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3. Kapitel
ОглавлениеFreud und Leid des kleinen Kümmerlings
Nachdem unser Pawlik die ganzen damaligen Kinderkrankheiten – Diphtherie, Masern, Windpocken und Co. – nacheinander bekommen hatte, war er so schwach, dass ihn seine Mutter hin und wieder auf dem Rücken in die zweite Klasse der Volksschule tragen musste. Er fühlte sich gedemütigt, mehrfach versteckte er sich während der Pause hinter den Mänteln in der Kleiderablage, um seinen Traubensaft wenigstens nicht vor den Mitschülern trinken zu müssen oder gar – Schande, Schauer und Schauder, der schiere Schrecken! – Lebertran.
Mit Rücksicht auf seinen jämmerlichen Zustand konnte ihn seine Mutter nicht einmal verprügeln, so dass sie auch nur im Stillen am Verzweifeln war. Die Weihnachtsfeste des Knaben wurden traditionell von einer eitrigen Angina begleitet, und vor dem Ersticken rettete ihn jedes Mal ein chirurgischer Schnitt im Hals, der aus irgendeiner ärztlichen Erwägung heraus ohne Narkose vollzogen wurde. Als sich die schmerzhafte Bescherung zum dritten Mal wiederholte, hatte der Himmel mit dem Jämmerling Erbarmen, und das Christkind legte ihm, während er beim Herrn Doktor litt, ein herrliches Puppentheater unter den Weihnachtsbaum, ja, das Christkind!, denn dieses Geschenk überstieg eindeutig die finanziellen Verhältnisse. Erst viel später wird ihm seine Mutter gestehen, dass sie und der Vater sich in der ganzen Familie Geld zusammengeliehen hatten.
Das Theater war mit einem Dutzend Kulissen – dem Fond, vier Seitenstützen und auch einer Soffitte – prunkvoll ausgestattet; zum Mobiliar gehörten der Königssaal, die Bauernstube, der dichte Wald, die Höhle und die Hölle, wo sich die meisten klassischen Puppenstücke abspielen, und ein Ensemble von etwa zwanzig Drahtfigürchen samt einem Spielkreuz, mit dem die Handgelenke und die Knie durch Fäden verbunden waren. All dies wurde von elektrischer Beleuchtung gekrönt, nicht einmal ein Reflektor mit Farbfiltern fehlte! Es war ein wunderbares Theater, das viele Jahre seinen Dienst tat, und dennoch geriet es irgendwie in Vergessenheit, so dass man gar nicht mehr zurückverfolgen kann, zu welchem Zeitpunkt dies eigentlich geschah. Es fiel wohl der pubertären Eruption zum Opfer, wo auf einmal nahezu alle Requisiten der Kindheit verschwinden, um durch die neuen Utensilien des Erwachsenwerdens ersetzt zu werden. Als die erste ernste Kulturinstitution, in deren geräumigem Rumpf sowohl die Dekorationen als auch die Puppen das Meer der Zeit durchschwommen hatten, sticht sie dem aus dem unfreiwilligen Exil Heimkehrenden erst im Jahre 1990 ins Auge, als er sie, in verblasstes Packpapier gewickelt und mit Bindfäden umschnürt, auf einem ausgemusterten Schrank in der Garage der kleinen Villa in Sázava mehr erahnt als entdeckt.
Die Befürchtung, dass er anstelle der leuchtenden Erinnerung nur deren klägliche Überreste auspacken könnte, wird ihn bis heute davon abhalten, die kostbare Reliquie herunterzunehmen und auszupacken. Mögen die Erben ihr doch eine würdige Feuerbestattung gewähren!
Ein oder zwei Jahre später tauchte an Weihnachten ein Wunder der modernen Technik auf: eine schwarze Blechwalze, in der eine Glühbirne so stark brannte, dass sie oben einen kleinen Schornstein brauchte, damit die Hitze nach draußen entweichen konnte. Der Projektionsapparat, Laterna magica genannt – die Bezeichnung wird viel später noch kommerziell verwertet! –, trug zwei Spulen vor sich, zwischen welchen sich mit Hilfe einer Kurbel glänzende Zelluloidschlangen über das Objektiv wickeln ließen. Zu alldem brachte das Christkind noch eine weiße Leinwand, die sich wie ein Rollladen ausziehen ließ, und vor allem auch zwei Filme: Auf einem tobten ein dicker und ein dünner Herr, die sich andauernd aus Tolpatschigkeit so wehtaten, dass der Bub trotz seiner Schmerzen lachen konnte; das ganze Leben lang wird er, wann auch immer Laurel und Hardy auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm erscheinen, innerlich beben, oft auch vergeblich, wenn er darauf hofft, denselben Spaß wie damals erleben zu können. Auf der zweiten Spule kam ihm sein nur um ein paar Tage jüngerer Altersgenosse entgegengelaufen, der anders als er niemals altern wird, die berühmteste aller Mäuse, Mickey Mouse, samt dem arglistigen Enterich Donald und dem dümmlichen Hund Pluto. Wenn es dem Vater danach war, drehte er schneller an der Kurbel, und da musste man schon vor Lachen weinen!
Ehrlich gesagt, er war ein bei weitem besserer Vater, als es sein Sohn je werden sollte. Es verging kaum ein Sonntag, wo er ihn nicht in den größten Prager Park, den Baumgarten Stromovka, mitgenommen hätte, wo es ihm selbst bei der Zeitungslektüre gelang, auf die nicht versiegenden Fragen des Jungen geduldig zu antworten und ihm sogar eine Mnemotechnik beizubringen, so dass dieser von nun an alle Telefonnummern immer in Zahlenpaare aufteilen und sie mit historischen Jahreszahlen besetzen wird, damit sie ihm im Gedächtnis haften bleiben. Mindestens einmal im Monat nahm der Vater seinen Nachkömmling ins ›Reich der Puppen‹ in der Stadtbibliothek mit, wo er ihm den Sitzplatz so einstellte, dass er gut sehen konnte, und nach dem Schauspiel holte er ihn wieder ab, um an seinen Eindrücken teilzuhaben; viel später wird dem Sprössling ein Licht aufgehen, dass der Vater derweil wohl galante Intermezzi hatte. Nach einem halben Jahrhundert geht er mit der Tochter seiner Stieftochter dorthin, die intelligent gearbeiteten anpassungsfähigen Sessel trifft er immer noch funktionsfähig an, und als er sich nach dem Stück hinter die Bühne zu den versammelten alten Puppen und Kulissen gesellt, wird er, ohne lange zu überlegen, sagen können, was in welchem Stück vorkam. Bald darauf spült das tausendjährige Wasser der Moldau diesen bis dahin unversehrten Ort der Kindheit für immer fort.
Die frühesten Erinnerungen haben auch einen Klang. So läutete zum Beispiel eine gellende Stimme den Frühlingsanfang ein; in den Höfen inmitten des Häuserblocks verkündete sie Dutzenden Mietsparteien, dass sie mit ihrem Hausgeschirr nach unten kommen können, um es dort sofort draaahten und löööten zu lassen! Ein Geselle aus der Slowakei trat auf das Pedal, setzte sein Schleifrad in Bewegung, und zu beiden drängte sich eine Schar Hausfrauen mit Messern und Steintöpfen, die ein Draht gerade noch vor dem Zerspringen bewahrte. Und mindestens einmal im Monat ertönte die immer gleiche Melodie eines umherziehenden Harmonikaspielers, worauf aus den Fenstern aller Stockwerke Zeitungsschnipsel hinabflogen, in welche die damals noch wertvollen Zehnhellerstücke eingewickelt waren.
Das Radio, ein solch neues Wunder, dass es auch die Eltern faszinierte, blieb dem Jungen am stärksten im Gedächtnis haften und beeinflusste ihn am intensivsten. Viel früher, noch bevor ihn das Kinderensemble im tschechischen Rundfunk wie ein Magnet anzieht und damit eine lebenslange Bindung schafft, wurde das Radio zum unzertrennlichen Begleiter in seiner einzelkindlichen Einsamkeit. Sobald er gelernt und seine Hausaufgaben erledigt hatte, drückte er sein Ohr an den Kasten, zu dem ihn schon allein das geheimnisvoll grün leuchtende magische Licht lockte, und er lauschte und lauschte. Bei Hörspielen saß er wie angewurzelt vor dem Empfänger, lange bevor er selbst im Rundfunk in Kinderrollen auftreten sollte.
Nachträglich scheint es ihm, dass die heute schon längst vergessene Institution, der sogenannte ›Schulfunk‹, während der ganzen fünf Jahre in der Volksschule das wichtigste Medium seiner und nicht nur seiner Erziehung war. Morgen für Morgen erschallte, kurz nachdem die Lehrer die Klassen betreten hatten, ein Klopfen am Mikrofon, und aus dem quadratischen Lautsprecher neben dem Porträt des Präsidenten Masaryk und später dem von Beneš ertönte ein »Hallo, hallo, hier ist der Direktor unserer Schule, liebe Schüler, heute hört ihr ...«, und dann folgten die Titel: Slawische Tänze, Mährische Duette, Mein Vaterland, Aus der Neuen Welt, von all dem zwar nur Passagen, die nach fünf Minuten ins Nirgendwo entschwanden, damit man zum eigentlichen Unterricht übergehen konnte, mixed pickles, ein Mischmasch, aber doch ein tagtägliches Eintauchen in die tschechische Musik, die folgerichtig zur musikalischen Begleitung seiner Kinderjahre wurde, um welche die nachkommenden Generationen betrogen werden sollten. Dank der damals aufgeklärten Lehrpläne lässt die Musik auch weiterhin nicht ab, auf den Bub einzuwirken, da capo al fine!
Der Erwachsene fängt jedes Mal an, die Erinnerung regelrecht zu riechen, wenn er das weiße Bauhaus-Gebäude der Tschechischen Nationalgalerie am Messegelände betritt; sie wird einen eindringlichen Geruch von Parkettpolituren oder Waschmitteln ausströmen. Als sein Vater Administrator der Prager Mustermessen war, zog sich durch die hinreißende mehrstöckige Halle, vor der sich damals sogar Le Corbusier verneigte, ein Band von Ausstellungsständen verschiedenster Firmen. Wenn der Junge mitgehen durfte, um farbige Reklamezettel, Aufkleber, Abdrücke oder Muster zu sammeln, wurde er dort, wo sich dereinst die ständige Ausstellung der modernen Kunst ausbreiten wird, der Obhut einer molligen Blondine oder einer schlanken Brünette anvertraut, die bei den Kojen der Firmen Pexider (Pasten) und Pilnáček (Seifen) repräsentierten.
Der Nachkomme, der dies gerade auf dem stilvoll geschnitzten väterlichen Schreibtisch der altehrwürdigen Wiener Firma Gerstl schreibt, der ihn zusammen mit dem Sessel und dem Bücherschrank das ganze Leben hindurch begleiten und danach mit seinem Sohn Ondřej zu ihm zurück nach Wien emigrieren sollte, sieht sich allzeit in Gedanken bei demselben damals noch neuen Tisch im Zimmer des Vaters, wie er verzweifelt auf das leere Papier starrt und fragt: »Vati, worüber soll ich schreiben?« Und er, der stets etwas studiert oder liest, hat immer ein Thema für ihn parat. Die stolze Mama gab dann dem Papierhändler Herrn Chroust aus der Nachbarstraße irgendetwas zum Lesen. Der hagere Mann im blauen Arbeitsmantel, der auf einer Leiter sein Leben zu fristen schien, wie er da in seinem kleinen Laden unentwegt Waren aus steil bis zur Decke steigenden Schubfächern herunterholte, war der Erste, der dem jungen Poeten ein Honorar anbot, wenn er Verse für seine Ausmalbilder dichtete. Die einzigen beiden Zweizeiler, vom Katerchen und vom Kätzchen, welche er hervorbrachte, reichten für ein Buch noch nicht aus.
Seine Mutter sang gerne und gut. Am meisten Volkslieder, hauptsächlich aus der Region um das hussitische Tábor, wo sie geboren wurde, und aus Polen, wo sie am glücklichsten gewesen war. Allmählich kamen Arien aus tschechischen Opern oder politische Couplets hinzu, die sie jedes Mal bei ihrer nächtlichen Heimkehr aus den Theatern vor sich hin trällerte und sich gleich auf Schellackplatten besorgte. Ihr Sohn kennt bis heute beinahe alle auswendig. Dem schlossen sich Melodien mit unbekannten Wörtern an, die ihn, wenngleich er sie in verballhornter Form bei sich abgespeichert hatte, daran erinnern, in welch wunderbarer Stadt der Städte er damals lebte, »Adjööömeinkleiiinergardeoffiziiiier« oder »Laaachebajaazzooo!« je nachdem, ob die Eltern in der jüdischen großen Operette oder im Opernhaus des erhabenen »Neuen Deutschen Theaters« gewesen waren. Prag konnte sich damals aus eigener Kraft internationale Konkurrenz verschaffen! Das wird den Jungen ein halbes Jahrhundert später auf die Idee bringen, aus der das »Prager Theaterfestival deutscher Sprache« entsteht.
Im fortgeschrittenen Kindesalter spielte sich auch eine Episode mit dauerhaften Auswirkungen ab. In einer Krisensituation, als sich der Orthopäde entschied, radikal gegen den runden Rücken des kleinen Lazarus vorzugehen, begann ihm sein Vater fortlaufend Rostands Cyrano de Bergerac vorzulesen. Der in die Jahre gekommene Junge kann sich die bittersüße Situation heute noch lebhaft vorstellen: Er liegt hinter dem Paravent, in der Küchenecke der kleinen Wohnung, wie immer nachts mit Riemen am Bogengestell des harten Gipsbettes festgebunden, um es sich nicht heimlich bequem machen zu können, und in seine Seele dringt die Geschichte des fechtenden Dichters, dessen »Schicksal ist, stets der zu sein, der vorsagt und den man vergisst«, womit die eigene Armseligkeit übertönt wird. Cyrano sollte ihn schon bald als Dichter, Dramatiker und Schriftsteller auf ewig mit seiner schwarz-weißen Ethik und schreiend farbigen Ästhetik positiv wie auch negativ prägen. Cyranos trotzigen Monolog aus dem zweiten Akt mit dem Refrain »Nein, niemals« wird er sich später immer wieder in den Dienststellen der tschechoslowakischen Staatssicherheit im Geiste aufsagen.
Wie soll ich’s halten künftig?
Mir einen mächtigen Patron entdecken
Und als gemeines Schlinggewächs dem Schaft,
An dem ich aufwärts will, die Rinde lecken?
Durch List empor mich ranken, nicht durch Kraft?
Nein, niemals! Oder soll ich, wie so viele,
Ein Loblied singen auf gefüllte Taschen,
Soll eines Hofmanns Lächeln mir erhaschen,
Indem ich seinen Narren spiele?
...
Nein, niemals, niemals, niemals! – Doch im Lichte
Der Freiheit schwärmen, durch die Wälder laufen,
Mit fester Stimme, klarem Falkenblick,
Den Schlapphut übermütig im Genick,
Und je nach Laune reimen oder raufen!
Ein ›kontroverses‹ Paar stellten auch seine Großmütter dar, die weitaus länger lebten als die Großväter. Der Enkel liebte kindlich naiv die Mutter seines Vaters, vor der Großmutter mütterlicherseits hatte er irrationale Angst. Die erste kochte jene ›Linsen mit Reis‹ für ihn, ein Gericht, das bis heute seine Gäste aufgrund des Namens abschreckt, dann aber durch Aussehen wie auch Geschmack Begeisterung hervorruft; Feinschmecker finden das Rezept in Wo der Hund begraben liegt. Die zweite drängte den kränklichen Bub, Rhabarberkuchen zu essen, damit er sich wieder aufrappelte. Er fürchtete sich vor jedem Besuch bei ihr, weil er in einem modrig riechenden Jugendstilesszimmer aushalten musste, solange er nicht ganz zu Ende gekaut hatte. Niemals wird er den furchtbaren Abend vergessen, an dem sich die Großmutter nicht abhalten ließ, aus dem fernen Stadtteil Kobylisy mit der Straßenbahn quer durch ganz Prag bis nach Bubeneč zu fahren, um der Mutter den Blumentopf vorzuführen, in den der kleine Betrüger ein Stück Kuchen unter die Pelargonie gestopft hatte.
Der Kleine war auch ängstlich, tolpatschig und verschämt. Zu seinem Glück musste er im Sommer 1936 aus der privaten Ferienanlage, genannt Camp Allen bei Ledeč nad Sázavou, vorzeitig abgeholt werden, weil er sich schwer erkältet hatte, als er nachts beim Schein einer Taschenlampe über die Baumwurzeln auf dem Waldweg holperte, der vom Städtchen in die Zeltkolonie am Flussufer führte. Die beeindruckende Vorstellung des Puppenspielers Matěj Kopecký, die von Petroleumlampen am Bühnenrand erleuchtet war, wird ihm in fiebriger Erinnerung bleiben. Aus den zwei nachfolgenden Sommerzeltlagern der Organisation Junger Christen YMCA sandte er wie sein Idol Cyrano aus Arras täglich Korrespondenzzettel mit einer bereits vorgeschriebenen Adresse, die statt Roxane den Eltern gehörte, und als Christian wiederholte er in ihnen stets: Ich habe Euch gern! Zudem beschwor er sie immer wieder vergeblich: Holt mich hier ab!
Sein Ausflug durch Prag wurde zur Familienlegende; er sollte zum Legionärsonkel Jindra und der wunderbar großmäuligen Tante Anka fahren, die an Silvester 1935 auf ihn aufpassen sollten, damit sich die Eltern amüsieren gehen konnten. Die Fahrt mit der Straßenbahn wurde im Voraus hin und zurück eingeübt, die Mutter gab ihrem Sohn die ganze Zeit moralische Rückendeckung durch ihre Anwesenheit in der zweiten Hälfte des damals schon modern aufgeteilten Waggons, den man U-Boot nannte. Die selbständige Fahrt endete in einem Fiasko, der Reisende kam schon vom Wenzelsplatz mit der Behauptung zurück, dass »drei Männer mit Blechkannen« ihn böse angeschaut hätten. Das Zitat fungierte zu Hause jahrelang als Bezeichnung für einen Zustand höchster Bedrohung. Aber die größte Erniedrigung erlebte der Junge, als ihn die Mutter mit einem Saft aus Holunderblüten zu ›Onkel Eman‹ schickte.
Der straffe und stämmige Emanuel Procházka kämpfte als tschechoslowakischer Legionär in Italien, und wenn man ihn darum bat, wies er stolz seine Kniekehle vor, wo ihm der Splitter eines österreichischen Schrapnells ein geradezu Shylock’sches Pfund Fleisch herausgerissen hatte; im Nachhinein erscheint er wie ein Freund der Mutter, der sie wohl am ehesten von den väterlichen Seitensprüngen heilte. Das Mietshaus mitsamt dem Kino stand als letztes am äußersten Rand des damaligen Prag an der Endstation der Straßenbahnlinie 23. Und der Holunderblütensaft wurde aus einer Mischung von Zucker, Wasser und drei bis vier großen gelblichen Blütenrispen hergestellt, diese musste ein paar Wochen in Fünf-Liter-Gurkengläsern gären, bevor sie auf Dreiviertelliterflaschen umgefüllt wurde. Ein Dutzend von ihnen bekam der Junge in zwei Taschen eingepackt, damit er sie seinem Onkel mit der Straßenbahn bringen konnte. Niemandem kam in den Sinn, dass schon die Hälfte der kurzen Strecke ausreichen würde, um in den durchgeschüttelten Flaschen Sprengstoff entstehen zu lassen. Zunächst flog ein erster, dann noch ein zweiter und ein dritter Stöpsel aus den Flaschenhälsen, gefolgt von einem Geysir aus süßem Schaum, der sich anschließend auf dem Träger und den Herumstehenden niederließ. Der Schaffner des Waggons fing an, wild an der Glockenschnur zu ziehen, so dass der Fahrer des Motorwagens heftig auf die Bremse trat. Weitere Fontänen schossen mitten in die Reisenden, die massenhaft zu Boden stürzten, aber da wurde der unschuldige Täter samt seinen Taschen zum ersten Mal aus der anständigen Gesellschaft ausgestoßen, so wie es ihm noch mehrmals im Leben widerfahren sollte. Zu seinem Ziel gelangte er per pedes, nur mit einem kümmerlichen Saftrest, dafür weinend und von einer solch harten Zuckerschicht überzogen, dass sie sich erst unter der heißen Dusche aufweichen ließ.
Die geradezu unüberschaubaren Flächen mit Bauparzellen, die gleich hinter dem Haus begannen und ihren Charakter als einstige Felder und Wiesen nicht verleugnen konnten, wurden zum Eldorado des Jungen und zu dem Ort, wo zum ersten Mal der Wetteifer in ihm ausbrach. Bald war er der Meister im Murmelspiel, so dass er kurz darauf nur noch riskant mit Glasmurmeln warf, von denen jede einen Tauschwert von zehn Tonkugeln besaß. Als er auf dem Gipfel seines Ruhmes angelangt war, wurde er zu seinem Leidwesen von einer Bande böser Jungs seines ganzen Schatzes beraubt. Schon damals zeigte sich, was ihm offenkundig angeboren war: Jede Wiederholung sollte ihn langweilen, daher ließ er seine Murmelkumpels links liegen und erschien mit Pfeil und Bogen samt Strohzielscheibe auf den Parzellen. Eine dunkle Erinnerung drängt sich ihm auf, dass er seine Ausrüstung an niemanden verlieh, damit ihn keiner übertreffen würde. Anerkannter Champion wurde er dann im Münzenprägen. Die Hellerstücke, die man aufs Gleis legte, sahen, nachdem die Straßenbahn darübergefahren war, tatsächlich wie alttschechische Silberlinge aus und wurden auf den Parzellen zum begehrten Zahlungsmittel, um das man beim Münzwerfen spielte. Der kleine Junge tauschte für seine erste Sucht mindestens eine von fünf Kronen ein, die er allwöchentlich fürs Schuheputzen und Geschirrwaschen bekam. Bald spürte er mit innerster Gewissheit, die ihn sein Lebtag begleiten sollte: dass er niemals etwas gewinnen würde. Deshalb hörte er damals und für immer mit Glücksspiel und Wetten auf.
Was den schulischen Fortgang betrifft, so entsprach er der Formel ›Einzelkind aus guter Familie‹: Im Zeugnis lauter Einsen bis auf zwei Zweien, im Turnen und im Zeichnen. Das letztere Fach entwickelte sich zu einem wahren Leidensweg in der Prima des Realgymnasiums, wo sie der aufbrausende Professor F. X. Böhm unterrichtete. Er fühlte sich nicht nur, wie es seine Initialen andeuteten, als Künstler, sondern er besaß auch ein Patent für teure Malstifte, die sich »Efixböhms« nannten und die nur risikofreudige Eltern ihren Sprösslingen sich vorzuenthalten trauten. Zu solchen gehörte auch die Mutter des Jungen, die an die Gerechtigkeit glaubte. Als sie sah, wie ihr Kleiner zum fünften Mal verzweifelt eine griechische Amphore malte, weil der schreckliche Mann alle vorherigen Versuche durchgestrichen hatte, veranlasste dieses Unrecht sie dazu, sich dem Lehrer, allen flehentlichen Bitten des Sohnes zum Trotz, vor dem Unterricht in den Weg zu stellen. Auf dem Gehsteig vor der Schule sahen Dutzende wartender Schüler, wie der Pädagoge mit einem neuen Kunstwerk über seinem Kopf wedelte und dabei rief: »Gnädige Frau, das ist keine Amphore, das ist ein Arsch!« Der Himmel sollte es dem armen Jungen damit vergelten, dass er dereinst für das Gebiet der bildenden Kunst einen Malersohn haben wird.
Die Höllenangst vor jeder Stunde in der Turnhalle, wo sich nicht nur die Ringe, der Bock, der Kasten und der Balken in Folterwerkzeuge verwandelten, sondern auch eine gewöhnliche, vom Schweiß tausender Leiber bis in die letzte Faser verhärtete Matte, auf der er keine Rolle schaffte, führte zu einem überraschenden Ende: Der kleine Junge entschied sich, kein Kümmerling mehr zu sein. Seine sportliche Karriere nahm er auf dem Sportplatz der Schule in Angriff, wo er ganz allein nach dem Unterricht die Latte beharrlich immer wieder auf die Ständer legte und sich in den Sand fallen ließ, der auch noch zu Hause von ihm herabrieselte, so lange, bis er sich am Ende des Frühlings von einhundert Zentimetern auf einhundertunddreißig hochschwingen konnte. Im Herbst begann er Schlittschuh zu laufen, und weil das Eisstadion zu teuer war, lief er am liebsten auf der Moldau, die vor dem Bau der Staudamm-Kaskade so dick zufror, dass schwere Walachen Pritschenwagen mit Fässern aus der Brauerei in Smíchov über das Eis an das rechte Ufer und aus der konkurrierenden Brauerei in Braník wieder zu den Trinkern an das linke Ufer schleppten. Zur gleichen Zeit begann er auch Ski zu fahren. Die Bretter schnallte er sich direkt vor Onkel Emans Haus mit Riemen an gefütterte Schuhe, rutschte auf ihnen über die Gleise der Linie 11 und stieg gleich den freien Hügel hinauf, wo er durch menschenleeres Terrain im Schuss bis ins Tal hinabfuhr; eines Tages werden auf dieser Piste einhunderttausend Prager wohnen. Wie jeden Skifahrer kostete ihn damals diese eine Minute glückseligen Flugs eine Viertelstunde beschwerlichen Anstiegs. Im Jahr darauf spielte er schon Eishockey. Auf den Wendepunkt all dieser Bemühungen, den Sturzflug auf Skiern in Harrachov, wird man noch rechtzeitig zu sprechen kommen. Der Gipfel besteht in der Entscheidung des Sechzigjährigen, täglich ausgiebig zu turnen und die Einheiten mit jedem weiteren Jahr – zu verringern? Falsch, zu erhöhen! Der Kümmerling würde staunen.
Eine Kette von Krankheiten und Operationen in Verbindung mit dem Spott der mitleidslosen Altersgenossen führte dazu, dass sein Minderwertigkeitsgefühl wuchs und er sich häufig in die Einsamkeit flüchtete. Damit überhaupt jemand mit ihrem armen Jungen sprach, wenn sich schon niemand danach sehnte, mit ihm befreundet zu sein, lud seine Mutter einmal in der Woche selbst zu einem nicht allzu reich gedeckten Tisch die noch ärmeren Mitschüler aus der Holzbarackenkolonie ein, die dort stand, wo sich heute das nun schon wieder veraltete postmoderne Hotel Diplomat neben dem immer noch modernen Gymnasium aus den dreißiger Jahren befindet.
Die armen Jungs verschlangen das Mittagessen, packten ihre Schildmützen und rannten dann hinaus, um sich über Erdhügel, Löcher und Gräben zu den riesigen, damals noch unbebauten Parzellen zu schleichen; dem kleinen Jungen blieben wieder nur Bücher und Schreibblöcke übrig. Damit versorgten ihn seine Eltern fleißig. Aus der bekannten Reihe Bastel es dir selbst! kaufte ihm sein Vater den Band Mach dir deine eigene Zeitung! Als ihm der Sohn dann feierlich die maschinengeschriebene Ausgabe der Zeitschrift »Studiosus« vorstellte, besorgte er ihm auch eine kleine Vervielfältigungsmaschine. Diese funktionierte mit Matrizenfolien, in welche die Schreibmaschine ohne Schreibband die Buchstaben ›setzte‹ und sie so perforierte. Die Seiten wurden auf eine Walze gespannt, die die Farbe auf das Papier durchdrückte – die Mutter war am Verzweifeln, dass sie auf jeglichem Textil wie Pech und Schwefel hielt! Die Matrize ließ erst nach sechzig Umdrehungen nach, eine ausreichende Auflage für die ganze Klasse und die Verwandten, die allerdings als Vorläufer künftiger Sponsoren für diese einzigartige Drucksache blechen mussten. Die Korrekturzeichen, aus jener lehrreichen Publikation übernommen, werden den angehenden Literaten das ganze Leben lang begleiten, wurden daher auch beim Anfertigen dieses Schriftstücks benützt.
Die Bücher führten dazu, dass der Junge, der endlich robuster wurde, zum Glück rechtzeitig ein weiteres Unvermögen in sich entdeckte. Unweit seiner Wohnung hatte ein Buchhändler seinen Laden, den er gerne besuchte, da jener für einen Pappenstiel zerfledderte Romanhefte, Detektivfälle von Charlie Chan und Kriegsabenteuer des Piloten Biggles anbot. Diese Erinnerung taucht auch heute noch auf, wenn jemand über die Kinder zetert, welche den Schund der Gegenwart, vor allem den des Fernsehens, gierig in sich aufnehmen; kaum einer konsumierte mehr Mist als unser kleiner Junge, und siehe da, schon zweimal fand er Eingang in die Lesebücher und schon einmal wurde er aus ihnen wieder gestrichen! In dem kleinen Laden tauchte plötzlich ein volles Regal mit gut erhaltenen Büchlein im sogenannten Kolibriformat auf, welche die Lebensbeschreibungen tschechischer Geistesgrößen enthielten. Als der Buchhändler das Interesse des Kleinen wahrnahm, bot er an, ihm alle auf Lager befindlichen Exemplare für lediglich zwei Kronen zu verkaufen, damit er sie begierigen Schülern für fünf Kronen weiterverkauft, folglich mit einem Gewinn von hundertundfünfzig Prozent. Der künftige Unternehmer leerte voller Eifer seine Sparbüchse, wo er sein Taschengeld hortete, damals schon sieben Kronen pro Woche und dazu verschiedene Prämien für kleine Gefälligkeitsdienste oder etwaige Schulerfolge. Seine hundert Exemplare schaute er dann zu Hause gebannt wie eine Lebensversicherung an, eigentlich wollte er sich von ihnen gar nicht trennen. Er musste es auch nicht. Er verkaufte kein einziges, auch wenn er sie letztendlich aus Verzweiflung für jeweils eine Krone anbot! Von da an war ihm wiederum ein für allemal klar, dass er sich niemals seinen Lebensunterhalt durchs Geschäftemachen verdienen könnte.
Der Vater musste auch ein ausgezeichneter Pädagoge gewesen sein, da der Sohn einige seiner Anweisungen, Ratschläge und Sprüche erfolgreich seinem Sohn und noch dem Sohn seines Sohnes vermachen wird. Auch sie werden den Frauen in den Mantel helfen. Auch sie werden beim Trinken unbeirrt zwei Grundregeln einhalten – stets dabei mäßig zu essen und niemals den Geist unter den Alkoholspiegel sinken zu lassen, also darauf zu achten, noch denken und sprechen zu können. Weil der Junge ferner ein Aufschneider war, der häufig den Pluralis majestatis benützte, um sich als Erster unter Gleichen erkennbar zu machen, widmete ihm sein Vater folgendes Gleichnis: Auf der Moldau schwimmen die Äpfel und dazwischen wird ein Scheißhäufchen angeschwemmt; als sich alle gemeinsam der Karlsbrücke nähern, von wo aus einige Leute auf den Fluss schauen, fängt das Scheißhäufchen an, begeistert zu winken und zu rufen: »Wir Äpfel schwimmen!«
Auf höchst einfallsreiche Weise servierte sein Vater ihm Maupassant, Dickens, Cervantes, Čapek und weitere Autoren seiner Wahl, indem er sie in die hintere Reihe seines Bücherschranks neben das Dekameron platzierte und sie zu libri prohibiti erklärte. Die verbotenen Früchte wurden jeden Abend, wenn beide Eltern weggingen, eifrig konsumiert, so dass der Junge gleich in mehrere Richtungen grundlegende Informationen bekam, vor allem aus Der Hausarzt, in dem verschiedenste sehr interessante Organe, vorzugsweise weibliche, detailliert abgebildet waren. Buchstäblich in natura, das heißt in belebter Natur, führte sie ihm dann der ältere Cousin Jiří vor, später führender Gastroenterologe an der Karlsuniversität: Er lockte den Jüngeren, wenn er im Vorort Spořilov auf ihn aufpassen sollte, in das nahe gelegene Wäldchen, wo er für ihn von seinen heimlichen Beobachtungsposten aus mit Hilfe eines Fernglases die Aktivitäten der sich liebenden Pärchen fachmännisch kommentierte; er bestätigte damit den wachsenden Verdacht seines Schutzbefohlenen, wonach Kinder keinesfalls von der Vogelwelt oder von der Post gebracht werden, sondern auf jenen Unterschied zurückgehen, den er bei den Mädchen – scharfsinnig wie er war – schon vor seiner Aufklärung wahrnehmen konnte. So flammte das erotische Feuer im Leben des Jungen auf.