schon im nächsten Augenblick nicht mehr viel übrig. Die gestrigen Bekenner von Voltaires Toleranz neigen mehrheitlich zu Rousseaus These von der Souveränität des Volkes, die allerdings ihrer Ansicht nach nur eine neue, bei weitem schlagkräftigere Elite verwirklichen kann. Juristen, Künstler und andere Intellektuelle, die bis gestern in der Grauzone der Despotie dahinvegetierten und sich in Hašeks Manier um einen »mäßigen Fortschritt in den Schranken des Gesetzes« bemühten, verwandeln sich binnen weniger Monate in Revolutionäre, welchen kein Ziel mehr zu fern ist. Eine Bewegung wie die ungeheurer Naturgewalten, die genauso wenig aufzuhalten oder zu beeinflussen sind wie Lawinen oder Hochwasser. Die Idee ihres Philosophen, dass Freiheit »der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selbst gegeben hat« sei, wird bald durch Gesetze ad absurdum geführt, die im Prinzip jede Art menschlicher Tätigkeit regulieren und bald auch das Denken gleichschalten. Immer mehr Leute verweigern diesen Gesetzen den Gehorsam allein schon deshalb, weil sie nicht imstande sind, sie einzuhalten; dafür müssen sie dann mit ihrem Kopf bezahlen. Die Machtpyramide, deren Fundament das Volk selbst gelegt hat, zermalmt es nun mit ihrem eigenen Gewicht, und wird so lange von Blut durchströmt wie die Lunge bei einer Embolie, bis die mörderische Despotie höheren Typs, die mit einem großen N gekennzeichnet ist, alle Akteure verschlingt und sie selbst von eigenen kriegerischen Raubzügen aufgefressen wird, und ihr Anführer aus der Verbannung zuschauen muss, wie die zunächst besiegte Aristokratie zuletzt lachen kann. Da ist das ganze blutige Karussell schon längst Bestandteil eines gesamteuropäischen, ja weltweiten Prozesses geworden, dessen Produkt und Katalysator es gleichzeitig war – so ähnlich, wie die tschechische Nachkriegsrevolution zur Zeit des Kalten Krieges alsbald in eine Antirevolution umschlug.

Der leibhaftige Poet, der hier versucht, sein Leben und seine Zeit in einer Art literarischer Autovivisektion zu erforschen, war, bevor er anfing, die eigenen Altersgenossen mit seiner uferlosen Begeisterung zu infizieren, selbst durch eine ähnliche Euphorie der vorangegangenen Generation angesteckt worden. Gleich nach dem Krieg waren es keine geringeren Dichter als Halas, Hora und Hrubín, und noch vor ihnen die Barden der ersten Republik, allen voran Wolker, Bezruč und S. K. Neumann, die ihn in seinem »Köhlerglauben«, wie die tschechischen Kommunisten die Glut ihrer Begeisterung getauft haben, bestätigten.

Ihre Bekenntnisse galten der Sowjetunion. Genauso wie unser junger Mann wurden seine Genossen Klíma, Kosík, Kundera, Šotola, Vaculík und wie sie alle hießen, zu vorübergehenden Bazillenträgern dieser Liaison. Arnošt Lustig entging ja nur knapp dem Feuerofen in Auschwitz, und zu Hause war er nicht weit davon entfernt, andere ins Feuer zu schicken. Weil sie zum Glück noch rechtzeitig aus dem trügerischen Traum erwachen und die Sterne günstig stehen, steigt der Kern der jungen Generation aus der Gewaltspirale vergleichsweise früh aus. Jedenfalls noch bevor sie von dieser zerstört werden, oder – noch eine gespenstischere Vorstellung! – sie unwiederbringlich andere vernichten werden. Die ansteckende Epidemie klingt aber nicht mit ihrer Genesung ab. Hier wird noch ein ausführlicher Bericht darüber folgen, wie diese Epidemie in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die intellektuelle Szene Westeuropas, besonders diejenige Deutschlands, verseucht und beinahe das Ende der Spaltung der Welt, symbolisiert durch die Berliner Mauer, noch weiter hinauszögert.

Unser Poet legte sein Abitur, angefangen mit einer Eins in Tschechisch und im Englischen bis zu einer Vier in Biologie, zum regulären Termin im Juni 1947 ab, das heißt in einer Zeit, als der politische Zwist um die künftige politische Ausrichtung des Landes zu schweren Zerwürfnissen sogar in den Familien führte. Der Hader um die Zukunft entbrannte auch im Disman-Ensemble, und der frisch gebackene Hochschüler, jetzt schon in der Jugendredaktion des Tschechoslowakischen Rundfunks angestellt, war einer der feurigsten Diskutanten.

Im selben Jahr leuchtete für unseren Poeten der erste Fixstern der Liebe auf, ihm widmete er all seine damaligen Lebensleistungen. Ex post wird er begreifen, dass er zum ersten Mal bewusst eine solche Energie in sich spürte. Weitaus mehr als Applaus und Geld wird ihn das ganze Leben lang das Bedürfnis, sich dem einen oder anderen hell leuchtenden Stern zu präsentieren, hinaus zu allerlei Sprungschanzen beliebiger Größe schicken. Die Zeiten, in denen er sich auf deren Umlaufbahnen bewegte, sollten sich dann immer mehr in die Länge ziehen. Und an diese Stelle gehört dann schon unverzichtbar das Epitaph für die erste große und zugleich vergebliche Liebe, deren bewegtes Schicksal der literarischen Figur aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs, wo sie mit dem Buchstaben A chiffriert wird, auffallend ähnlich ist.

Als eines der dortigen jungen Mädchen lernte unser Jungspund auch Věra Joudová im Ensemble kennen, neben der er noch während des Krieges hunderte Male rezitiert und gesungen hatte, bis er eines Tages plötzlich feststellen musste, dass sie ihm auf eine entwaffnende Art und Weise imponierte. Er hing mehr als drei Jahre ratlos und machtlos an ihr, der Jungfrau, die er nur durch seine schlichte Poesie zu berühren wagte und durfte. Sie wurde zur Inspiration der besseren seiner Verse, die für ihre Zeit überraschend suggestiv wirkten, als sie von Scharen anderer Mädchen aufgesagt wurden. Sie wurde zum Motor seines Ehrgeizes: Hauptsächlich deswegen, weil sie auf der Schauspielschule aufgenommen wurde, dachte er sich für seinen eigenen Werdegang die Karriere eines professionellen Revolutionärs aus und schrieb sich in Philosophie kombiniert mit vergleichender Literaturwissenschaft ein, um mit dem Studienbuch der altehrwürdigen Karlsuniversität prahlen zu können. Aber sie war auch seine erträumte Jeanne d’Arc, durch die er sich weiter zum Kampf für den Sieg des Kommunismus mobilisiert fühlte. Dafür hatte er vorerst nur im Ensemble die Gelegenheit.

Auch hier zog sich schon die Frontlinie entlang des tobenden Ideenkampfes hindurch, die ehemalige Freunde in zwei Blöcke aufspaltete. Auf Seiten des jungen Mannes war zum Pech des Demokratenlagers viel mehr Feuereifer und Energie vorhanden. Nur derjenige, auf den sie sich als logischen Verbündeten am meisten verlassen hatten, Miloslav Disman, spazierte mit einem sanftmütigen Lächeln durch die Schützengräben und berief weiterhin all seine Kinder ins Bataillon seiner abstrakten Ideen ein, als es ihnen doch schon sonnenklar war, dass die Zeit Taten, Taten und nochmals Taten erforderte! Binnen Jahr und Tag sollten daher aus einem Ensemble zwei werden. Die Revolution wird siegen, die Liebe wird es aber nicht mehr erleben. Gerade seine Muse wird dem Poeten eine der grundlegenden Lektionen erteilen, die aus Jungs Männer werden lassen.

Im Jahr 1947, nach Beendigung des freiwilligen Einsatzes beim Bau neuer Häuser im wiederauferstandenen Lidice, reiste er wie immer per Anhalter, kombiniert mit seinem Indianerlauf, weil damals noch wenige Autos fuhren, ins Sommerzeltlager des Ensembles und traf dort auf einen Rivalen. Dieser junge Mann war hier neu und beeindruckte die Auserwählte des Poeten wohl am ehesten dadurch, dass er das wahre Gegenteil von ihm war: ein Sportler, technikbegeistert, und noch nicht von der Disman’schen Sentimentalität ergriffen. Weil sich der ›Olympiawettbewerb‹ anbahnte, bekam der Poet eine weitere Wahnsinnsidee: Er wollte den Eindringling ausgerechnet in einem sportlichen Wettkampf übertreffen. Damals trieb ihn anstelle seiner Muskeln sicherlich sein Geist an. Er schleuderte den Lederball weiter als sein Gegner, und er belegte nach ihm die beste Zeit im Waldlauf. Die Entscheidung sollte der Sechzig-Meter-Lauf bringen, bei dem es das Los sogar so wollte, dass sie nebeneinander an den Start gingen. Das ganze Ensemble wusste, dass man wegen eines Mädchens, das als einziges in ihrem Zimmer geblieben war, um die Wette lief. Das Unglaubliche wurde gleich zweimal wahr.

Im Lauf besiegte er seinen Liebeskonkurrenten. In der folgenden Nacht öffnete seine erste Liebe dem Nebenbuhler die Tür. Seit dieser Zeit weiß er, dass besonders empfindsame Frauen den Besiegten den Vorzug geben, weil diese es anscheinend eher zu schätzen wissen. In seiner Trauer und seinem Durcheinander konnte er damals noch nicht ahnen, dass später auch er oft Nutzen daraus ziehen sollte.

Nur Gott allein weiß, welches Schicksal dem Rivalen beschieden war, ihr Los dagegen deprimiert bis heute alle, die sie kannten. Sie fiel ihrem Professor an der Theaterfakultät zum Opfer, der schon damals seine Stellung gegenüber Wehrlosen auszunutzen wusste. Als er von ihr als seiner Geliebten genug hatte, schickte er dieses strahlende Talent in die Provinz, wie in die Verbannung, er jagte sie praktisch für immer aus Prag fort, damit sie dort nicht seine Kreise störte. Bei der letzten Begegnung mit ihrem ersten Bewunderer ähnelte sie in keinster Weise jener mal schwermütigen, mal vor Lachen explodierenden Brünetten mit der betörenden Altstimme; sie wirkte fahl, gebrochen, und die Hand, die der Verliebte so oft weihevoll in der seinen im Halbdunkel der Kinos gehalten hatte, wenn er viel mehr ihren Puls als die Handlung auf der Leinwand wahrnahm, erinnerte ihn beim Händedruck – eine unheimliche Metapher Leonid Andrejews – an einen abgenutzten Handschuh.

Věra Joudová wird sich eines Nachts in Jihlava das Leben nehmen. Und ihr erfolgloser Verehrer wird sie niemals vergessen. Was er bei ihr gefunden hatte, funktioniert bis heute ...

Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel

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