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16. Kapitel
ОглавлениеDer Dichter dient dem Volke
Nennen wir ihn endlich so, wie er schon allgemein genannt wurde. Einige Tage nach der Scheidung heiratete er – darüber später – am 25. Oktober 1952 zum zweiten Mal; diesmal in einem eher unauffälligen Trauzimmer im Prager Stadtteil Smíchov, im engen Kreise der Familie, ohne seine russische Papachamütze, ohne Lieder und ohne Hochzeitsreise. Stattdessen trat er drei Tage später den Grundwehrdienst an.
Die Bahn fuhr mit den kahlgeschorenen Wehrpflichtigen die ganze Nacht hindurch, so lange brauchte sie für die 120 Kilometer über Regionalstrecken von Prag bis nach Karlsbad, denn ihre Fahrt sollte aus Gründen militärischer Geheimhaltung unbemerkt bleiben; diese Reise wird ihm später wie ein Schlüsselerlebnis vorkommen, vergleichbar dem Sprung von der großen Schanze in Harrachov. Im Zugabteil, nur von glimmenden Zigaretten erleuchtet und von einem schneidend beißenden Geruch erfüllt, wurden ebenso selbstverständlich regimekritische Witze erzählt wie im Ensemble die Aufbau-Lieder gesungen. Er war umso verwirrter, je klarer ihm wurde, dass er nicht zwischen Feinden saß, gaben doch fast alle bei der Musterung ihre Mitgliedschaft beim Jugendverband an, weswegen sie in die Unteroffiziersschule eingeteilt wurden. Das Maß, mit dem sie schamlos das Fehlen ihres politischen Bewusstseins demonstrierten, kam ihm umso abstoßender vor.
Nach diesem Sprung in eine Realität, die er nicht erwartet hatte, fühlte er sich wie vernichtet und aller Hoffnungen beraubt, mit denen er hierher gekommen war. Beinahe unmittelbar darauf musste in ihm jedoch ein ähnlich kinetischer Mechanismus eingesetzt haben, der auch einen Ball, einen Puck oder eine Billardkugel umso rasanter ins Spiel zurückkehren lässt, je heftiger sie auf ein Hindernis geprallt sind. Er beschloss, seine Mitkämpfer damit umzuerziehen, womit man einzig und allein bei ihnen etwas ausrichten konnte, und das war schlicht sein persönliches Vorbild. Wie einst beim sportlichen Wettbewerb um die Liebe nahm er all seine physischen Kräfte zusammen, in diesem Fall für ein Ideal. Sein Zug wurde bald für seine Musterhaftigkeit beim Frühsport ausgezeichnet, bei der Reinigung der Stuben, beim Stechschritt, beim Auseinandernehmen und Zusammensetzen des schweren Maschinengewehrs, beim Kriechen über schlammbedeckte Rennbahnen nahe Karlsbad und auch beim Singen, ja!, die einzige Truppe im ganzen Regiment sang durch sein Zutun beim Marsch zweistimmig!
Es hagelte Lob, das genauso ansteckend war wie der Applaus im Theater. Er war nicht weit davon entfernt, ein Gesuch zu schreiben, damit seine voraussichtliche Abkommandierung in die Kulturabteilung der Armee bis zu den Regimentsübungen vertagt wurde, bei denen sein Zug klar triumphieren musste, als ihm sein Übereifer den guten Ruf zunichte machte. Er bekam das Versprechen des Bataillonskommandeurs, dass die Einheit, die zuerst in dem ihr zugeteilten Gebiet Gräben ausheben würde, zur Belohnung das Karlsbader Theater besuchen dürfe. Dass die Rivalen sich nicht besonders bemühten, hätte ihm eine Warnung sein sollen, aber das begriff er erst, als die verspätete Abendbrotausgabe den Zugführer Ferko nötigte, den Befehl zum Laufschritt zu erteilen. Obendrein begann es auch noch zu nieseln, zwar nur leicht, aber doch genug, um die langen Wintermäntel sowjetischer Machart für die paar Kilometer von den Kasernen bis zur Stadtmitte noch schwerer zu machen. Die Stimmung der Herde sank merklich und erreichte ihren Tiefpunkt, als Ferko, der Zigeuner aus Ostrau, in seinem typischen Slowakisch an der Kolonnade den Befehl gab, zu singen, »wie es euch der Genosse Dichter gelehrt hat!« Er nahm das sofort zurück, als er hörte, was dabei herauskam, aber das Martyrium wollte nicht enden.
Sie kamen so spät angestürmt, dass sie nicht mehr in die Garderobe gelassen und geradewegs in den Saal gedrängt wurden, wo ihnen schon die Drückeberger aus dem Regiments- und Divisionskommando, die sich hier in Ausgehuniformen neben den hiesigen Schönheiten wichtig machten, spöttische Kommentare zuriefen; das weltbekannte Karlsbad war damals kein Kurort, sondern eine Garnisonsstadt, zudem an vorderster Frontlinie, an der der hinterhältige Angriff amerikanischer Imperialisten wie auch deutscher Revanchisten gegen das sozialistische Friedenslager abgewehrt werden sollte, worauf man in schnellem Gegenangriff zur Rheinebene vorstoßen sollte. Dann fing die Vorstellung an. Was auf der Bühne gespielt wurde, hatte der Dichter vergessen, weil sich das eigentliche Stück im Zuschauerraum abspielte. Aus den schweren Mänteln begann der Dampf aufzusteigen, und in dieser feuchten Wärme schliefen die Mitstreiter nach der ganztägigen Rackerei und dem fetten Abendessen wie die Murmeltiere reihenweise ein. Zu den Dialogen auf der Bühne, die wegen der Geräusche fast nicht zu hören waren, lief im Zuschauerraum Ferko umher und rief: »Genossen, nicht schnarchen!«
Im Januar 1953, gleich nach dem Abschluss der Grundausbildung, wurde der Dichter wider Erwarten, anstatt in irgendeine der Militärredaktionen in das zentrale Armee-Ensemble abberufen. Die gewaltige Künstlerschaft, in der etwa dreihundert professionelle Musiker, Sänger und Tänzer den Wehrdienst absolvierten, sollte auf eine offizielle Reise in die Sowjetunion gehen, und man benötigte einen Conférencier, der die russische Sprache beherrschte. Er musste ihr auch ein gehöriges Pathos verleihen, um in den Arenen vor Tausenden von Zuschauern nicht zu läppisch zu klingen. Schließlich freundete er sich auf der Reise, die von Kiew über Charkow nach Moskau und zurück nach Prag führen sollte, mit Radim Dreisl, dem künstlerischen Leiter, an.
Wenn der einstige Dichter im Jahre 1983 in Wien als Regisseur das Remake des Films Das Ohr drehen wird – der im Jahr 1969, bevor er in den Kinos erscheint, für zwanzig Jahre im Tresor landet, und sein Drehbuchautor Jan Procházka das erste zu Tode gehetzte Hochwild des niedergeschlagenen Prager Frühlings sein sollte –, wird er sich von den Technikern des tschechoslowakischen Rundfunks gegen Bezahlung aus Prag heimlich Dreisls Lieder aus den fünfziger Jahren überspielen lassen und hinüberschmuggeln, um sie als authentische Musikbegleitung zu benutzen. Und als er sie im Wiener Studio aufs Filmband kopieren wird, werden die Österreicher von den benachbarten Arbeitsplätzen zu ihm kommen und dem Zauber der anmutigen Melodien gänzlich erliegen. Es wird ihm schwerfallen, zu erklären, dass gerade jene den Weg der Tschechoslowakei in die Hölle begleitet haben, wo sie zum Glück dank Stalins vorzeitigem Tod nicht mehr angekommen ist. Radim Dreisl war der Erste, der ihm seine Bedenken über die politischen Prozesse anvertraute. Und nicht nur das.
Als der Dichter eines Morgens zum Dienst kam – das Ensemble hatte seinen Sitz im Prager Rudolfinum –, erblickte er einen Auflauf erregter Mitglieder und zufälliger Passanten. Sie mochten nicht auseinandergehen, nicht einmal nach der Abfahrt des Krankenwagens, weil sie immer noch den Mann in Offiziersuniform vor Augen hatten, der dort eine Weile am Fenster im obersten Stockwerk stand, bis er sich von dort geschmeidig abstieß, wie ein Schwimmer vom Sprungbrett. Der Autor der berühmtesten Lieder, welche die stalinistische glückliche Zukunft besangen, konnte die Erkenntnis, getäuscht und missbraucht worden zu sein, nicht überwinden. Er war einer der ersten Kommunisten, die dafür persönliche Verantwortung auf sich nahmen und somit allen übrigen die Frage stellten, wie sie damit umzugehen gedachten.
Den Dichter erwartete bald darauf die endgültige Abkommandierung in die Redaktion der Militärzeitschrift, die alle vierzehn Tage erschien und die kulturpolitische Tätigkeit bei den bewaffneten Streitkräften inspirieren und entwickeln sollte. Der Kommandant war ein gewisser Vlado Kašpar. In der Krähenschar gedeiht manches Mal die legendäre weiße Krähe und unter den Schwalben eine, die den Frühling bringt. Der Kriegspartisan und Kommunist, bald nach dem Krieg Ausbilder der israelischen Hagana, dann Oberst unserer Armee, Chefredakteur des beachtenswerten Journals »Tschechoslowakischer Soldat« – später in Ungnade gefallen und zur Strafe Maurer –, war im Jahr 1968 führender Journalist des »Prager Frühlings« und Gründer der nicht weniger exzellenten Zeitung »Das Signal«, dann wieder zwanzig Jahre Ausgestoßener und schließlich nach dem Fall des totalitären Regimes führender Funktionär des freien Journalistenverbands – er gehört zu den Persönlichkeiten, die schon zu Lebzeiten ihr eigenes Denkmal sind. Für viele wird er das unerreichbare Ideal eines Chefs bleiben, dessen Autorität in, ja, kompromissloser Güte wurzelt, gegen die man sich nicht wehren kann.
In der Armee, einem der Epizentren der Macht, bildete er innerhalb der massenhaft verbreiteten Zeitschrift eine Enklave des unzensierten Denkens, die er bis weit hinter die Grenzen der Vorsicht ausdehnte, bis zum äußersten Maß der Tragfähigkeit. Als Rosinen pickte er sich aus den Regimentern des ganzen Landes die jungen Talente heraus, er hatte keine Bedenken, auch den slowakischen Lyriker Vojtěch Milhálik unter seine Fittiche zu nehmen, damals noch ein katholischer Mystiker, dem die Jahre bei den ›Schwarzen Baronen‹ bevorstanden. So wurden die Soldaten genannt, die bei den schmachvollen Technischen Hilfstrupps statt mit Gewehren mit Schaufeln hantierten. Mit stiller, aber immer offenkundigerer Unterstützung verwandter Seelen in der politischen Führung der Armee schaffte er es nicht nur, die erste Illustrierte mit hohem journalistischem, literarischem und auch gestalterischem Niveau zu gründen, sondern dort auch heiklen Themen eine Plattform zu bieten, die bislang in der ganzen Gesellschaft tabuisiert worden waren. Der »Tschechoslowakische Soldat« wurde seit einigen wenigen Monaten auch in öffentlichen Tabakläden unter der Hand wie westliche Zigaretten verkauft.
Bald sollte das dem Dichter die Courage zu einer Tat geben, die die Karriere als Minnesänger der Partei beenden und den langen Marsch einleiten wird, der zuerst zur Beteiligung am Versuch, das stalinistische System zu reformieren, führt, dann zu den Dissidenten und schließlich ins Exil. Sein kritisches Stück über die Armee Septembernächte kommt im Jahre 1955 im »Soldaten« heraus, zwar in Teilen, aber in ungekürzter Fassung, und wird ein heftiges Erdbeben hervorrufen. Die drei Jahre, die er als Redakteur und Reporter in Uniform verbrachte, bezeichnete der Dichter schon bald als den entscheidenden Einschnitt in seinem Leben. Er verbrachte diese Jahre vorwiegend in verschiedensten Truppenverbänden im ganzen Land, auf Truppenübungsplätzen, in Offiziersmessen und Mannschaftskantinen, in Kasernen und sommerlichen Ausbildungslagern. Den Höhepunkt stellte im Jahre 1954 ein Herbstmanöver dar, als er in der Turmluke eines Panzers vom mährischen Olmütz bis nach Böhmen fuhr. Seine Verse hörten dabei auf, mit dem Säbel zu rasseln, und bekamen einen tröstenden Ton, weil er immer mehr junge Männer traf, bei denen der damals zweijährige und für viele schier endlose Dienst mit spärlichen Ausgängen oder Besuchen von Menschen, die ihnen nahestanden, emotionale Bindungen zerriss. Als er aus vertraulichen Sammelberichten von der alarmierenden Anzahl der Selbstmorde erfuhr, schrieb er in Briefform das Gedicht Vom Mädchen, das allzu einsam war.
Dieses kleine Gedicht verbreitete sich nach der Veröffentlichung im »Tschechoslowakischen Soldaten« in der ganzen Armee, von den Grenzsoldaten im westböhmischen Asch-Eger bis hin zu den östlichsten Garnisonen in der Slowakei, es wurde haufenweise als Mahnung nach Hause geschickt und auf die Innenseiten der Soldatenkoffer geklebt, und so funktionierte es noch bis in die siebziger Jahre hinein. Falls es auch nur einen einzigen Uniformierten vor der Kurzschlusshandlung bewahrt haben sollte, wird es auf seinen Autor als Bonus vor dem Jüngsten Gericht warten.
Die unzähligen Gespräche mit den ›Waffengenossen‹ beendeten das bisherige Unisono der Meinungen in der Familie, im Fučík-Ensemble und beim »Stachelschwein«, als der laute Misston sich mehrender Einwände und Beschimpfungen den Einklang ablöste. Gerade in der Armee begann der neue Geist des Unverständnisses zu entstehen, der bald die ganze Gesellschaft wachrütteln sollte. Der bisherige poetische Apparat des Dichters brach darunter total in sich zusammen, es versagte auch die berauschende Philosophie der frommen Wünsche. Auch er hatte in der Jugend nach Gefühlskrisen die Hamletfrage »Sein oder Nichtsein« nicht vermieden. Für immer bleibt in seinem Gedächtnis haften, wie ihn einmal im Stadion von Slavia der Gedanke, er sitze dort mit Tausenden künftigen Toten zusammen, entsetzte! Aber das war eher Koketterie. Die Lösung, welche Radim Dreisl gewählt hatte, lehnte sein Charakter im Kern seines Wesens ab. In dem Klima, das Vlado Kaspar schließlich geschaffen hatte, begann er zu ahnen, worin sein persönliches Problem und das der ganzen Gesellschaft lag, und womit er sich an seiner Lösung konkret beteiligen könne. In diesen Zeitraum fällt auch die seltsame Exkursion, die fast ein ganzes Vierteljahr andauerte.
Im Sommer 1953 wurde die erste tschechoslowakische Kulturdelegation zusammengestellt, damit insgesamt zwanzig Künstler China besuchten, das gerade zu derselben strahlenden kommunistischen Zukunft aufbrach. Die Leiterin der Expedition wurde die berühmte Autorin Marie Majerová und ihre Vertreterin die zarte Dichterin Marie Pujmanová, beide längst zu Nationalkünstlerinnen erklärt, weitere Koryphäen waren bekannte Künstler aller Bereiche, vom Schriftsteller und bildenden Künstler Adolf Hoffmeister über den berühmten slowakischen Schauspieler Andrej Bagár bis zu der legendären Theaterdiva Marie Burešová. Die mächtige Armee sollte aus ihren Beständen je einen geeigneten Tschechen und Slowaken abordnen. Die Wahl fiel auf unseren Dichter und auf Vojtěch Mihálik, den Vlado Kašpar gerade ins Boot seiner Redaktion geholt hatte; beiden war die Leutnantswürde verliehen worden, damit sie ihre Funktion als Kranzträger würdevoller erfüllen konnten.
Die Reise ins Land, in dem die Sonne aufgeht, begann mit einer fast dreitägigen Marter, weil die kleine Iljuschinmaschine mit zweihundertfünfzig Stundenkilometern flog und jeweils in Moskau, Swerdlowsk, Nowosibirsk und in Ulan Bator tanken musste. Die harten Sitze ließen sich nicht kippen, deshalb ruhten sich die Reisenden abwechselnd auf Decken aus, die sie im Mittelgang ausbreiteten. In Peking stellte sich zudem noch heraus, dass die Uniformen beider Dichter allzu sehr denen der Amerikaner ähnelten. Da der Krieg mit der Kuomintang, die von den Amerikanern unterstützt wurde, erst kürzlich beendet worden war, musste der Reisebegleiter, den die Regierung gestellt hatte, das Paar des Öfteren vor echtem Volkszorn schützen. Bald begann es dann aber gegen die Vorschrift zumindest ohne Kappe auszugehen.
In Nanking unterzogen sich beide einer Feuerprobe, als die Gruppe nach dem üppigen Mittagessen mit zehn Gängen und ebenso vielen Trinksprüchen von den Gastgebern unerwartet informiert wurde, dass sie im Folgenden die Ehre erhalte, das Grab von Sun Yat-sen, dem Gründer der Chinesischen Republik, besuchen zu dürfen. Der Bus hielt am Fuß der Treppe, die hoch oben neben dem Kästchen des Mausoleums zu einem kleinen Strich verschwamm. Die beiden alten Damen bat man in die Sänften, an deren Seiten kräftige Männer bereitstanden, während die Dichter-Leutnants einen riesigen Kranz zu tragen hatten und zum Aufstieg an die Spitze des Zuges gerufen wurden. Zudem herrschte wolkenlose Schwüle, und Mihálik sagte nach einigen Dutzend Treppenstufen: »Pavel, ich will nicht mehr, ich lege mich jetzt hin und schlafe ...« »Dann schlaf doch!«, zischte ihm der Tscheche zu, »aber trage den Kranz dabei weiter, Herrgott nochmal!!« Er fauchte ihn ununterbrochen an und schleppte die Last mit dem dösenden Katholiken bis ganz nach oben, sorgte dafür, dass der Kranz vor der Gruft niedergelegt und der Ko-Dichter hinter ihr zum Schlafen gebettet wurde. Die Reiseführer mussten hinterher warten, bis er aufwachte, damit sie ihn zu den Übrigen bringen konnten.
Obwohl diese Pilgerfahrt schon nach sowjetischem Vorbild sorgfältig inszeniert worden war, damit die Gäste nicht von augenfälligen Problemen überschüttet wurden, brachte sie dennoch eine Reihe einzigartiger Erkenntnisse und Eindrücke, von den phänomenalen Leistungen der Sänger und Tänzer der Pekingoper oder der Schattentheater bis zur Aufklärungsarbeit chinesischer Soldaten, die während der Gefechte lesen und schreiben gelernt hatten, um nun Millionen von Bauern, immer noch Analphabeten, unterrichten zu können. Zu Ch’i Pai-shih, einem Klassiker zu Lebzeiten, wurde die Delegation ins Atelier geführt und dort aufgefordert, wie im Theater in Sesseln Platz zu nehmen. Erst dann wurde der Greis geweckt und von zwei Mädchen in traditionellen Gewändern zur gespannten Leinwand mehr getragen als geführt. Er streckte die zitternden Hände aus, ein weiteres Mädchen legte ihm einen Pinsel und ein Fläschchen mit Tusche hinein, dann vollführte er einige feste Pinselzüge und schuf mit nur wenigen Strichen ein einzigartiges Landschaftsbild. Dann lachte er wie abwesend seinem Publikum zu und wurde wieder zu seiner Lagerstätte gebracht, während zwei Männer im Mao-Look das Kunstwerk für die Nationalgalerie oder den Export verpackten.
Russisch war inzwischen das Esperanto des ganzen Friedenslagers geworden, aber ein Teil des chinesischen Geleits sprach damals sehr anständig Tschechisch, weil man sie noch vor Ende der Kämpfe zwischen den Armeen des Kommunistenführers Mao Tse-tung und den Truppen des Tschiang Kai-schek, Führer der Kuomintang, in weiser Voraussicht an die Prager Karlsuniversität geschickt hatte. Zu den vier Übersetzern gehörte ein junges Mädchen, das für eine weitere bizarre Szene sorgte. Bei einem der regelmäßigen wöchentlichen Treffen zur Bewertung der Rundfahrt entschuldigte sie sich im Hotel in Schanghai vor der ganzen Delegation dafür, dass sie den verehrten tschechoslowakischen Genossen und Dichter Mi Há-Lik durch ihr unpassendes Auftreten offensichtlich so provoziert habe, dass er sie zu vergewaltigen versucht hätte. Als sie ihn am Ende selbstkritisch bat, ihr dies ausdrücklich zu verzeihen – andernfalls müsste sie die Gruppe verlassen –, bekam er ganz rote Ohren. Von seiner Schürzenjägerei wurde er bis Prag kuriert. Leider nicht von seinem Alkoholkonsum!
Nach nahezu drei Monaten, in denen die Delegation China umkreist hatte, veranstaltete derselbe Protagonist bei der Rückkehr über die Mongolei einen unvergleichlichen Auftritt. In der Hauptstadt Ulan Bator stellte er kurz vor der Fahrt zu den Kamelhirten fest, dass es aus seiner Steingutflasche mit chinesischem Maotai-Schnaps, die einer großen Handgranate ähnelte, tropfte, so dass er ihn lieber austrank. Noch am Abend, nachdem die Ausflügler zurückgekehrt waren, war er zu nichts zu gebrauchen, er schlief fest und schnarchte laut. Die Leiterin der Delegation entschied deswegen, dass das abschließende Staatsbankett in der Festhalle in diesem besten, weil einzigen Hotel im ganzen Lande ohne ihn auskommen müsse. Er war also unglücklicherweise nicht dabei, als die Übrigen die Geschenke bewunderten, die sie auf ihren Betten vorfanden – eine dreiteilige mongolische Tracht – und sie sofort in ihre Koffer legten. Und leider wachte er noch auf, und angetrunken wie er war, verfiel er auf den Gedanken, dass seine Landsleute diese Bekleidung aus Höflichkeit für den Empfang angezogen hatten.
Die Nationalkünstlerin der Tschechoslowakischen Republik und der höchste Kommunist des mongolischen Volkes, Marschall Tschoibalsan, wollten nach ihren Ansprachen gerade mit zweihundert einheimischen Funktionären und den kostbaren Gästen aus der Tschechoslowakei auf die ewige Freundschaft trinken, als das Gläserklirren verstummte und die Anwesenden auf eine Erscheinung schauten, die sie nirgendwo einordnen konnten: einen dicken jungen Mann, der auf dem Kopf die Mütze eines tschechoslowakischen Offiziers hatte, aber auf dem Leib einen Reiterchalat trug. Die Frauenjoppe hatte er aus Unwissenheit wie eine schusssichere Weste von vorne übergestreift und das vier Meter lange Seidenband, verschränkt nach Art napoleonischer Grenadiere, über die Schultern gewickelt. Er sah aus wie die besonders schmachvolle Karikatur eines Mongolen. Sein Gehirn, immer noch vom Reisschnaps benebelt, verstand die lebhafte Reaktion der Gesellschaft so, dass man allein auf ihn gewartet habe. Wie in einem Stummfilm torkelte er halsbrecherisch zur Mitte der Tafel, kam dort sogar mit Erfolg an, gab der kreidebleichen Marie Majerová ein Küsschen, nahm ihr den Becher aus der Hand, stieß mit dem slowakischen Trinkspruch »Na zdravie!« mit dem versteinerten Marschall an, trank restlos aus bis auf den letzten Tropfen und legte sich dann wie in Zeitlupe auf den Marmorboden, wo er erneut sofort zu schnarchen begann. Die vier Wächter, die dieser Auftritt so verblüffte, dass sie nicht eingegriffen hatten, trugen den Dichter auf den Schultern im Laufschritt weg wie die vier Hauptleute Hamlet. Die Grabesstille deutete darauf hin, dass die Einheimischen die Gäste für die Beleidigung ihres Allerheiligsten gleich ausrotten würden, wie es die Přemysliden mit den Wrschowetzern gemacht hatten. Dann jedoch begann der Vorsitzende Tschoi zu lachen, lachte immer lauter, und im Handumdrehen dröhnte folgsam der ganze Saal vor Lachen. Nur die erste Dame der tschechischen Literatur weinte bitterlich. Am nächsten Tag flog Mihálik zur Strafe und sicherheitshalber nicht mit der Delegation mit, denn allein seine Physiognomie hätte genügt, die feierliche Abschiedszeremonie zu sabotieren. Der Postflieger brachte ihn dann auf Briefsäcken nach Moskau.
Vierzehn Jahre später, im August 1968, wird der inzwischen schon berühmte slowakische Poeta laureatus ein erschütterndes Requiem auf den Tod eines Mädchens aus Preßburg schreiben, das durch eine Kugel der sowjetischen Besatzer umgekommen ist. Obwohl es die damals freie Presse unmittelbar darauf veröffentlicht und es Tausende von Leuten bald auswendig können, kommt es zu der Orwell’schen Verkündigung der Zeitungen und des Dichters, dass nirgendwo jemals ein Mädchen auf diese Weise gestorben ist, weswegen er dieses Gedicht gar nicht schreiben konnte, und so sei alles nur eine weitere scheußliche Lüge der konterrevolutionären Kräfte. Aus dem mystischen Katholiken Vojtěch Mihálik wird ein dogmatischer Marxist, und er übernimmt als Gegenleistung unmittelbar darauf während der ganzen Besatzungszeit den Vorsitz der Nationalitätenkammer der ČSSR. Daraufhin wird er sich nur noch beim Verfassen von Lobeshymnen auf die kommunistische Partei und auf die Sowjetunion in den Tod saufen, wie sie einst sein tschechischer Gefährte schrieb, mit dem er die chinesischen Kränze niederlegte. Und die Karriere des hervorragenden Vlado Kašpar endet für zwanzig Jahre erneut bei der Schaufelarbeit, vor der jener seinen Schützling einstmals bewahrt hat.