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(4) Kontextanalyse
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Gericht und Gerichtshof haben wiederholt betont, dass bei der wettbewerblichen Beurteilung eines konkreten unternehmerischen Verhaltens der wirtschaftliche und rechtliche Gesamtzusammenhang (Kontext) zu berücksichtigen ist.[94] So ist beispielsweise bei der Prüfung, ob auf eine bestimmte Vereinbarung zwischen Unternehmen das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV anwendbar ist,
„der konkrete Rahmen zu berücksichtigen, in dem sie ihre Wirkung entfaltet, insbesondere der wirtschaftliche und rechtliche Kontext, in dem die betroffenen Unternehmen tätig sind, die Art der Waren und/oder Dienstleistungen, auf die sich die Vereinbarung bezieht, sowie die tatsächlichen Bedingungen der Funktion und der Struktur des relevanten Marktes…“[95]
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Gericht und Gerichtshof haben allerdings stets deutlich gemacht, dass damit nicht das Bestehen einer „rule of reason“ im Rahmen des Kartellverbots der Union anerkannt werde (vgl. oben Rn. 369). Insbesondere gehe es nicht um eine Abwägung der wettbewerbsfördernden und der wettbewerbswidrigen Wirkungen einer Vereinbarung zum Zweck der Entscheidung, ob das Verbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV anwendbar ist. Es handele sich vielmehr um eine in der Rechtsprechung entwickelte Herangehensweise, die nicht völlig abstrakt und unterschiedslos davon ausgeht, dass jede die Handlungsfreiheit eines oder mehrerer Beteiligter beschränkende Vereinbarung zwangsläufig von dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst wird.[96]
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Damit trägt die Rechtsprechung der weiter oben (Rn. 341) angesprochenen Ambivalenz unternehmerischen Verhaltens Rechnung, die daraus resultiert, dass Unternehmen stets die Überwindung der Rationalitätsbeschränkungen im Auge haben, denen sie unterliegen. Diesem Zweck dienen aus unternehmerischer Perspektive Verhaltensweisen auch dann und gerade dann, wenn sie den Wettbewerb beschränken. Die Koordinierung des Marktverhaltens von Unternehmen ist daher gewöhnlich im Kontext der gesamten Umstände interpretationsbedürftig. Es kann sich im Einzelfall um legitime und durchaus produktive Strategien der Bewältigung von Transaktionskostenproblemen, Informationsdefiziten oder Erwartungsunsicherheiten handeln; es kann aber auch darum gehen, schlicht die „praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten“ zu lassen.[97]
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Das Letztere ist allerdings bei den „Kernbeschränkungen“ in Gestalt von Preis-, Quoten- oder Marktaufteilungskartellen regelmäßig der Fall, so dass insoweit eine Kontextanalyse grundsätzlich entbehrlich ist und insoweit „per se“-Regeln Anwendung finden (vgl. dazu oben Rn. 368);[98] aber selbst hier kann es im Ausnahmefall einmal Konstellationen geben, in denen sich die Koordination des Marktverhaltens im konkreten Kontext als wettbewerblich unschädlich erweist.[99] Insbesondere bei der wettbewerblichen Beurteilung vertikaler Vereinbarungen ist daher stets eine sorgfältige objektive Analyse ihrer wirtschaftlichen Funktion daraufhin erforderlich, ob es für die zu beurteilende Verhaltensweise eine plausible Erklärung gibt, die einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln ausschließt. Sie dienen nämlich häufig der Erschließung von Märkten, dem Aufbau von Vertriebsstrukturen oder der Reduktion von Koordinationskosten und sind insoweit Ausdruck des Leistungswettbewerbs. Die Feststellung einer Wettbewerbsbeschränkung setzt daher voraus, dass das zu beurteilende Verhalten sich nicht mehr durch solche Erwägungen plausibel machen lässt.
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Dasselbe gilt in besonderem Maße auch für die Beurteilung des einseitigen Verhaltens marktbeherrschender Unternehmen. Auch deren Wettbewerbsfreiheit ist grundsätzlich schützenswert. So hat der EuGH[100] stets betont, dass der Umstand
„dass ein Unternehmen eine beherrschende Stellung innehat, diesem nicht das Recht [nimmt], seine eigenen geschäftlichen Interessen zu wahren, wenn sie bedroht sind, und es darf auch in angemessenem Umfang so vorgehen, wie es dies zum Schutz seiner Interessen für richtig hält.“
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Dies findet jedoch seine Grenze am Verbot von Verhaltensweisen, die auf die Verstärkung der beherrschenden Stellung und ihren Missbrauch abzielen.[101] Dabei erfasst der Begriff der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung nach der Rechtsprechung[102]
„solche Verhaltensweisen eines Unternehmens in beherrschender Stellung […], die die Struktur eines Marktes beeinflussen können, auf dem der Wettbewerb gerade wegen der Präsenz des fraglichen Unternehmens bereits geschwächt ist, und die zur Folge haben, dass die Aufrechterhaltung des auf dem Markt noch bestehenden Wettbewerbs oder dessen Entwicklung durch die Verwendung von Mitteln behindert wird, die sich von den Mitteln des normalen Produkt- oder Dienstleistungswettbewerbs auf der Grundlage der Leistung der Wirtschaftbeteiligten unterscheiden.“
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Ob im Einzelfall solche wettbewerbswidrigen Folgen zu erwarten sind, wird sich nicht allein durch die formale Einordnung des fraglichen Marktverhaltens in eine bestimmte Verhaltenskategorie, sondern grundsätzlich nur aufgrund einer sorgfältigen Analyse des wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhangs (Kontextanalyse) beurteilen lassen. Allerdings gibt es einseitige Verhaltensweisen marktbeherrschender Unternehmen, deren Wettbewerbswidrigkeit so offensichtlich ist, dass für die Feststellung ihrer Missbräuchlichkeit eine Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls entbehrlich ist (sog. naked restrictions).[103]
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Gleiches gilt schließlich auch für die Beurteilung der Wettbewerbswirkungen eines Unternehmenszusammenschlusses. Bei der Prüfung, ob ein Zusammenschluss im Sinne von Art. 2 Abs. 2 und 3 FKVO den wirksamen Wettbewerb im Binnenmarkt oder in einem wesentlichen Teil desselben – insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung – erheblich behindern würde, berücksichtigt die Kommission gem. Art. 2 Abs. 1 FKVO:
„a) die Notwendigkeit, im Gemeinsamen Markt wirksamen Wettbewerb aufrechtzuerhalten und zu entwickeln, insbesondere im Hinblick auf die Struktur aller betroffenen Märkte und den tatsächlichen oder potenziellen Wettbewerb durch innerhalb oder außerhalb der Gemeinschaft ansässige Unternehmen;
b) die Marktstellung sowie die wirtschaftliche Macht und die Finanzkraft der beteiligten Unternehmen, die Wahlmöglichkeiten der Lieferanten und Abnehmer, ihren Zugang zu den Beschaffungs- und Absatzmärkten, rechtliche oder tatsächliche Marktzutrittsschranken, die Entwicklung des Angebots und der Nachfrage bei den jeweiligen Erzeugnissen und Dienstleistungen, die Interessen der Zwischen- und Endverbraucher sowie die Entwicklung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, sofern diese dem Verbraucher dient und den Wettbewerb nicht behindert.“
Damit wird im Hinblick auf die Zusammenschlusskontrolle eine sorgfältige Kontextanalyse geradezu zwingend vorgeschrieben.