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7. Kapitel
ОглавлениеDer Märtyrer und seine Jünger
Da der Krieg ziemlich lange nur in den Wochenschauen der UFA präsent war, die jeden Film begleiteten – und der Junge in Bubeneč war wohl der fleißigste Zuschauer der Kinos Bruska, Orlík und Svornost –, verlief seine wenig normale Jugend ziemlich lange in nahezu üblichen Bahnen. Solange er sittliches Benehmen an den Tag legte, durfte er jeden Sonntagvormittag ins Filmtheater, und wenn er sich vorbildlich benahm, auch am Sonntagnachmittag. Am Morgen lachte er sich krumm und schief bei den noch immer schwarz-weißen Grotesken mit Charlie Chaplin, am Nachmittag weinte er schon beim farbigen Schneewittchen und den sieben Zwergen, und im Laufe der Zeit im nicht jugendfreien Film Jugend mit Kristina Söderbaum, dem damaligen Stern am deutschen Filmhimmel; zur Täuschung der Platzanweiser band er sich ein Kopftuch um den Kopf, was er ein Vierteljahrhundert später seinem Sohn bei Bonnie and Clyde empfehlen wird. Bevor die Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg traten, konnte er sogar mit dem Ausweis des ersten Vereins, dem er je beitrat, angeben: dem Fanclub des kindlichen Filmstars Shirley Temple, die zu jener Zeit noch berühmter war als der Hund Rintintin. Diesen wird er einmal auf dem Pariser Tierfriedhof begrüßen kommen, während er seine platonische Liebe persönlich zu Tränen rührt, wenn er ihr als »her Excellence Mrs. Temple«, nach dem November 1989 US-Botschafterin in Prag, seine alten Gefühle offenbart.
Den Ausnahmezustand und die roten Plakate sowie die Rundfunklitaneien mit den Namen der Hingerichteten – diese erste Visitenkarte des stellvertretenden Reichsprotektors und Hitlers Todesritters, Reinhard Heydrich, fasste der Junge im Herbst 1941 noch als Theater für Erwachsene auf, das auch nicht jugendfrei war. Merkwürdigerweise blieb selbst die Hinrichtung von Mutters Bruder eine fernliegende Geschichte für ihn, weil er seinen Onkel Karel kaum kannte. Das Attentat auf Heydrich schien ihm eine vortreffliche Tat der tschechoslowakischen Fallschirmjäger zu sein, die von England ausgesandt worden waren. Angst befiel ihn eigentlich erst nach der Vernichtung von Lidice bei der Vorstellung, dass ein ganzes Dorf mitsamt Kindern und Tieren von der Erdoberfläche und sogar von der Landkarte verschwinden konnte! Aber seine Illusion schwand vor dem Mittag des 18. Juni 1942 endgültig, als ihn die Mutter unter irgendeinem Vorwand vom Gymnasium abholte, um ihm in der nächstgelegenen Hofdurchfahrt eine Sonderausgabe der Zeitung mit den Fotografien der toten Attentäter zu zeigen, und unter den vier Verhafteten auch Kaplan Vladimír Petřek, der die Attentäter in der Krypta der orthodoxen Kirche in der Resselstraße versteckt hatte. Dieser wird den Jungen und später auch den Mann das ganze Leben lang begleiten. Er wird sich selbst und seine Leser immer wieder an ihn erinnern, daher darf er auch hier nicht fehlen.
Der beste Freund des Vaters war, obwohl viel jünger, sein Doppelgänger, zumindest wenn es um die Bandbreite ihrer Interessen und um Sprachkenntnisse ging. Seit 1940 kam er mehrmals in der Woche in die Zikmund-Winter-Straße, um hier nach den bescheidenen Abendessen, zu denen er mit Lebensmittelmarken seinen Beitrag leistete, das Ohr an den Empfänger zu legen, in den man zuvor die bei Todesstrafe verbotene und daher gut versteckte »Churchillspule« schieben musste, um dann stundenlang London und Moskau hören zu können. Während der häufigen atmosphärischen Störungen widmete er sich dem Jungen. Er selbst war Dichter und Übersetzer aus dem Serbokroatischen und wurde der erste unvoreingenommene Kritiker seiner künstlerischen Versuche. Obwohl Doktor der Theologie, schätzte er auch Marx, und weil er unentwegt an die Schlagkraft der Sowjetunion glaubte, war er ein Anhänger der Großen Oktoberrevolution. Und alles, was der Junge von ihm hörte, sollte gerade durch sein finales Verhalten das Siegel höchster Glaubwürdigkeit bekommen. Als er nach dem Attentat auf Heydrich plötzlich nicht mehr zu ihnen kam, fasste der Junge dies als Folge des Ausnahmezustands auf. Bis seine Mutter jene Zeitung vor ihm aufschlug.
Ein Schrecken durchfuhr ihn, als der Tod nach seinen Eltern griff, der bis dahin nur in den ständig wachsenden Namensverzeichnissen gegenwärtig war. Und in dieser Angst verspürte er auch eine feige Erleichterung, als man ihn damit vertrösten wollte, dass er mit kaum vierzehn Jahren nicht mit ihnen erschossen werden könne. Dem Mann, zu welchem der Junge heranwächst, wird es immer so vorkommen, dass er gerade an diesem Nachmittag – während er mit seiner Mutter die weitverzweigte Familie besuchte, die den unvergesslichen Petřek, den Porträts von Jesus Christus so ähnlich, von Vaters Fünfzigstem kannte, um sie zu warnen, sollte ihnen ihr Leben lieb sein, keinesfalls zuzugeben, ihn irgendwo getroffen zu haben – schlagartig in die Welt der Erwachsenen übertrat.
Diese Welt der Erwachsenen empfing ihn mit einer nervenaufreibenden Zeit des Wartens, in der die Gestapo aus den Verhafteten herausprügelte, wer alles den Attentätern, ebenso wie es seine Eltern durch Petřeks Übermittlung getan hatten, Lebensmittel, Decken und Geld besorgte. Die Verratenen oder Denunzierten kamen tagaus, tagein zu Dutzenden am Erschießungsstand der SS ums Leben, und die Namen, welche ununterbrochen vom Stadtrundfunk gesendet wurden, verkündeten weitere erfolgreiche Razzien. Erst im September ertönten zum Abschluss des Mordens wie die vier Schläge in Beethovens Schicksalssinfonie, die Namen des ersten Quartetts, das sich tapfer der Soldaten aus London annahm, Čikl, Gorazd, Sonnevend und – Petřek. Wenn der damalige Junge nach mehr als einem halben Jahrhundert dieses Buch schreiben wird, fängt er an, nach Einschätzungen moderner Historiker zu suchen, um sich davon zu überzeugen, ob er nicht in einer Legende gefangen war, nur weil er einen der Helden näher kannte. Die Aussagen des deutschen Historikers Hellmut G. Haasis versetzen ihn durch ein suggestives Bild präzise in die Erinnerung zurück.
Dr. Petřek band dem Küster Václav Ornest mit einem würdigen Ritus die Schweigepflicht auf die Seele. Er führte den Küster eines Nachts zu der Gruft, und dort musste er auf ein Priestergewand mit Kreuz und Gebetbuch schwören, dass er von nichts weiß und von diesem Eingang zur Krypta niemals etwas wissen wird. Auch Karel Louda, Mitglied des Kirchenchors, hat das schwören müssen. Die Vereidigung nahm der Geistliche im Priestergewand vor, bei Kerzenlicht und auf das Evangelium. Der orthodoxe Geistliche war sich außerdem nicht zu gut, den sieben Fallschirmjägern ihren Toilettenersatz, einen Chlorkalkeimer, eigenhändig zu leeren.
Nach dem Krieg bewahrheitet sich die Vermutung, dass er nicht redete. Man hatte ihn derart gefoltert, dass sie ihn schließlich an einen Stuhl gebunden erschießen mussten. Dieser orthodoxe Jan Hus, den sein Bart, seine Stimme und die Priestergesten älter wirken ließen, als er war, hatte gerade sein vierunddreißigstes Lebensjahr erreicht! Summa summarum: Aus dem Mentor war ein Märtyrer geworden. Viel später wird der Junge begreifen, dass vielleicht gerade Vladimír Petřek ihn wieder als Erster vor der Wandlung des wissenschaftlichen Marxismus in eine totalitäre Ideologie gewarnt hätte. Stattdessen wird aus dem Lehrling auch ihm zu Ehren ein Kommunist.
Maßgeblich steuert auch jener Umstand bei, dass er ein Jahr nach dem Krieg kommen wird, um sich Oświęcim anzuschauen, weil er nicht glauben kann, dass sich dieses anmutige Kurstädtchen seiner Kindheit in das schlimmste Vernichtungslager verwandeln konnte. Die Villa erkennt er, sie wird den Anschein erwecken, als hätte dort während des Krieges eine Familie wie seine eigene gewohnt. Von diesem Irrtum befreien ihn grauenvolle Berge, die er in einer nicht weit entfernten Einrichtung entdeckt, wo das Oberhaupt dieser Familie als Ingenieur der Todesfabrik tätig gewesen war: ein Berg von Schuhen, ein Berg von Prothesen, ein Berg von Brillen und vor allem ein Berg von Frauenhaaren. Der violett phosphoreszierende Teufel aus seiner Kindheitserinnerung war also dort geblieben und hatte sein Kindheitsparadies in eine Hölle namens Auschwitz-Birkenau verwandelt.