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19. Kapitel

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Wofür, Genossen?

Dieser Aufschrei gehört zu der zeitgenössischen Karikatur, auf der ein betrunkener Kommunist verzweifelt an einem vergitterten Kanaldeckel rüttelt. Millionenfach schrien ähnlich die gemarterten Opfer, die tatsächlich von irgendeiner Mutter Revolution verschlungen wurden. Die frische heimische Revolution zehrte nach der ersten Aufwallung nicht mehr am Fleisch, umso mehr jedoch an Geist und Seele.

Man schreibt das Jahr 1954. Auf einem Sommerübungslager der Armee stehen die Manöver bevor. Gleichzeitig spitzt sich der Konflikt zwischen dem Kommandanten der Maschinengewehrkompanie, Leutnant Zábrana, und Major Cibulka, dem stellvertretenden Regimentskommissar für politische Angelegenheiten, zu. Im Zuge einer Schikane verbietet dieser dem jungen Offizier, seine hochschwangere Ehefrau zu besuchen. Zábrana, zudem noch von einem Armee-Journalisten verleumdet, verlässt in einer Kurzschlussreaktion die Einheit. Für die Fahnenflucht droht ihm eine drakonische Strafe. In diese Handlung tritt der Divisionskommissar Oberst Sova ein und stellt die Ordnung wieder her wie der erzürnte Prinz am Ende von Romeo und Julia. Dies ist stichwortartig der Inhalt des Dramas Septembernächte, das im Jahre 1955 veröffentlicht und aufgeführt wurde.

Man kann es kaum noch spielen, das Schema ist durchsichtig, passé sind auch die Szenen, die das Theater auf den Weinbergen, damals Zentraltheater der tschechoslowakischen Armee genannt, von Schießpulvergestank lüfteten; die sowjetischen Kriegsstücke ließen mit ihrem Radau die Bewohner der benachbarten Straßen bis in die späten Nachtstunden nicht schlafen. Die Septembernächte wurden nur von befreiendem Lachen oder ergriffenem Schnäuzen ins Taschentuch begleitet, wie es die Dialoge und die Geschichten auslösten, die der Autor während seines Wehrdienstes gesammelt hatte.

Eine ganz andere Sache ist, was dieses Stück damals beim Publikum, beim Ensemble und vor allem bei seinem Autor selbst bewirkte. Es gibt viele Zeugnisse dafür, dass nach der Aufführung niemand mehr so war wie vorher. Das Publikum erlebte zum ersten Mal einen Tabubruch; wenn es in der Tschechoslowakei auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges neben der kommunistischen Partei eine zweite heilige Kuh gegeben hat, dann war dies sicherlich die Armee. Umso überraschender war es, dass dieses Stück die Armee wie ein normales Schlachtvieh behandelte. »Wir sind eine Volksarmee!«, ruft ein anderer Leutnant seinem Kommandanten zu, »und unserem Volk geschieht dort Unrecht!« Das Stück zielt dabei auf einen weiteren geschützten Kentauren ab, einen ›verdienten Bolschewiken‹ proletarischen Ursprungs.

Wie konnte Mitte der Fünfziger die Zensur, die sich liebend gern mit der Streichung von kleinen Sätzchen und Wörtchen aufhielt, bereits zwei Jahre nach Stalins Tod zulassen, dass die zentrale Zeitschrift der tschechoslowakischen Armee über zwei Monate hinweg in fünf Teilen einen dramatischen Text veröffentlicht, der durch sein Erscheinen in Fortsetzungen und ohne erklärende Kommentare wie eine Serie von Schlägen auf den Solarplexus wirkt. Und für die Aufführung übernimmt ihn das repräsentative Armeetheater in einer unveränderten Version.

Hat es etwa niemand rechtzeitig gelesen und gehört? Waren etwa alle, die die offizielle Veröffentlichung zuließen, und auch jene, die sie über Wochen duldeten, mit Blindheit und Taubheit geschlagen? Die Erklärung ist einfacher und verrät, wo die Kraft herkam, durch die sich aus den anfänglichen Schneekugeln allmählich eine Lawine der Reformbewegung zusammengeballt hat, um nach zwölf Jahren zum ersten Mal das sowjetische Reich real zu bedrohen. Die höchsten Machtorgane, parteiliche wie staatliche, öffentliche wie geheime, waren natürlich gespickt mit sowjetischen Kadern, deren Ideologie schon lange der blanke Zynismus war. Aber die Masse der Regierungspartei und auch die Mehrheit der Angestellten des Apparats wurde weiterhin von Männern und Frauen gebildet, die schon vor dem Krieg, währenddessen oder kurz danach zu Kommunisten geworden waren, in der Überzeugung, einer schwer gebeutelten Gesellschaft zu dienen. Jene waren es, die den Text eines kritischen Stücks bewusst durch die Zensurschleuse schwimmen ließen, in der Hoffnung, dass es den Schlamm entfernen und das ursprüngliche Ideal zum Vorschein bringen könnte. Solche beherrschten langsam, aber sicher auch die politische Hauptverwaltung der Armee und machten aus ihr schließlich eine Art Konkurrenz zum Innenministerium, die im Jahre 1968 den Versuch Antonín Novotnýs abwendet, durch einen Militärputsch an die Macht zurückzukehren.

Der Autor im Rang des Unteroffiziers, der die Uniform des Leutnants nach seiner Rückkehr aus China ins Depot zurückbrachte, hatte von dieser gewichtigen Schachpartie natürlich keine Ahnung. Es war erst das zweite Jahr, in dem er sorgfältig ein knappes, aber genaues Tagebuch führte. Seit dieser Zeit hat er es nicht mehr unterbrochen, und deshalb weiß er schon fünfzig Jahre lang, wann er wo war und was er dort tat. Anhand der Auswahl von Erlebnissen, die er für aufzeichnungswürdig hielt, kann man indirekt seine damaligen Prioritäten erschließen. Das Notizbuch des Jahres 1956 schreit am lautesten das heraus, was es verschweigt. Die Diskrepanz sticht ins Auge: Alle Ergebnisse der Eishockeyweltmeisterschaft sind dort vermerkt, aber eine Bemerkung über das Ereignis, mit dem der Zerfall des totalitären Imperiums begann, fehlt weit und breit! Die Erklärung liegt auf der Hand: Der zwanzigste Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, von dem allgemein erwartet wurde, dass er das Fragezeichen, das nun schon das dritte Jahr nach Stalins Tod für alle Kommunisten quälend im Raum stand, beseitigen würde, nämlich wer die Sowjetunion und wohin er sie samt dem ganzen Sowjetblock und den Verbündeten in der Welt eigentlich führt. Diese Mammutsitzung begann ohne Saft und Kraft und verlief so fad, dass die aufkeimenden Hoffnungen erneut auf unbestimmte Zeit vertagt wurden.

Man ertrug es umso weniger, je mehr Gerüchte in Umlauf kamen, dass auch die politischen Prozesse im eigenen Land manipuliert wurden. Die Herzen und Hirne wollten nicht wahrhaben, dass es möglich war, ein so hörbares und sichtbares Verfahren zu fälschen, wie es die wochenlangen Gerichtsverhandlungen waren, die sogar im Rundfunk gesendet und ausführlich von der Wochenschau dokumentiert wurden. Die Vorstellung, die Unschuldigen würden sich nach einem vorher geschriebenen Drehbuch zu den schwersten Verbrechen bekennen, die sie nicht begangen hatten, und selbst um ihren eigenen Tod beten, gehörte weiterhin ins Reich der verwerflichen Fantasien. Aus der Vergessenheit kehrten jedoch Stimmen bedeutender Kritiker der Moskauer Prozesse aus den Dreißigern zurück und wurden erneut kolportiert. Damals bezeichnete man sie als Knechte des Kapitalismus, die ihren Mist auf der Urheimat aller Proletarier unseres Planeten abluden. Die einst zum Schweigen Gebrachten fanden nun bei den frisch Verunsicherten Gehör. In neuem Licht erschien auch der heimische Prozess mit der tschechischen Abgeordneten Milada Horáková, die sich zum mutmaßlichen Verrat nicht bekannte und dennoch am Galgen sterben musste.

Chruschtschows Rede auf einer blitzartig einberufenen und streng abgeriegelten nächtlichen Sitzung, vorher durch nichts angedeutet und deshalb für alle unerwartet, war am Anfang so perfekt geheim gehalten worden, dass lange Zeit nicht einmal die Delegierten der ausländischen ›Bruderparteien‹ etwas über sie verlauten ließen, obwohl sie der sowjetischen Zensur gar nicht unterlagen. Sie wussten sich damit überhaupt keinen Rat, dass ausgerechnet der Papst aller Kommunisten einen Großteil der sowjetischen Zeitrechnung, nach der sich die Uhren aller Genossen in der weiten Welt richteten, indirekt für eine absolute Lüge und blutigen Schwindel erklärte. Wenn man den tapfersten Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts wählen würde, müsste dieser Titel am ehesten an Chruschtschow gehen. Einen gigantischen Keller mit Millionen von Leichen zu entdecken, sich der Mitschuld bewusst zu sein und dann hinzugehen, um dies vor dem Plenum der Henker und ihrer Helfershelfer offen auszusprechen, war überaus couragiert und mit dem Risiko behaftet, noch am Rednerpult physisch liquidiert zu werden. Die Reaktion des Plenums ähnelte zum Glück der Erstarrung eines Kaninchens vor einer sich plötzlich aufrichtenden Königskobra. Erstaunlicherweise fand man auch im sowjetischen Partei- und Staatsapparat genug Mutige, die Nikita dem Furchtlosen den Rücken deckten. Gerade von jener unglaublichen Ansprache führt der vertrackte, aber folgerichtige Weg zur völligen Auflösung der Sowjetunion am Anfang der neunziger Jahre!

In Böhmen schwärmte man inzwischen für die Eishockeyspieler und weiterhin auch für die Septembernächte. Für das Armeestück standen an der Kasse vorwiegend Zivilisten Schlange, zusätzliche Vorstellungen wurden angesetzt. Dann passierte es: Plötzlich hat es geblitzt und gedonnert. Vierzehn Tage nachdem Stalin in Moskau zum Massenmörder erklärt worden war, drohte er aus dem Jenseits seinen Prager Dichter totzubeißen. Irgendein Armeefunktionär, der das Stück glücklicherweise erst jetzt besuchte, war von den Lachanfällen im Zuschauerraum entsetzt, umso mehr, weil man gerade vor Offizieren spielte. Er schlug vermutlich Alarm, denn unmittelbar darauf kündigte der Verteidigungsminister – der zweite Mann nach dem Präsidenten und sein Schwiegersohn seinen Besuch an. Auch an diesem Abend saßen mehrheitlich Chargen im Saal, aber niemand lachte, in der Proszeniumsloge auf dem ersten Balkon, über den goldenen Aufschlägen der weißen Generalsuniform, sahen alle nur das versteinerte Gesicht, das sich der mächtige Mann vor großen Auftritten angeblich schminken ließ. In diese Loge wurde der Autor dann zusammen mit dem Theaterdirektor und dem Regisseur nach der Vorstellung einbestellt. Man muss einräumen, dass sich der gefürchtete Alexej Čepička zivilisiert verhielt. Im erleuchteten, aber schon unheimlich leeren Zuschauersaal hielt er eine eher allgemeine Rede darüber, dass die Zeit nach dem Tode des Führers Stalin allzu ernst sei, um etwas in Frage zu stellen, zu verunsichern, zu relativieren ... Dann erhob er sich, seine Adjutanten schnellten auf und standen stramm, und er ging grußlos hinaus.

Gleich am Tag darauf rollte die Maschinerie an, als der Unteroffizier den Parteiausweis vorübergehend abgeben musste und zusammen mit den Hauptdarstellern des Stücks ins Zentralhaus der Armee vorgeladen wurde, wo sich die hohen Offiziere, die das Stück in Gegenwart des Ministers gesehen hatten, wie bei einem Alarm versammeln mussten. Das war der erste Konflikt des Autors mit der Macht, und was für einer! In seinen Absichten, geschweige denn in seinem Stück habe man nichts gefunden, was sich wahrheitsgetreu oder aufrichtig nennen ließe. Als sie ihm definitiv das Wort nahmen, griffen sie auch die Schauspieler an, wie sie denn in so einem Pasquill überhaupt mitspielen konnten.

Die Stille, die sich gleich nach der Versammlung ausbreitete, kündigte ein Gewitter an, das noch vernichtender ausfallen sollte. Die Theaterleitung wartete nicht ab und überklebte bereits die Plakate für die weiteren Vorstellungen mit dem Änderungshinweis ›entfällt krankheitshalber‹, während die Schauspieler fleißig verkündeten, sie seien alle gesund. Bald sollte sich zeigen, dass die unnatürliche Ruhe keinen vernichtenden Angriff ankündigte, sondern ganz im Gegenteil einen generellen Rückzug. Die ersten Franzosen und Italiener, die aus Moskau zurückkehrten, hielten es nicht mehr aus, den Mund zu halten. Das Schweigen der KPTsch-Führer war umso unerträglicher und rief vor allem Druck von Seiten der Arbeiterorganisationen hervor. Die geheime Rede lag zwar weiterhin in den Tresoren und die unerlässlichen Informationen wurden tröpfchenweise wie eine Arznei ausgegeben, die in größeren Dosen tödlich ist, aber die Nachfragen von unten klangen umso eindringlicher.

Den kommunistischen Schriftstellern spielten die Sterne am 21. April ihren höchsten Kollegen zu, den Autor eines Arbeiterromans, den Präsidenten der Republik und ersten Kommunisten im Land, Antonín Zápotocký. Bis zu dieser Zeit hatte er einen besseren Eindruck gemacht als die anderen Leithammel, indem er auf die Karte der Volkstümlichkeit setzte – er nannte seine erste Dame öffentlich Mutti! – und programmatisch die Tradition des guten Königs Václav fortzuschreiben versuchte. Umso leidenschaftlicher und unbefangener brodelte der Unmut aller, die nunmehr zweifelsfrei das wussten, was den Komponisten Radim Dreisl zu seinem Sprung ins Jenseits verleitete: dass sie über Mörder für Mörder gedichtet hatten. Der erwachsene Autor hat bis heute seine eigenen Worte in den Ohren, wie er vom Partei- und Staatsoberhaupt emphatisch fordert: »Sorge dafür, Genosse, dass auch wir über unsere Prozesse die Wahrheit erfahren, und wenn sie wirklich eine Kopie der stalinistischen waren, dann sollen diejenigen, die sie verursacht und politisch gedeckt haben, entsprechend bestraft werden!«

Die Art und Weise, wie ihm das Oberhaupt die Ohren volldröhnte, wirkte eigentlich beruhigend, es war geradezu ein väterlicher Zorn, der den Sohn ernsthaft warnte, nicht der Hysterie zu verfallen, wie zuvor schon einmal der Euphorie, er könne sich ja denken, dass es sich um eine parallele Entwicklung handeln muss, mit der sowjetischen abgestimmt, und unsere Partei brauchte bloß Zeit, damit auch die Resultate ihrer Nachforschungen einwandfrei und überzeugend wären. Das ergab Sinn, und Zápotocký hielt zudem auch den anwesenden Mitarbeitern des Apparats eine Predigt, die Aufregung der jungen Künstlergenossen doch zu verstehen, die nicht durch die Erfahrung der alten Arbeiterkader geschmiedet worden waren. Mit derselben tiefen und warmen Stimme beglückwünschte er beim Abschied den zuvor noch getadelten Autor zu seinem Stück, es sei schließlich ein Beispiel für die konstruktive Kritik, die das Vaterland der Arbeitenden jetzt am meisten benötige. Das klang wie eine vorläufige Gratulation zum Staatspreis, für den das Tschechische Pressebüro ČTK den Unteroffizier tags zuvor fotografiert hatte. Die Einladung auf die Prager Burg erwartete er jedoch vergeblich, und am neunten Mai fand er sich nicht in der Zeitung auf der Liste der Preisgekrönten. König Václav war nur eine weitere Figur aus der astronomischen Uhr der Lügner, weil er vorhatte, seine eigene Beteiligung an den Justizmorden zu verschleiern; noch auf den letzten Todesurteilen fand man seine Unterschrift.

Da ähnelte aber die sämtliche ideologische Abwehr der Führung der KPTsch schon einem behelfsmäßig aufgestockten Damm aus Sandsäcken, durch den aus vielen Löchern, immer beunruhigendere Zitate aus der Rede Chruschtschows sickerten. Um den völligen Durchbruch abzuwehren und den Druck der Kritik nachhaltig zu schwächen, gab man eilig die nicht mehr zu haltenden Schanzen auf. Als Erstes verschwand von den Bildschirmen des gerade neu eingeführten Mediums, dem Fernsehen, die Salonuniform des Verteidigungsministers Čepička, der nach Aussagen der Historiker von Stalin auserwählt worden war, um die erste Angriffswelle gegen den Westen zu führen.

Die politischen Mühlen drehten sich hartnäckig rückwärts und versuchten, aus dem Hackfleisch wieder ein Beefsteak zu machen. Das Parteibuch wurde dem Dramatiker sofort und mit einer Entschuldigung zurückgegeben, die Theaterleitung änderte erneut das Repertoire, die Septembernächte wurden als Dauerbrenner wieder aufgenommen, um die Nachfrage zu befriedigen, und im Foyer waren es die hohen Chargen, die den Unteroffizier als Erste grüßten. Mit der Unterstützung der obersten politischen Hauptverwaltung der Armee begann man Vorbereitungen für den gleichnamigen Film zu treffen. Als sich wieder erstmals der Vorhang für sein Stück hob, schlich sich der Autor heimlich in die Ministerloge, wo sein Malheur erst ein paar Wochen zuvor begonnen hatte. Von niemandem bemerkt blickte er auf die Bühne, fühlte sich um Jahre gereift und begann von neuem zu glauben, dass seine Partei bald wieder so sein würde, wie er sie sich immer gewünscht hatte. Summa summarum: Er war selbst immer noch ein ziemlich getreuer Abdruck seines Stücks, in dem ein Deus ex machina im Rang eines gerechten Obersts alle Probleme zu lösen wusste.

Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel

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