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11. Kapitel

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Blühende Fantasie

Auch die treuesten Freunde sagen dem älteren Alter Ego manchmal gutwillig die Verse auf, an denen sich das jüngere versündigt hat. Bis heute fühlt er zwar die Wahrhaftigkeit in den früheren Gedichten, aber vom ferneren Ufer des Lebens aus ist es für den Älteren längst uneinsehbar geworden, welcher Idee diese Erstlingsverse gedient haben.

In ein paar Jahren wird auch dieser junge Mann schon von sich aus wissen, dass er mit seinen Versen, vereint mit anderen Dichtern, unbewusst einen Vorhang aus Trugbildern gesponnen hat, hinter dem schon die nächste Diktatur den echten, eisernen Vorhang für seine gerade erst befreite Heimat vorbereitete. Wenn er heute seine ersten Verse liest, und es ist bezeichnend, dass er sich dazu zwingen muss, erstarrt er jedes Mal, weil er sieht, wie das verhältnismäßig kunstfertige Handwerk den ärmlichen Inhalt verdeckt; sie bergen wohl genauso viel Geheimnisse wie ein Kreuzworträtsel, sie erreichen das Niveau einer Werbung, die höchstens die primären Sinneswahrnehmungen von Gleichgesinnten zu bedienen weiß. Mit zeitlichem Abstand fällt es nicht schwer, die Hauptursache darin zu finden, dass das begeistert angepriesene Produkt – der alle menschlichen Probleme lösende Kommunismus – nur in frommen Vorstellungen existierte.

Umso mehr kann man von diesen Fantasien, leider ähnlich infizierten, in vielen Begleittexten, Briefen und Tagebüchern finden; nach Jahrzehnten aus der Versenkung hervorgeholt, muten sie wie von der Ebbe entblößte Frutti di mare am Strand an, sie schauen unappetitlich aus und riechen übel. Der junge Dichter, bisher politisch nicht aktiv und in keinerlei Funktionen einbezogen, nahm zwar an konkreten revolutionären Akten nicht teil, in seinen pompösen Erstlingsversen trägt er jedoch offen seinen blinden Glauben zur Schau, indem er sich auch damit identifiziert, wovon er keine Ahnung hat, was aber in sein Gedankensystem passt. In einer ähnlichen Überzeugung wird er sich alsbald noch in einer direkten Rundfunkübertragung »das Geständnis der Verschwörer des feindlichen Zentrums um Slánský und Co.« anhören, ohne den geringsten Verdacht zu schöpfen, dass es sich um ein einstudiertes Grand-Guignol handelt, ein blutiges Schauertheater, in dem nur der Henker seine tatsächliche Aufgabe verrichtet. Die Ungläubigen werden darin später eine Ausrede, wenn nicht gar eine Lüge sehen. Ist jedoch das Fehlen eines kritischen Intellekts oder die intellektuelle Unfähigkeit, sich eine Information über ein umstrittenes Ereignis einzuholen, eigentlich nicht trister und verurteilungswürdiger? Er wird sich selbst als Exilant davon überzeugen, wenn die linken Eliten des Westens zur Zeit der ›Normalisierung‹ den ›realen Sozialismus‹ der tschechoslowakischen Bonzen tolerieren oder gar verherrlichen und seine Kritiken boykottieren.

Summa summarum: Der erwachsene Nachfolger des jungen Mannes, der dem Trugbild auf den Leim gegangen ist, kann sich die Ohnmacht und die Trauer der wahren Dichter jener Zeit wie auch den heimlichen Hass und Hohn all derjenigen vorstellen, die die missratene Revolution bereits überrollen konnte. Nicht die vom November 1989, die wahrlich keine sein wird, wenn sich das geschwächte Regime von sich aus wie eine Dirne dem Volk anbiedert, sondern die von 1945, die vergewaltigt, ermordet und vergraben wurde, damit ihre falsche Doppelgängerin der Gesellschaft gerade das wegnahm, was sie ihr im Gegenzug eines mehrheitlich ausgesprochenen Wahlvertrauens im Jahre 1946 zusicherte: die nationale, soziale und geistige Freiheit.

»Etwas ist faul im Staate Dänemark!«, wie Hamlet sagt. Wo ist der Anfang jenes Kreises, in dem die Dichter und die Geschichte miteinander verbunden sind? Die Fernsehmoderatorin des TV-Magazins Einundzwanzig leitet im September des Jahres 2001 ihr Interview mit folgender Frage an den Dreiundsiebzigjährigen ein: »Bedrückt es Sie eigentlich, dass Sie beim Aufbau dieses verbrecherischen Regimes mitgeholfen haben?« Weil im eingespielten Bildbeitrag, der schon ein halbes Jahrhundert alt ist, Tausende jubelnder Altersgenossen in Scharen vorbeimarschieren werden, kommt er sich für einige Sekunden als der Große Puppenspieler vor, der die Volksmassen mittels Fäden lenkt. Das Gedächtnis einer Generation, von der zum Glück noch viele am Leben sind, täuscht allerdings über eines nicht hinweg: Unter all diesen bombastischen Wörtern und Ritualen herrschte in den ersten Nachkriegsjahren eine ungefälschte und selbstlose Begeisterung.

In den Jahren 1945 bis 1948 ein junger Kommunist zu sein, als der offene politische Kampf noch voll im Gange war, brachte einen Berg an Pflichten mit sich und nicht den geringsten Vorteil, schon gar keinen materiellen. Die Losung des kommunistischen ›Mainstreams‹, der damals auf eine magische Art und Weise die Dörfer mit den Städten und die Fabriken mit den Schulen verband, um das Land, das sechs Jahre lang im Kriegssterben gelegen hatte, wieder zum Leben zu erwecken, lautete: »Mehr Arbeit für die Republik, das ist unsere Politik.« Im Falle unseres jungen Mannes hieß es, jeden zweiten Samstag die Gruben von Kladno zu befahren, im Zechhaus und im hinabfahrenden Fahrkorb vor den alten Bergleuten den Angeber mit Nerven wie Drahtseilen zu geben und dann sechs Stunden lang unter jeder angebrochenen Kappe oder beim kleinsten Geräusch im Hangenden in Angst zu verharren, bis sie sich später in der Kantine erkenntlich zeigen und ihm Bier und Salzheringe bestellen, gut, dass er sich dies noch eines Tages im Roman Ich schneie zunutze machen wird! Und weiter galt es, vor den Auftritten auf den ›Bauten der Jugend‹ eine normale Maurerschicht zu absolvieren. Oder gemeinsam mit den späteren Zuhörern auf dem Land die Garben vom Feld zu ernten. Den Nachkommen aus der Internetzeit wird jedoch gerade diese unbezahlte Freiwilligenarbeit am verrücktesten erscheinen.

Der Kampf richtete sich gegen die Nachfahren derer, die den vorangegangenen Weltkollaps verschuldet hatten: gegen die Kriegshetzer, die asozialen Ausbeuter und die Unterdrücker menschlicher Freiheitsrechte. Die Zielobjekte der radikalen Globalisierungsgegner werden sich an der Jahrtausendschwelle kaum von denjenigen der tschechoslowakischen Jugendverbandsmitglieder unterscheiden. Auch ihre Vorgänger, von der Schicksalsgöttin der Begeisterung betört, hatten eine Psychose heraufbeschworen, die bald sie selbst betäubte und blendete, so wie es die wahren Puppenspieler der großen Politik nach dem klassischen Vorbild »Teile und herrsche!« für die Umsetzung ihrer Ziele brauchen. Aber paradoxerweise wird gerade die ursprüngliche Ehrlichkeit der Absichten dazu führen, dass eine Menge anständiger Kommunisten in den sechziger Jahren die Verantwortung für ihre verrohten Führer übernimmt und der Mehrheit der Bürger auf riskante Art und Weise die Festung ihrer Partei und des ganzen Regimes öffnet – von innen heraus!

Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel

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