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8. Kapitel

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Die Hoffnung trägt den Namen Disman

Bis zum Ende der Schlacht von Stalingrad war im Januar 1943 die Hoffnung verschwindend gering, dass die Tschechen überhaupt noch so etwas wie Zukunft vor sich hätten, aber auch danach noch steigerten die Deutschen auf ihrem Rückzug das wahnsinnige Rassen- und Völkermorden. Der auflebende Körper des Jungen fühlte eine zunehmend größere Unruhe in seiner Seele, der stille Gebete und Meditationen allmählich nicht mehr genügten. Er sehnte sich immer mehr danach, aus sich selbst herauszutreten, am liebsten auf der Bühne, auf die ihn der angebetete Cyrano lockte, aber wie sollte er das anstellen? Zwei Jahre in Folge arbeitete er sich zwar bis zu einer Theatergruppe vor, die im Synodenhaus in der Jungmannstraße eine Weihnachtsfeier für ganz Prag vorbereitete, aber das Ergebnis waren wieder nur mit allzu schlichten Szenen illustrierte Gottesdienste.

Eine bestimmte Episode wiederholte sich drei Jahre nacheinander auf der Matthäus-Kirmes. Genauso wie sich einst friedliche Wiesen binnen weniger Stunden zu Militärlagern im Vorfeld einer Schlacht wandeln, veränderte sich über Nacht bis zur Unkenntlichkeit diese riesige, damals noch unbebaute Ebene, die vom runden Platz in Dejvice bis nach oben zur kleinen Kirche des Kirmespatrons reichte; eine »Skyline« erschien, die überragt wurde von einem Riesenrad, einer Tobogganrutsche, auf welcher man auf sauberen Kohlesäcken hinunterfuhr, einem wild rotierenden Drachen, der den Namen des populären Ungeheuers aus Loch Ness trug, und besonders von einer geräumigen »Todeskugel« aus Metall, in der Motorradfahrer in roter Lederbekleidung die Luft verpesteten und über den Zuschauerköpfen röhrten.

Am meisten zog den Jungen allerdings ein Zelt mit Bänken und einer kleinen Bühne an, auf der eines seiner weiteren Idole thronte – der Zauberer Marion! Für zwei hart verdiente Kronen schaut er wieder und wieder unersättlich zu, wie der Meister das Publikum aufforderte, die Hände zusammenzulegen, worauf er dann mächtig bläst, was bewirkt, dass sie der eine oder der andere Zuschauer nicht mehr voneinander lösen kann. Wie hätte man nicht neidisch sein können auf diejenigen Glückspilze, die dann als Freiwillige auf die kleine Bühne steigen durften, wo sie genauso erfolgreich hypnotisiert wurden, um im Tiefschlaf zur Belustigung der entzückten Zuschauer sogar zu krähen oder zu grunzen!

Erst im zweiten Jahr beflügelte die fortgeschrittene Pubertät den Jungen so sehr, dass er sich in einem Sehnsuchtsanfall einfach bis auf die Bühne durchschwindelte und auch noch einen Hypnoseschlaf vorgaukelte. Er musste dabei halbbenommen gewesen sein vor Angst, der Magier könne ihn durchschauen, lächerlich machen oder sogar bestrafen. Man ließ ihn jedoch durch den Hintereingang hinaus, wo ihm die Assistentin des Zauberers ein Fünfkronenstück und eine Freikarte für die nächste Vorstellung in die Hand drückte. Das war sein erster Auftritt auf den Brettern, welche die Welt bedeuten. Dieser Auftritt verriet ihm etwas Grundlegendes über sie: dass sie eine Welt der Illusion ist, die erstaunlicherweise zu realer Befriedigung und zu Lohn führt. Wann auch immer ihm danach zumute war, und er hatte immer Lust darauf, brauchte er nur die neueste Eintrittskarte einzulösen und die Hände nicht voneinander zu trennen. Summa summarum: Er lernte dabei, der Wirklichkeit, die ihn deprimierte, zu entfliehen und sich in Vorstellungen hineinzuflüchten, bei denen es ihm besser ging. Das entsprach seinem optimistischen Naturell und half ihm, die Angst zu überwinden, aber es sollte auch gefährliche Folgen haben, wenn er in ein paar Jahren versuchen wird, auf ähnliche Weise aus der trübseligen Vorkriegs- und gräulichen Kriegsvergangenheit in eine trügerisch strahlende Zukunft überzutreten.

Er grunzte und krähte sich bis zu einem Alter durch, wo ihn – mehr als türkischer Honig und Sucuk, wovon er sich endlich für seine Honorare so viel gönnen konnte, wie das Herz begehrte – Gedichte und Frauen anzuziehen begannen. In jener Zeit hörte seine Mutter die Nachricht, dass der Rundfunk Mädchen und Jungen zwischen sechs und sechzehn Jahren zur Probe lud, die fähig wären, in Sendungen für Kinder und Jugendliche aufzutreten. Noch als erwachsener Mann wird der Junge den Herbstnachmittag im Jahre 1943 plastisch vor Augen haben, weil er damals zweifellos seine eigene künstlerische Laufbahn betrat, um sie zwar mehrfach zu korrigieren, ohne sie aber jemals mehr zu verlassen. Im Rundfunkgebäude befiel ihn ein noch nie dagewesenes Lampenfieber, vor dem Studio mit der Nummer sechs deprimierten ihn an die hundert vor Selbstbewusstsein nur so strotzende Konkurrenten, Schwindelgefühle beutelten ihn, er stand wieder einmal kurz davor, ohnmächtig zu werden. Er sagte das gut gelernte Gedicht auf, aber eigentlich wusste er nicht, wie ihm geschah.

Starre Blicke rissen ihn aus der totalen Apathie. Er stand zusammen mit zwanzig Altersgenossen, denen die Freude sichtlich anzumerken war, im Studio, das die erfolglos gebliebenen Anwärter währenddessen auf der anderen Seite durch die schweren roten Vorhänge, welche unerwünschte Geräusche in sich aufnahmen, verließen. Der Mann mit dem breiten und weichen Gesicht, der die Probe vorher geleitet hatte, hielt ein Namensverzeichnis in der Hand und schaute auch ihn an, als er freundlich sagte: »Ich lese also erneut vor, wer aufgenommen wurde, damit die Übrigen nach Hause gehen und sich nächstes Jahr wieder anmelden können, um die Probe dann ganz sicher zu bestehen!« Mit jedem Namen erhellte sich eins der Gesichter. Sein Name fiel jedoch nicht. Der nette Herr fragte schon sehr mitleidig: »Ist hier jemand übrig geblieben, den ich nicht vorgelesen habe?« Unser Junge muss ganz rote Ohren gehabt haben, mit Sicherheit hatte er aber einen Knoten in der Zunge. Er gab keinen Mucks von sich. Und dann gab ihm der Regisseur Miloslav Disman, anstelle ihn schmachvoll hinauszuweisen, das Anmeldeformular, wie er es auch allen übrigen Glückspilzen gegeben hatte. Nach einem Jahr, wenn der Versager schon einer der jungen Leiter im Ensemble sein wird, gesteht er ihm, dass er einfach nicht den Mut hat aufbringen können, ihn hinauszuführen. »Ich hatte Angst«, sagt er, »du könntest mir draußen sterben!«

Seine weiteren Schulzeugnisse dokumentierten die tektonische Erschütterung seiner ganzen Persönlichkeit; unlängst noch Vorzugsschüler, kam er jetzt plötzlich gerade so mit einem blauen Auge davon, da seine neu entdeckte Leidenschaft das Maximum an Energie verbrannte. Es war sonderbar, dass die Eltern sie tolerierten, bis heute ist er sich nicht sicher, ob sie nicht auf der Priorität der Schule hätten beharren müssen. Als einzige Erklärung bleibt das Damoklesschwert, das nach der Ära Heydrich bis zum letzten Kriegstag über der Familie schwebte; vermutlich lag ihnen am Herzen, dass er sein Leben noch etwas genießen konnte.

Nach den furchtbaren Verlusten an allen Fronten und im Hinterland schien eine Steigerung der Gräuel unmöglich, aber der Krieg tobte trotz allem immer mehr, und das Leben erinnerte an eine trockene Zitrone, die man vergeblich auszupressen versuchte. Der Reichspropagandaminister Goebbels, der bald seinen ruchlosen Fanatismus unter Beweis stellen wird, wenn er die eigenen sechs Kinder durch seine Frau umbringen lässt, damit sie nicht ohne Hitler in der Welt leben müssten, erklärte den totalen Krieg und löschte damit auch die Rampenlichter der Theater im ganzen besetzten Europa. Die Schauspieler wurden in die Fabriken geschickt. Alle Plakatflächen und Hauswände vereinnahmte ein Poster, auf dem sich aus dem Ärmel einer sowjetischen Uniform eine riesige blutüberströmte Hand streckte, um nach dem Prager Hradschin zu greifen. Zachvátí-li tě, zahyneš! Warnte der Slogan, Erfasst sie dich, gehst du zugrunde! Obwohl deswegen auch schon geschossen worden war, erschien auf ihnen ein mit einer Streichbürste geschmierter Kommentar Wir fürchten uns nicht, wir wohnen dort nicht!

Schon seit dem Ende des Sommers im Jahre 1944 schwänzte der Junge die Schule mehr, als dass er sie besuchte. Die sich verdichtenden Fliegerwarnungen, bei denen die Klassen bis zum Sirenenende in einen Schutzbunker oder auf die Straße geschickt wurden, machten die Anwesenheitskontrolle zunehmend unübersichtlicher. Solange es warm war, steuerte er oft direkt die Hungermauer auf dem Petřín-Hügel an, wo stundenlang keine Menschenseele war; auf seiner Tasche sitzend schrieb, las oder träumte er, oder er winkte den Kondensstreifen zu, dem Schweif von den Feuerkometen der Alliierten, die aus dem befreiten Süden Europas heranflogen, um die nördlichen Reichsstädte niederzubrennen. In regelmäßigen Intervallen bewachte er mit drei Mitschülern das Gebäude des Gymnasiums vor einem möglichen nächtlichen Fliegerangriff. Ausgestattet mit dünn belegten Broten und Muckefuck in der Thermoskanne nahmen sie bei Einbruch der Nacht in der Turnhalle im Erdgeschoss ihren Wachposten ein, der für ein paar Stunden zum Eldorado ihrer Pubertät wurde, da muffige Matten und schmutzige Decken nicht gerade zum Schlafen einluden. Der Jüngling lernte hier Wein zu trinken, Karten zu klopfen und – der engen Nähe von männlichen Körpern gegenüber Abneigung zu empfinden. Ausgerechnet an eine solche Wache knüpfte der tragische Irrtum eines britischen Fliegergeschwaders an, das Prag mit Dresden verwechselte. Die Wunde, die sich am 14. Februar 1945 in die Stadt grub, war schmal, aber sie kostete einige hundert Menschen das Leben, denn in die Bunker war schon lange niemand mehr gegangen. Weil der Totaleinsatz längst alle Septaner der Gymnasien verschlungen hatte, schickte man nun täglich die Sextaner zur Trümmerbeseitigung. Der Klasse des Jungen fiel die Aufgabe zu, die Opfer in Särge umzulegen, die provisorisch in der Synagoge des Neuen jüdischen Friedhofs aufbewahrt wurden. Eine Notiz zu diesem elementaren Erlebnis ist überraschend kurz gefasst.

Zum ersten Mal habe ich eine nackte Frau gesehen. Ihre Brüste. Sie ähnelten nicht dem, was ich mir je vorgestellt hatte. Sie waren widerlich aufgeblasen und abscheulich gelbgrün. Weiter erinnere ich mich nur an die erste Zigarette in meinem Leben und an das Grab, auf dem ich saß und mich erbrach, während um mich herum meine Mitschüler vor Übelkeit heftig würgen mussten.

Die Mutter bewahrte ihn auch vor einer letzten Gefahr: Als er von den Behörden in die Nähe von Ostrava zum Bau eines gewaltigen Panzergrabens berufen wurde, der den letzten Angriff der Roten Armee abwehren sollte, lieferte sie ihn morgens im Allgemeinen Krankenhaus als Notfall ein, bei dem die Mandeln herausgenommen werden mussten; die alten Schnitte nach den eitrigen Anginaerkrankungen ließen keinen Verdacht aufkommen. Nicht lange nach der Operation erschien auf der Station ein Protektoratspolizist, und der getäuschte Arzt wollte die Lügnerin abführen lassen, unter dem Eindruck der frischen Nachrichten von der Front überlegte er es sich jedoch noch rechtzeitig und schimpfte sie dann nur noch heftig aus. Im Übrigen begann die russische Offensive, bevor der Patient aus dem Krankenhaus entlassen wurde, und die studentischen Kommandos flohen auseinander, um bei Verwandten und Bekannten Unterschlupf zu finden.

Aber bei all dem blieb dem Jungen ein Rettungsring in einem Meer von Blut und Ekel: Dismans Jugendrundfunk – das spätere Theaterensemble – war eine Insel der Glückseligen im totalen Krieg. Es blieb nicht bei den zweimal drei Stunden in der Woche, in denen die Auserwählten zwischen den Purpurvorhängen des Rundfunkstudios Nr. 6 zusammenkamen und danach in aller Keuschheit die Mädchen des Ensembles durch die verdunkelte Stadt ohne Straßenbahnen zu ihrem entlegenen Zuhause begleiteten – sie flüchteten sich praktisch ununterbrochen aus der trostlosen Realität in die künstliche Welt der Freundschaft und der Poesie. Die Folge davon war, dass alle Sinne und Nerven vollkommen blank lagen, was im Ergebnis bedeutete, dass sich nahezu nichts auf der Handlungsebene, sondern alles ausschließlich auf der Ebene der Blicke, der Andeutungen und hauptsächlich der Wörter, Wörter und nochmals Wörter abspielte.

Nach zwei Generationen wird kaum mehr einer glauben, dass an die hundert junge Männer und Mädchen, denen das Schicksal erspart geblieben war, wie ihre Altersgenossen in den unmittelbar vom Kampf betroffenen Ländern dezimiert zu werden, und die weniger durch den Krieg als durch die Wirren ihrer Pubertät durchgerüttelt worden waren, sich so verhielten, als lebten sie wie Brüder und Schwestern in einem wunderbaren Kloster. Miloslav Disman riss hundert Schicksale, die theoretisch verloren waren, aus ihrer Hoffnungslosigkeit und kultivierte sie inmitten der Barbarei; er selbst aber war ein krankhaft feinfühliger Mann, der durch die unglückliche Liebe zu seiner Frau hin- und hergerissen war. Um sich selbst und die ihm Anvertrauten zu schützen, schuf er eine dichte Atmosphäre beinahe schwülstiger Gefühle, die ihren Ausdruck vor allem in Wörtern fanden.

Nicht anders als ›schwülstig‹ kann der Junge von damals seine eigene Rhetorik bezeichnen, die er auch in die ersten Nachkriegsjahre mitnahm. Das Kribbeln geht in einen Schauder über, wenn er seine Briefe an die Studentin und spätere Schauspielerin Nataša Tanská wieder liest, die sie vor den bourgeoisen Manieren wie zum Beispiel Lippenstift oder Parfüm warnen und sie zur Ordensregel einer Frau anhalten, die für eine gerechtere Welt kämpft. Auch dieses Verlangen wurde nach Disman’scher Art wörtlich demonstriert, und zudem in einer kraftvollen Huldigung an alles, was das Hoffnungssiegel des Kommunismus trug. Sein Geist predigte streng das von der Revolution geweihte Wasser, aber sein Körper wollte den Wein des Lebens trinken.

Später wird er sich mehrmals überzeugen, dass die Wurzel ideologischer Gunst oder Missgunst nicht immer das primäre Bedürfnis ist, den Zustand der Welt zu verbessern, sondern manchmal nur der krampfhafte Versuch, die eigene Hoffnungslosigkeit zu überspielen. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, das so viele Leute davon abhält, jemandes Gunst direkt zu erwerben, weil sie vor dem Objekt ihrer Begierde von Angesicht zu Angesicht den Mut verlieren, schwindet auf wundersame Weise, wenn es mit den Glaubensgenossen gemeinsam artikuliert wird. In einer Menschenmenge, sei es einer jubelnden oder einer tobenden, bringt auch ein schüchterner Mensch den Mut auf zu schreien, und auch ein sittsamer Jüngling kann zum Vergewaltiger werden, zumindest in seiner Fantasie, während andere an seiner Statt Gewalt ausüben. Es ist bemerkenswert, wie viele männliche und weibliche Singles es unter den Revolutionären, Demonstranten oder Radikalen aller Art gibt, denen der Protest, vor allem der militante, den fehlenden Sex oder die Liebe oder beides ersetzt.

Die Scham verließ den Jungen, wenn er als Solist mit dem Ensemble im Rücken vor der Zuschauermenge stand, aber sie raubte ihm weiterhin immer dann den Atem, wenn er mit einem angebeteten Wesen allein war. Mit seinem besten Freund Jarmil Sekera, der auch lange kein Glück bei den Mädchen gehabt hatte, traf er kurz nach dem Krieg die Absprache, gemeinsam in die neuen Internationalen Brigaden einzutreten, die, wie sie beide – und nicht nur sie beide allein – damals glaubten, bald auch den spanischen Diktator Franco stürzen würden. Entgegen dem aufrichtigen Bemühen, einen Weg zu ihnen zu finden, ging ihre kämpferische Absicht nicht auf, weil keine weiteren Brigaden aufgestellt wurden, und vor allem: Beide erwarben sich im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht die Zuneigung ihrer künftigen Frauen. Ihre Wege trennten sich allmählich. Unser Junge wird später beim Sturz des konservativen Präsidenten Antonín Novotný mitwirken, und sein Genosse als künftiger persönlicher Sekretär des Normalisators-Präsidenten Gustav Husák beim Sturz Alexander Dubčeks – und danach beim Mundtotmachen des einst besten Freundes.

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