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9. Kapitel

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Das bin ich, die junge Freiheit

»Das bin ich, die junge Freiheit zu einer roten Blume erblüht!«, jubelte das Revolutionslied und gleichzeitig beweinte es die Toten. All diese nahezu 2250 Tage und Nächte der Besatzung voller Scham und Angst, all diese tausend Namen auf den schwarzen Hinrichtungslisten, und für unseren Jungen war immer wieder Petřek! Petřek! Petřek! jene Sprengladung, die am Samstag, dem 5. Mai 1945 durch den Prager Aufstand explodierte, und er war, wie es das Schicksal wollte, im Gebäude des Rundfunks mit dabei.

Im Archiv wird ihm der Lohnzettel für seine Mitwirkung beim Hörspiel Daidalos und Ikaros bleiben, der zu diesem historischen Datum ausgestellt wurde, obwohl man das Ende der Sendung erst einige Tage nach dem Krieg aufgenommen hat. Die Mädchen, die ins Studio kamen, schickte man sofort wieder nach Hause, und unserem jungen Mann wurde wie allen Übrigen ein Schraubenzieher in die Hand gedrückt, der seine erste und letzte Kriegswaffe werden sollte: Die Dismanschüler schraubten innerhalb der nächsten zwei Stunden sämtliche Orientierungsschilder auf dem ausgedehnten Rundfunkgelände ab, so wie es 23 Jahre später ihre Kinder beim Überfall der Armeen des Warschauer Paktes im ganzen Land tun werden. Nicht einmal die deutsche Waffen-SS, deren Fahrradabteilung gegen Mittag das Gebäude teilweise besetzte, fand den Raum, von wo aus kurz danach der Hilferuf der Ansager in den Äther flog. Nach einem kurzen, aber blutigen Kampf gab diese deutsche Einheit als erste in Prag auf.

Der Junge diente dann noch als Laufbursche zwischen dem Rundfunk und dem alternativ neu entstandenen Ersatzarbeitsplatz in der unweit gelegenen Hussitenkirche, und er besaß sogar Helm und Bajonett, bevor er es vorzog, zu den Eltern zurückzukehren, die er nicht hatte benachrichtigen können, als er an der Seite eines weiteren Freundes aus dem Ensemble ausharren musste, einem Arbeiter, der schon ein echter Dichter war, Ladislav Padior. Drei Tage nach dem Aufstand wird die Abwesenheit des Jungen auch im nachrevolutionären Wirrwarr unerklärlich bleiben, also werden seine Kameraden beginnen, in den provisorischen Leichenhallen nach ihm zu suchen, und sobald sie ihn gefunden haben, heben sie ihm eigenhändig das Grab aus, weil es viel mehr Tote als Totengräber geben wird. In diesen paar Stunden, als er unterwegs nach Hause über die wachsenden Barrikaden kletterte, sah er lauter Helden um sich herum, die den Kampf oft nur mit bloßen Händen angenommen hatten. Fünf Tage später, als der stechende Geruch verbrannter Überreste angeblicher Gestapoleute die Stadtmitte verpestete, begann er zu begreifen, dass die Sternstunden einer Nation auch Menschen auf den Plan rufen, die im Namen der geliebten Heimat ihre Kollaboration verdecken oder ihre Perversionen befriedigen. Dieses Ereignis wird sein Leben lang zu den Schlüsselerlebnissen gehören, es wird im Tagebuch eines Konterrevolutionärs beschrieben, und es wird auch das Schlüsselkapitel des Romans Die Henkerin bestimmen. Nach einem halben Jahrhundert erneuert die ähnlich patriotisch verbrämte Ausgeburt von Gräueltaten auf dem Balkan die Erinnerung daran; aus ihr geht der Roman Sternstunde der Mörder hervor.

Das Treiben der Revolutionsgarden und der Plündertrupps, ja sogar der verrohten Kompanien der tschechoslowakischen Armee in Prag, Brünn, in Aussig und an vielen Orten der damaligen Sudeten hatte der junge Mann nicht persönlich erlebt, aber er kennt bereits viele unwiderlegbare Beweise, dass ihre Taten grässlich waren und mit Empörung verurteilt werden müssen. Als er nach vielen Jahren aus dem unfreiwilligen Exil zurückkehrt, ermuntert er unaufhörlich vor allem junge tschechische Journalisten, erbarmungslos alle Keller mit den deutschen Unrechtsopfern zu öffnen. Und seine österreichischen Mitbürger wird er wiederum überzeugen, dass dem so viel kritisierten Satz des tschechischen Ministerpräsidenten Zeman »Die Sudetendeutschen waren die fünfte Kolonne Hitlers« nur noch die Worte »mit erdrückender Mehrheit« zu ihrer Richtigkeit fehlten. Diese fünfte Kolonne, die mit einer mehr als neunzigprozentigen Zustimmung für Konrad Henlein die einzige hoffnungsvolle Demokratie in Mitteleuropa stürzte, waren tatsächlich sie, und viele von ihnen halten auch bis heute noch an ihrem Irrglauben fest. Im November 2001 wird der Sprecher der aus dem Sudetenland stammenden Österreicher verkünden, dass »München 1938 den Fehler von 1918 wettgemacht hat«. Der Heimkehrer wird ihm als sein tschechischer Altersgenosse und ehemaliger Mitbürger antworten:

Sie haben sicherlich jenen Fehler im Sinn, dass die Deutschen in der damals neu entstandenen Tschechoslowakei nicht ihre Gebiete zugesagt bekamen, um sie mit den österreichischen vereinigen zu können. Ich staune über das zähe Fortleben Ihrer Selbsttäuschung. Nach dem Ersten Weltkrieg, bei dessen Entfesselung Sie als Ethnie mitgeholfen haben und dabei eine schwere Niederlage erlitten, konnten Sie doch kaum erwarten, sich mit einer Aussteuer, die ein Drittel des böhmischen Königreichs umfasste und in seinen ursprünglichen Grenzen tausend Jahre Bestand hatte, nach Österreich zu verabschieden. Sie verschweigen, dass ganz Europa eine solche Art von Selbstbestimmung damals nicht zugelassen hat, so dass dies nur Ihr eigener historischer Traum war und es auch bleiben wird. Und was den Zweiten Weltkrieg angeht – und das sage ich mit tiefer Hochachtung gegenüber allen Deutschen, die sich der fanatisierten Menge nicht anschlossen oder sich ihr gar entgegenstellten –, so haben Sie sich Hitler und damit Ihr eigenes Schicksal allein nach Böhmen und Mähren gebracht. Man darf doch auch heute, wo man nach einem halben Jahrhundert vieles Unangenehme vergessen hat und schon völlig anders denkt, nicht vergessen, dass es Menschen Ihrer Abstammung waren, die im wahrsten Sinne des Wortes Europa im Blut ertränkt haben. Und nicht nur Europa, der ganze Rest der Welt stand einen Schritt vor der Vernichtung und musste sich mit aller Macht gegen Sie wehren, weil es um seine Existenz für die kommenden tausend Jahre ging, die uns euer Führer versprochen hatte; gerade die Liquidierung weiterer Völker nach den Juden, auch der Tschechen, war doch in Salzburg bereits eine beschlossene Sache! Aus der heutigen aufgeklärten Perspektive kann die Vernichtung von Dresden und Hiroshima als ein barbarischer Akt erscheinen, nur bin ich nicht der Einzige, der noch den Schrecken fühlt, in dem Sie uns gehalten haben, und deshalb weiß ich, dass dies das äußerste Mittel war, um euch Barbaren unschädlich zu machen. Und ein Ausdruck dieses anhaltenden Schreckens war auch jener Umstand, den Sie Vertreibung und wir Abschiebung nennen.

Hier lässt sich noch anfügen, dass der Vorstoß, nach sechzig Jahren eine Annullierung des Transfers zu fordern, auf der Potsdamer Konferenz durch »Die Großen Drei« verabschiedet wurde, und im gleichen Atemzug auch die Rückerstattung des konfiszierten Eigentums beanspruchen zu wollen, sehr dem Versuch nahekommt, die Aufhebung des Westfälischen Friedens und die Rückgabe der Rudolfinischen Sammlung zu verlangen, die von den Schweden in Prag erbeutet wurde. Zumal es absurd ist, dass ausgerechnet diejenigen, die die Folgen des Krieges zu ihren Gunsten revidieren wollen, ihn anzettelten, auf die barbarischste Art und Weise führten und gerade deshalb bedingungslos kapitulieren mussten.

Die bedingungslose Kapitulation bedeutete in der Geschichte immer, dass sich die Besiegten den Besiegern auf Gnade und Ungnade ergeben. Dazu muss man noch anmerken, dass die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wurde, davon zeugte, wie groß beziehungsweise wie klein die Sieger doch eigentlich waren!

Als schlagendes Argument, das jegliche Gründe entkräftet, mit welchen die Deutschen aus der Tschechoslowakei noch heute ihre Wahl von Adolf Hitler rechtfertigen, reicht ein einziges Dokument, das damals in Europa jedem bekannt war. Die Zeitgenossen, die das vergaßen oder bisher nicht davon wussten, mögen nun den ganzen Satz der Reichsgesetze beurteilen, die in Nürnberg verlautbart wurden, ganze drei Jahre bevor der bewaffnete sudetendeutsche Kampf um die Rückkehr »heim ins Reich« begonnen hatte. Die tschechoslowakischen Bürger deutscher Nationalität mussten gewusst haben, was sie forderten, spätestens dann, als sie stürmisch Hitlers ›Anschluss‹ von Österreich als Vorbild ihrer eigenen Zukunft feierten. Dazu kam es am 12. März 1938, und schon zwei Wochen später brachten die österreichischen Tageszeitungen auf der Titelseite die Meldung, die auch den Nachkommen eigentlich schon alles sagen müsste:

Was Heiratslustige wissen müssen!

Erklärt werden die Gesetze aus dem Jahr 1935, die automatisch zum Rechtsbestandteil der Ostmark wurden, in die Österreich sich so gerne verwandelte. Mit sofortiger Wirkung müssen daher auch alle österreichischen Verlobten einen Ariernachweis vorlegen, damit das zuständige Amt entscheiden kann, ob sie das Recht haben, eine gesetzliche Ehe zu schließen.

Die Hälfte der Zeitungsseite nehmen Tabellen mit grafischen Abbildungen ein, die erlaubte, bedingt erlaubte oder verbotene eheliche Zusammenschlüsse veranschaulichen und mit einem rechtsverbindlichen Kommentar begleiten! Gerade diese Grafik ist eines der erschütterndsten Bilder des Nationalsozialismus!

Dieser Rechtsakt, der mit seinen Anforderungen und Normen jene von Züchtern reinrassiger Hunde übertrifft, bleibt bis heute die schreiendste Anklage aller Mitglieder und Wähler der Sudetendeutschen Partei, die bei Hitler und den verblendeten europäischen Pazifisten den Anschluss großer historischer Gebietsteile des böhmischen Königreichs an das Dritte Reich durchsetzte. Wer einer so entarteten Regulierung der menschlichen Gesellschaft vor einer jungen, und daher noch schwachen, aber funktionierenden Demokratie den Vorzug gibt, trägt selbst auch noch Jahrzehnte danach eine Schuld und versucht vergeblich, Ursachen und Folgen zu vertauschen.

An dieser Stelle darf allerdings auch nicht fehlen, dass unser Mann als Widersacher der sudetendeutschen Funktionäre schon längst den Aufstieg der Westdeutschen aus der Blutjauche der dreißiger und vierziger Jahre zu einer der am besten funktionierenden Demokratien der Welt für ihre größte politische Leistung hält. Sie wurden auch zu einem lebenden Beispiel für Gesellschaften, die aus dem Lügensumpf des Pseudosozialismus aufstiegen, das heißt auch für die unsrige.

Conditio sine qua non, eine einschränkungslose Bedingung ist gleichzeitig das Summa summarum für die ganze Erste Republik und den Zweiten Weltkrieg: sich Klarheit verschaffen über die eigene Geschichte, tabuisierte Themen anpacken und den falschen Heiligenschein ablegen. Die Tschechen beispielsweise von ihren Legenden befreien, wie heldenhaft ihr Volk gegen die Besatzer kämpfte, wo sich doch nur ein paar hundert heimische Widerstandskämpfer und einige Zehntausende Auslandssoldaten dafür einsetzten, während Millionen zu Hause aus Angst, oder damit sie größere Zuteilungen und Erholungsurlaub bekamen, ihren Mund hielten, genauso wie später in den unvergleichbar leichteren Zeiten der Normalisierung unter Husák. Und auch die Vorstellungen, dass sie gute Sieger waren, als sie dem Gesindel, das vorher meist fleißig kollaborierte, erlaubten, sich im Nachhinein Alibis für Verbrechen zu verschaffen, die sie an entwaffneten und unschuldigen Deutschen begangen hatten. Das hat die tschechische Gesellschaft bisher nur teilweise geschafft, und sie soll sich nicht damit entschuldigen, dass sich die militanten Sudetendeutschen bis jetzt um gar nichts bemüht haben. Ihr österreichisches Presseorgan »Sudetenpost« wird noch im nächsten Jahrhundert alle vierzehn Tage auf den meisten seiner Seiten zur Schau tragen, dass die Geschichte für sie erst im Mai 1945 einsetzt und sie alles verdrängen, was davor geschehen ist. In einer endlosen Serie, die sogar den Titel »Der Völkermord an den Sudetendeutschen« trug, wurden dem nationalsozialistischen Terror in der besetzten Tschechoslowakei einschließlich der Vernichtung von Lidice nur ein paar Absätze gewidmet!

Ein eigenes Kapitel, das anständig abgeschlossen werden muss, bleibt die Pflicht und Schuldigkeit gegenüber denjenigen sudetendeutschen, deutschen und österreichischen Antifaschisten, die mit ihrem Widerstand gegenüber Hitler und den fanatisierten Landsleuten das größte Risiko auf sich nahmen. Sie haben der Tschechoslowakischen Republik einen ungleich größeren Dienst erwiesen als die kollaborierenden Tschechen, wurden nach dem Krieg aber dennoch abgeschoben, gefoltert oder gar getötet. Die Haltung vieler heimischer Politiker, die sich noch Jahre nach der Erneuerung der Demokratie bemühen werden, dass den wenigen Übriggebliebenen weder Entschuldigung noch Dank widerfährt, wird peinlich und abgeschmackt sein, da sie die niedrigsten Instinkte unwissender, dummer oder auch in kriminelle Machenschaften verstrickter Leute bedient. Neben der Deutsch-Tschechischen Erklärung, die eine gegenseitige Schuldzuweisung für die Vergangenheit künftig ausschließt, gibt es wohl auch eine nationale Moral, die ohne eine Wiedergutmachung historischen Unrechts einfach nicht auskommt!

Übrigens, was das Klavier der Hirschs angeht: Etwa einen Monat nach dem Krieg klingelte jemand bei den Kohouts in der Zikmund-Winter-Straße 19. Die Mutter schrie im Flur so laut auf, dass ihr Sohn losrannte, um sie gegen eine vermeintliche Gefahr zu verteidigen. Sie lag jedoch nur in den Armen einer unbekannten älteren, blassen und abgezehrten Frau, in der er Eva Hirsch kaum wiedererkannte. Auch ihr Vater hatte sich retten können, und er schickte sie nun vor, um herauszufinden ... Sie war rot und fragte stotternd, ob sich die einstigen Nachbarn denn erinnern würden, dass sie ihnen etwas zur Aufbewahrung gegeben hatten. »Wie, ob wir uns daran erinnern? Was heißt denn ›etwas‹?«, rief die Mutter, »Ihr habt doch den Flügel, die Teppiche und das Bild hier!« Eva sagte unter Tränen, dass viele andere sich an nichts mehr erinnern konnten. Die Möbelträger ließen später das Bild mit der Lichtung und dem Schnee an der Wand hängen, angeblich zur Erinnerung an die Hirschs. Niemals wird jemand in der Familie auf die Idee kommen, nachzuforschen, wer der Maler ist und welchen Wert es hat.

Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel

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