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20. Kapitel
ОглавлениеDie armen Teufel, zu allem fähig
Bereits am 12. Mai desselben Jahres machte es dem Autor eine andere Funktion möglich, eine weitere Front zu eröffnen. Das Zentralkomitee des tschechischen Jugendverbandes, das ihn im vorigen Jahr für die Künstler in sein Präsidium hinzugewählt hatte, traf sich in ungewohnter Umgebung: Die jungen Eisenbahner hatten für die außerplanmäßige Sitzung einen Saal auf dem Prager Hauptbahnhof zur Verfügung gestellt. Beim Lärm und Quietschen der bremsenden und anfahrenden Züge und im dichten Nebel des Zigarettenrauchs – damals qualmte fast jeder! – verlor man langsam die Geduld. Die ›gewöhnlichen‹ Mitglieder, Schlosser und Maurer, Melkerinnen und Weberinnen, die für ähnliche Gremien seit Jahren von oben als stumme Statisten eingesetzt worden waren, um bei kleinsten Andeutungen zu applaudieren und beim Abstimmen die Hand zu erheben, sprachen zum ersten Mal frisch von der Leber weg. An diesem Tag fanden sie zur Bestürzung der Apparatschiks ihre eigene Sprache und ihre Forderungen. Sie erinnerten mahnend an die erste französische Ständeversammlung, als diese die Agonie der Monarchie witterte. Die Vorschlagskommission, für die auch der Dramatiker von den Aufständischen nominiert und gewählt worden war, vermerkte für die Resolution gewagte Forderungen; sie versprachen, die abgestorbene Organisation in eine agile demokratische Gemeinschaft zu verwandeln, die ihr Programm und auch ihre Vertreter ohne die Vormundschaft der Partei selbst bestimmen sollte.
Die bisherigen Vorstände packte das blanke Entsetzen. Die überzüchteten Kaninchen schrumpften und verwandelten sich in Mäuse, die bereit waren, alles zu tun. Dann aber retteten sie sich mit einem Trick, der in seiner Einfachheit schon wieder genial war. Da man wie gewohnt von einem formalen Ablauf der Sitzung ausging, rechneten die regulär beschäftigten Delegierten nur mit dem Wochenende. Am Sonntagabend aber musste die Mehrheit schon wieder dringend nach Hause und zur Arbeit. Niemand protestierte, als das Präsidium vorschlug, das Treffen zu unterbrechen. Mit Blick auf die schon fortgeschrittene Stunde war es angeblich nicht möglich, Ort und Zeit der Folgesitzung unmittelbar festzulegen, wo man die Resolution zu Ende bringen würde. Die Rebellen verpflichteten blauäugig die Vorschlagskommission, dies im Sinne der Diskussion auszuführen.
Gleich am folgenden Morgen begann die Massage. Ohne den Rückhalt des Plenums verwandelten sich die meisten Kater in Kätzchen, die von der Angst befreiten Mäuse wuchsen zu Ratten heran. Die gewohnte Abstimmungsmaschinerie überrollte die Minderheit in der Kommission, beraubte die Resolution jeglicher Schärfe und verwandelte sie in das übliche Blabla. Dieser Riss wird nie mehr gekittet, er wird allmählich zur Abberufung des Dramatikers vom Präsidium des Jugendverbands und dann auch zu seiner Entfernung von allen Kandidatenlisten führen. Das nächste Plenum des Zentralkomitees traut sich schon nicht mehr, etwas zu korrigieren, weil man wieder unter massiver Überwachung durch die Partei in einer veränderten politischen Landschaft zusammenkommt: im Herbst 1956, nach den blutigen Ereignissen in Ungarn.
Noch im Sommer des bewegten Jahres schien es, als würde der mächtige Druck der Entstalinisierung nicht nachlassen. Da begann man die ungekürzte geheime Rede schon in den Basisorganisationen der Partei zu verlesen, und die Wirkung glich einem massenhaften Katzengejaule. In diesem Zeitraum kam es zur Teilung der Kommunisten für die kommenden drei Jahrzehnte: Die Bruderschaft der Schuldigen schloss einen Pakt, der zwölf Jahre später in der Not die sowjetischen Panzer herbeirufen wird. Der Klub der Zyniker entschied, sich nach der Redewendung zu verhalten »Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert«. Und die schicksalhafte Gemeinschaft derer, die es begeistert gestatteten und sogar besangen, beriet sich verzweifelt und stritt, wie man aus dieser Blutlache herauskommt. Diese Fragen wurden in schlaflosen Nächten für manche so unerträglich, dass sie den Gashahn aufdrehten oder den Abzug einer Waffe drückten.
Immer wenn die Geschichte des Kommunismus in Böhmen an diesem Punkt angelangt ist, wird eine Unzahl an Zeitgenossen und Nachkommen die logische Frage stellen: Warum hat es uns, warum hat es mich konkret nicht dazu gebracht, dieser verhunzten Partei den Rücken zu kehren? Was haben wir in ihr gesucht, was habe ich in ihr weiterhin zu suchen gehabt? Damals antwortete mir der Instinkt darauf, und auch über den Abstand der Zeit hinweg finde ich, dass das richtig war. Wenn man die damalige Partei den Verbrechern und Zynikern überlassen hätte, wäre als Folge davon eine zehn Jahre länger andauernde Phase der ›Normalisierung‹ am wahrscheinlichsten gewesen, während jeden Aufstand eine totale Niederlage erwartet hätte. Schon drei Jahre zuvor hatte die Welt erfahren, wie schnell der Arbeiteraufstand in Ostberlin ausgeblutet war. Nun war sie machtloser Zeuge eines neuen Scheiterns geworden. Auf den Volkszorn, der während der Industriemesse in Posen durch den Unwillen der polnischen Regierung hervorgerufen wurde, aus den Enthüllungen in Moskau Konsequenzen zu ziehen, antwortete Polens Verteidigungsminister, den weiterhin der sowjetische Marschall Rokossowskij stellte, mit dem Einsatz der Armee; nachdem die sechzig Toten und dreihundert Verletzten beiseite geschafft worden waren, ging die Messe weiter, als wäre nichts geschehen.
In der Tschechoslowakei erschien es hingegen am effektivsten, die andauernde Lähmung der hauseigenen Dogmatiker auszunützen und den Gang der Dinge dort zu ändern, wo er unheilvoll war, also direkt im Herzen der Partei. Dieser Gedanke gab Kraft für den Kampf um die Reform. Den Dramatiker hatten dafür kurioserweise gerade die zwei Jahre beim »Stachelschwein« trainiert. Der wesentliche Unterschied lag darin, dass die kritisierten Leiter der Genossenschaftsläden oder die Direktoren staatlicher Betriebe von den höchsten Funktionären abgelöst wurden, die sich umso hartnäckiger verteidigten, weil es bei ihnen um alles ging: Sie hatten wirklich blutbeschmierte Hände. Sein Ringplatz sollte deswegen wieder die altbewährte Bühne auf den Weinbergen werden. Sieben Tage und Nächte lang schrieb er seine erste ›böse Komödie‹ mit dem Titel Der arme Teufel. Der anfangs harmlose Kleinganove Břetislav Chrt erregt das Mitleid seiner Umwelt so lange, bis er auf seiner Karriereleiter hoch genug geklettert ist, um seine naiven Gehilfen erbarmungslos zu vernichten.
Dieses Mal ging es um nichts weniger, als die Neuausgabe des gescheiterten stalinistischen Systems mit dem durchtriebenen Decknamen ›Kollektive Führung‹ unter die Lupe zu nehmen, und deshalb ist das Stück ein Text des Wandels, der den Dramatiker in künstlerischer Hinsicht weitaus früher befreite, als es sein politisches Bewusstsein schaffte.
Auf den ersten Termin nach der Prager Premiere wartete eine Reihe von Regionaltheatern. Nur dass gerade dieses Stück als Einziges noch vor seiner Aufführung verboten wurde. Nach der wiederholten Genehmigung durch die oberste politische Verwaltung der Armee, die erstaunlicherweise wie ein einäugiger König unter den Blinden übriggeblieben war, kam ein plötzliches Nein! direkt vom Zentralsekretariat der Partei. Oder es war eher ein russisches Njet!, weil der Kreml gerade am Tag der Leseprobe eine weitere Tragödie zu schreiben begann.
Bis zu dieser Zeit hatte die beinahe wunderbare Entwicklung in Ungarn die Herzen aller Hoffenden emporgehoben. Das heimische Fernsehen ging zwar verdächtig sparsam mit den Bildern um, aber die tschechischen Rundfunksendungen aus dem Westen schafften es, dass die Menschen feuchte Augen bekamen, wenn die bewegenden Szenen der Verbrüderung der ungarischen kommunistischen Reformführer mit dem ganzen Volk geschildert wurden. Zuerst klang es so, als wäre die Entwicklung, die Chruschtschow vor acht Monaten eingeleitet hatte und die Imre Nagy gleich unerschrocken fortsetzte, durch nichts und niemanden mehr aufzuhalten. Dann schien es, als würde ein anderes Ensemble über Nacht anfangen, ein ganz anderes Stück zu spielen. Der ausländische Rundfunk bestätigte, was das tschechische Fernsehen schon vorsorglich als Warnung den dieses Mal erschrockenen Augen nahezu wohlgefällig anbot: Auf den Budapester Laternenpfählen brannten Menschen. Den grauenvollen Gestank lebender Fackeln in Prag im Mai 1945 konnte der Dramatiker immer noch wahrnehmen. Damals verbrannten die Tschechen die Deutschen, dieses Mal verbrannten die Ungarn die Ungarn. Auch dort vollzog die Straße den Akt der historischen Gerechtigkeit auf mörderische Art und Weise. Nikita der Furchtlose begann, einen Putsch der Stalin-Abkömmlinge zu fürchten, und schickte Panzer nach Budapest. Das nachfolgende Massaker war der schlagende Beweis, dass der Weg zur Freiheit nicht über die Barrikaden führt.
Der Dramatiker und seine nahen Freunde bestärkten sich wie Tausende von Gesinnungsgenossen gegenseitig in der Annahme, dass man in diesem gespaltenen, aber immer noch mächtigen Verein bleiben und für ihn gemeinsam eine Grundlage schaffen müsse, wenn man einen gangbaren Weg aus der historischen Falle finden wollte. Ein Ausstieg hätte damals bedeutet, dass gerade die ihre Positionen räumen würden, die die ganze Gesellschaft von dem Maulkorb und der Leine des Totalitarismus befreien wollten und auch konnten. Zu bleiben erforderte natürlich auch, sich taktisch zu verhalten. Es ist schön, Liebe und Wahrheit zu predigen, sollten die jedoch je Hass und Lüge besiegen – das wissen alle, die es probiert haben! – geht es nicht ohne Zugeständnisse und Geduld. Es graute ihnen vor den steigenden Zahlen der Toten von Berlin über Posen bis nach Budapest. Und eine Warnung war auch das Resultat der unterdrückten Widerstandsversuche, das überall gleich war: der Terror ultrakonservativer Kräfte. In der Tschechoslowakei, die erst anfing, sich aus deren Umklammerung herauszumanövrieren, durften sie keinen Vorwand bekommen, der sie wie in Ungarn berechtigt hätte, sowjetische Hilfe einzuholen!
Daher bemühte sich auch der Dramatiker bis zum Äußersten, seine Möglichkeiten auszuschöpfen, überschritt sie aber niemals waghalsig. So dass er auf keinem Forum ein Blatt vor den Mund nahm, aber auch keine Forderungen erhob, die in der jeweiligen Situation abenteuerlich gewesen wären. Darüber zu urteilen steht anderen zu. Hoffentlich beurteilen sie den ganzen Zeitraum anhand des Ergebnisses – des immer wohnlicheren Klimas der sechziger Jahre. Dass die Taktik der stillen ›Palisadenöffner‹ erfolgreich war, davon zeugt auch der Satz, mit dem der nichtsahnende Leonid Breschnew die Strategie des ›Prager Frühlings‹ absegnet, als die Reformer den Thron Antonín Novotnýs ins Wanken bringen: »Eto wasche djelo« – das ist eure Sache! Und dies bekundet auch die großartige Einheit, mit der die Bevölkerung der Tschechoslowakei ihre Okkupanten im August empfängt.
Eines aber bekennt auch der erwachsene Mann offen: Das wirtschaftliche und politische Versagen des Vorkriegssystems hat ihn in seiner Jugend zu sehr geprägt, als dass er sich hätte wünschen können, sein Land solle so mir nichts, dir nichts zum Kapitalismus zurückkehren. Der Glaube an die Möglichkeit irgendeines besseren dritten Weges wird um so stärker sein, als schon damals zahlreiche westeuropäische Länder auf ihn zusteuerten, indem der Kapitalismus durch den dauerhaft gleichbleibenden Druck der Gewerkschaften und auch der immer häufiger werdenden Regierungsbeteiligung der Linken sozial kultiviert wurde. Dass es übrigens im Jahre 1968 nicht mehr um weitere fromme Wünsche ging, sondern um die Suche nach konkreten Ausgangspunkten von dauerhafter Gültigkeit, bestätigt sich auch, wenn auf tschechischem Boden nach dem Jahr 1989 das kapitalistische System erneut errichtet wird, und zwar in einer Spielart, die vor allem den Schwindlern und den Finanzschurken entgegenkommt: Schon nach ein paar Jahren erzwingt die Mehrheit der Wähler neue Debatten über einen besseren Weg, indem sie die Sozialdemokraten und leider wieder auch die Kommunisten zurück in den Ring lässt. Aber das ist aus Sicht des Jahres 1956 eine absolute Utopie ...