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2. Kapitel

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Der Polenbub wird tschechisiert

Es ist Sonntag oder Feiertag, ich weiß es nicht mehr, ich bin schon drei Jahre alt und spiele in unserer Villa, die im Warschauer Żoliborz in der General-Zajonczek-Straße liegt, als der eben noch heitere Himmel pechschwarz wird und ganz in der Nähe ein Blitz einschlägt. Nie mehr hat mich in meinem Leben etwas so geblendet wie dieser grelle Strahl, der Himmel und Erde, wie mir schien, unendlich lange vereinte, und nie mehr habe ich ein fürchterlicheres Geräusch gehört als das, was folgte: Da zersplitterte die große Glastafel in der französischen Tür, als Baryk in panischer Angst durch sie hindurchsprang. Stellen Sie sich das Bild vor: Direkt vor mir bricht mit einem großen Knall eine Glaswand in sich zusammen und im grellen violetten Lichtschein fliegt durch die Luft zu mir mit wehenden Ohren und phosphoreszierenden Haaren – wer, wenn nicht der Teufel?

So erinnert sich die fiktive polnische Schriftstellerin in meinem Drama Zyanid um fünf an ihre Kindheit, aber der stattliche Hund Baryk lebte tatsächlich, und diese Szene spielte sich genauso ab. Die Villa stand im polnischen Kurort Oświęcim, und das Kind mit der blonden Tolle auf dem Kopf hieß in Wirklichkeit Kohout Pavel, auch Pawlik oder Pawlitschek genannt. Es ist seine früheste abrufbare Wahrnehmung, und er wird sich noch viele Jahre vor Hunden fürchten, bis ihn vor seinem Vierzigsten der erste Dackel mit dem treffenden Namen Adam für immer an jene Spezies bindet. Aber das war auch der einzige Makel an dem Gefühl des langen und ungetrübten Glücks, das von drei geliebten Gesichtern getragen wurde: dem des Vaters, dem der dicke samtweiche Pelzkragen so gut stand, dem der Mutter, bisweilen geheimnisvoll durch eine breite Automobilbrille verdeckt und dem von Nána; sie war eine polnische Bauersfrau, die sich um die Villa, den Garten, den Hund und hauptsächlich um das Blondchen mit der flotten Haarwelle kümmerte. Um eine ausreichende Zahl an Cabriolets und Limousinen der Marke Praga, die er im südlichen Polen vertrat, verkaufen zu können, musste der elegante und witzige Otomar Abend für Abend Gesellschaften besuchen – dies erleichterte ihm seine hübsche und fröhliche Gattin Ludvíka, geborene Ťalská, die sogar erfolgreich die ersten Autorallyes fuhr.

Wo kamen sie her, bevor sie sich das Jawort gaben? Wer entsandte die beiden in die Welt und bestimmte so ihr Schicksal und Wesen, bevor sie beides an ihren einzigen Sohn weitergaben?

Über den Vater des Vaters, der sechs Sprösslinge in die Welt setzte, legt die ehrwürdige k.u.k. Oesterreichische Zeitschrift für Berg- und Hüttenwesen in Nummer 24 des dreiundvierzigsten Jahrgangs vom 15. Juni 1895 Zeugnis ab. Johann Kohout, bezeichnet als »Aut. Bergingenieur und Betriebsleiter in Karwin«, schildert eingehend die Ursachen und den Verlauf des gewaltigen Bergwerkunglücks sowie die anschließenden Aufräumarbeiten, zu dem es in Karwin am 14. Juni 1894 in den Gruben des Grafen Larisch-Mönnich kam und bei dem er, wie es ihm seine Funktion gebot, als Rettungsleiter tätig war. An diesem Tag verwaisten etwa eintausend Kinder von zweihundertfünfunddreißig tschechischen, deutschen und polnischen Bergleuten und Technikern.

Der Enkel erbte von der Mutter seines Vaters, Marie, die er als Kind immer begeistert besucht hatte, neben dem Rezept für sein heiß geliebtes Gericht, schlesische ›Linsen mit Reis‹, auch eine Messinglampe von Großvater Jan mit einem feinen Schutznetz gegen Methangas und der eingravierten Aufschrift Direktor, mit der er während jener tragischen Stunden in den Schacht fuhr, bevor er selbst schwer verletzt wurde. Später wird sie dauerhaft den von Vater Otomar geerbten Bücherschrank in Wien schmücken und zum Symbol jener Sympathien werden, die sein Enkel für die Atomenergie hegt; sie werden ihm dauerhafte Probleme einbringen, weil er in Österreich mit ihnen nahezu allein bleibt.

Mutters Vater war Bankdirektor, zunächst in Tábor, wo sie geboren wurde, und danach sogar in der Prager Gewerbebank, in der er nach und nach die Hälfte seiner Kinder unterbrachte, von welchen es, wie es dem damaligen Durchschnitt entsprach, auch sechs an der Zahl gab. Zuvor noch gelang es den Söhnen, sich gegenseitig zu bekriegen, der eine war Soldat der kaiserlichen Majestät, zwei weitere wurden Legionäre unter Professor Masaryk. Der jüngste von ihnen, Karel, lehnte sich später gegen die Deutschen auf und fiel für sein Vaterland auf dem Richtplatz in Prag-Kobylisy. Der kleine Bub schöpft seine Erinnerung an Großvater Vilibald Ťalský nur aus vergilbten Fotografien: Ein standesgemäß gekleideter beleibter Mann mit einem Zwicker auf der Nase trinkt Sprudelwasser an der Kolonnade in Karlsbad, wo sein Enkel ungleich mehr erleben sollte; er wird dort unter anderem seinen Militärdienst ableisten, ein paar Stücke nebst erster Prosa schreiben und zum dritten Mal heiraten.

An seinem Vater Otomar kommt ihm am wundersamsten vor, dass er bei seinem abenteuerlichen Flug durch das Leben und die Welt überhaupt heiratete, dass er sich dafür von allen Frauen, die ihn bis zum Tod umschwirren sollten, gerade jene aussuchte, die er dann heiratete, und dass er als Sechsunddreißigjähriger die Zeit und vor allem die Lust fand, mit ihr einen Sohn zu zeugen, der ihm nachhaltig die Flügel band. Der Student der Handelsakademie unternahm 1914 einen Ferienausflug ins damals russische Warschau, wo ihn der Beginn des Weltkriegs einholte. Just an diesem Tag kaufte er sich einen Amethystring, der in Polen rynk kavalierski genannt wird und signalisiert, dass sein Träger Personen weiblichen Geschlechts voller Wohlwollen alles anbietet – außer der Ehe. Seine Freudenfeiern zog er um ein paar Stunden in die Länge, die ihn dann zwar ein paar Jahre kosteten, ihn dafür aber mit einer ungeheuren Erfahrung für den Rest seines Lebens ausstatteten. Die Zarenregierung schottete die Grenzen urplötzlich komplett ab und erklärte auch den jungen Studiosus aus Prag zum Zivilgefangenen. Als ein Graschdansko-plennyj machte er eine unfreiwillige, dennoch einzigartige Sonderfahrt die ganze sibirische Magistrale entlang. Der bewachte Transport wurde im entlegenen Wladiwostok einfach aufgelöst und man wies die Gefangenen an – o tempora, o mores! –, sich irgendwie durchzuschlagen und sich einmal im Monat bei der Polizei zu melden.

Dem jungen Mann half es, dass er Buchhaltung, Sprachen und das Wodkatrinken beherrschte. Beim Sohn, der das Schmuckstück erbte und es innerhalb der Familie zum Wanderring erklärte, bleiben einige suggestive Schilderungen haften, zum Beispiel, warum der Vater die feste Stelle des Kassierers in einer Firma, die Holzbrücken für die Eisenbahn baute, aufgab: Er musste mit ansehen, wie man von den Baustellen Material abzog, so dass ihm der örtliche Brauch einigermaßen schwerfiel, wonach die Bauherren jede neue Brücke persönlich überqueren und dicht vor dem ersten Zug hergehen mussten, der die Belastbarkeit prüfte. Daher nahm er bald das Angebot irgendeines mongolisch-chinesischen Zirkus an, mit dem er Russland in der entgegengesetzten Richtung durchpilgerte. Das Kriegselend dokumentierte er in seinen späteren Berichten unvergesslich mit dem Bild eines Zuckerkegels, der über dem Samowar im Speisezelt hing, damit jeder vor einem bitteren Schluck Tee wenigstens daran schlecken konnte.

Gern erzählte er, wie er während des Bürgerkriegs einen roten Kommissar vor den weißen Kosaken in einem Kamelfell versteckte und ihm so das Leben rettete. Gerade dank dieser Tat durfte er als einer der wenigen Tschechen über die neue polnisch-sowjetische Grenze nach Hause zurückkehren.

Ein ähnlich großzügiges Schicksal, das auch sein Sohn erleben wird, brachte ihn bald nach seiner Rückkehr mit einem der damaligen gesellschaftlichen Dandys zusammen, dem fast gleich alten Grafen Kolowrat. Ganze sieben Jahre arbeitete er für ihn als Sekretär, und man kann sich vorstellen, worauf das in Prag hinauslief, das nach zwei Jahrhunderten der Germanisierung und hundert Jahren nationaler Wiedergeburt allmählich lernte, sich weltläufig zu geben. Es war vermutlich diese Bekanntschaft, welche dem jungen Otomar zur Geschäftsvertretung der tschechischen Automobilmarke Praga verhalf, die der Graf favorisierte. Das unvorhergesehene Erdbeben der Weltwirtschaftskrise liquidierte den jungen Direktor gleich nach seinen Kunden; Anfang der Dreißiger holte er, der nun zu den anderthalb Millionen Arbeitslosen zählte, seine Frau sowie sein Polenbüblein nach Prag zurück. Aus dem Letzteren machte die Prager Schule schnell ein tschechisches Kind; die Münchner Krise und ihr Sieger, der deutsche Führer, machten noch während seiner Kindheit einen politischen Tschechen aus ihm, genauer gesagt einen Tschechoslowaken! Als erwachsener Mann wird er begreifen, dass er dem Führer auch Stalin zu verdanken hat, den Hitler ihm als Befreier von den Besatzern und dann als Befreier von der Freiheit herbeirief.

Die Rückkehr nach Prag war für den Vierjährigen ein Schock. Anstatt der Villa mit Garten ein Zimmerchen, das ursprünglich für die Dienstmagd bestimmt war und das der nette Onkel Josef seiner notleidenden Schwester zur Verfügung stellte; sein dankbarer Neffe wird sich nach vierzig Jahren revanchieren, wenn er ihn, abgeschoben in ein stadtnahes Altenheim, Woche für Woche rasiert. Wie sich die Familie dank zweier fleißiger und begabter Menschen wieder aus ihrer notdürftigen Lage aufzuschwingen begann, gehört zum Genre der klassischen Arbeiterliteratur. Die Gemahlin des Direktors vergisst ihren Stolz und strickt und strickt und strickt Pullover, Schals, Mützen und Handschuhe für hiesige Metzger, Schreibwarenhändler und Schuster, der polnische Salonlöwe kommt und geht, um sich vorzustellen und abermals vorzustellen, bis ihn vielleicht die vereinte Bewunderung der Chefsekretärinnen in die Tschechoslowakische Handelskammer befördert, und von da an bringt ihn sein Talent bereits in eine leitende Position, dieses Mal in das moderne Gebäude der Prager Mustermessen.

Kurz vor dem Krieg ernannte man ihn zum Generaldirektor der Firma Ossa, die einen Fabrikenkomplex im Prager Stadtteil Vysočany besaß. Der erhaben klingende lateinische Name bedeutet schlicht »Knochen«, und um nichts anderes ging es auch; der Vater leitete das wohl am meisten stinkende Unternehmen im Lande, welches aus den ekligsten Abfällen einen betäubend riechenden Leim und eine geschmacksfreie Gelatine für Feinkostprodukte herstellte.

Sobald sein Sohn anfängt, aus dem eigenen Leben eine Bilanz zu ziehen und schrittweise die einzelnen Summae summarum zusammenzuzählen, wird er bis zum Überdruss proklamieren, dass das schicksalhafte Versagen des Kapitalismus, das er an seiner eigenen kindlichen Haut miterlebte, die früheste Motivation gewesen war, die ihn gleich nach dem Krieg zusammen mit seinen Eltern in die kommunistische Partei führte.

Einstweilen befinden wir uns allerdings noch tief in Masaryks Vorkriegsdemokratie, und der Junge leidet vor allem daran, dass er ein Kümmerling ist.

Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel

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