Читать книгу Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel - Pavel Kohout - Страница 6
1. Kapitel
ОглавлениеEr + ich = wir
Geschichten, gleichermaßen literarische wie menschliche, müssen, auch wenn sie sich dem Ende zuneigen, das an ihnen scheinbar wenig zu ändern vermag, noch nicht unbedingt ihren Sinn erkennen lassen. Bei manchen wird er erst in der Schlussszene oder gar mit dem allerletzten Satz sichtbar.
Jede menschliche Existenz ist so zufällig und in ihrem Wesen so sinnfrei, dass es lediglich am Träger liegt, welchen Inhalt er ihr in der vom Schicksal vorgegebenen Zeit gibt. Einfach ausgedrückt: auf welche Weise er sein Leben überlebt. Mein Instinkt sagte mir sehr bald, dass mich das Eintreten in andere Geschichten, wahre wie auch erfundene, egal ob als Leser, Autor oder auch als Akteur, von meiner eigenen Last der Sterblichkeit wenigstens zeitweilig befreite. In den Zeiten dazwischen stellte ich mich jedoch selbst dar, und als extrovertierter Mensch pflegte ich von Natur aus eher leidenschaftlich übertrieben als vorsichtig aufzutreten, daher ist mein Lebenslauf so unausgeglichen. Ich bemühe mich, ihn hier übersichtlich zu erfassen, sein Sinn entzieht sich meinem Urteil, das den Zuschauern und Kritikern vorbehalten bleibt.
Über vieles, worauf ich hier als Chronist meiner selbst stoße, um es in neuen Zusammenhängen zu beurteilen, schrieb ich bereits Ende der sechziger Jahre im Tagebuch eines Konterrevolutionärs und Ende der achtziger in meinem Buch Wo der Hund begraben liegt. Beide Werke belegte man mit der Bezeichnung ›Memoiroman‹; ihre Form ist literarisch, ansonsten sind sie aus demselben Stoff wie das dritte: das eigene Leben, das von seinem Inhaber nach weiteren zwanzig Jahren erneut betrachtet wird. Aber: War mein Leben wirklich das, was ich nun aus dem zugeschütteten Schacht mit Unterstützung von Notizbüchern, Archiven, Erinnerungen und mit Hilfe meiner Kritiker, die hier zitiert werden, wieder ans Tageslicht befördere? Manchmal kommt es mir so vor, als hätte es mehrere dieser Leben gegeben, oder dass ich in meinem Körper nicht allein war ...
Dieser Rückblick wird nur gelingen, wenn er von den Gepflogenheiten üblicher Memoiren abweicht und den Helden wenigstens in zwei teilt, der in seinem Geburtsland neumodisch als ›kontrovers‹ bezeichnet wird. Der eine sei er, der andere ich, wir können ohnehin nicht geheim halten, dass wir beide es sind, die wir durch einen unverwechselbaren Charakter zusammengewachsen sind wie siamesische Zwillinge.